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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1986 erschienen.

Systematik


STABILITÄT AUF DEM PRÜFSTAND

"Manila liegt in Chile. " Dieser hoffnungsvolle Slogan tauchte auf den Mauern und Häusern Santiagos auf, nachdem die USA ihre langjährigen Statthalter auf den Philippinen und auf Haiti, Marcos und Duvalier, fallengelassen hatten. Ob er in Erfüllung geht, steht noch sehr dahin. Wahr ist er auf alle Fälle in anderer Hinsicht.

Wenn Chile derzeit mal wieder unter der Fragestellung ins Gerede kommt: 'Wie lange kann sich Pinochet noch halten?', dann geht es, wie neulich in Manila, tatsächlich um nichts als die Frage, ob ein Personalwechsel der Stabilität des Landes als Kreatur des Dollar-Imperialismus gut bekäme oder abträglich wäre. Weltweit überprüfen die USA, ob ihre Verbündeten in der "3. Welt", an deren Herrschaftspraktiken sie jahrzehntelang recht wenig auszusetzen hatten, noch ausreichend für Ruhe und Ordnung sorgen oder ob sie ihre "Sicherheitsinteressen" besser durch eine neue Regierungsmannschaft garantiert sehen. Und ob diese das Wohlwollen oder auch nur die Duldung der USA erlangt, hängt sehr davon ab, welchen Eindruck die potentiellen im Vergleich zu den existierenden Machthabern von ihren Regierungskünsten vermitteln.

Ein Staatsmann und sein Werk

"I don't see why we need to stand by and watch a country go communist due to the irresponsibility of its own people." (Henry Kissinger vor dem Putsch von 1973)

Als der General Augusto Pinochet unter der Volksfrontregierung von Salvador Allende gerade einen Monat als Verteidipungsminister und oberster Befehlshaber der Armee im Amt war (er galt damals als "Konstitutionalist"), erlebte Chile einen der blutigsten Putsche der lateinamerikanischen Geschichte. Unter dem Beifall der USA (und von ihnen gefördert) wurde ein sozialistisches "Experiment" beendet, das die Wirtschaft des Landes so entwickeln wollte, daß auch für die Masse der Chilenen etwas abfiel, und das dabei auch die Organisationen der Linken, Gewerkschaften und KP, an der Führung der Staatsgeschäfte beteiligte. Für seine Leistung, in Chile die Freiheit und eine ordentliche Gewalt gegen ihre Feinde im Inneren wiederhergestellt zu haben, war Pinochet lange Zeit die Anerkennung sicher. Die chilenische Bourgeoisie inklusive ihrer Parteien war dem neuen Caudillo dankbar, und das westliche Ausland unterstützte die wirtschaftliche und gesellschaftliche 'Wiedergesundung' durch reichlich Kredite.

Die so in Gang gesetzte Öffnung des Landes für den Weltmarkt macht inzwischen nicht nur der arbeitenden Klasse Chiles Probleme. Während der chilenische Staat seiner Auslandsverschuldung weiterhin getreu den IWF-Abmachungen durch regelmäßige Zinszahlungen nachkommt - und dabei ein so perfektes Schuldenmanagement entwickelt hat, daß auch der letzte Granny-Smith-Apfel zwecks Devisenerwirtschaftung im Ausland verschwindet -, stöhnen immer mehr einheimische Kapitalisten und Kleinunternehmer unter ihrer Schuldenlast. So muß Pinochet beispielsweise die Lastwagenbesitzer, seine Verbündeten von 1973 heute zu seinen Gegnern zählen.

"Das Problem unserer Überschuldung, die Gefahr daß wir unsere LKWs an die Banken verlieren die uns zu überhöhten Zinsen Geld geliehen haben läßt sich unter der Diktatur nicht lösen. Nicht von einer Militärregierung, zu deren wichtigsten Unterstützern die Banken zählen."

Für Unzufriedenheit im Lande ist also gesorgt, und sie wächst, solange das Regime seine Wirtschaftspolitik und ihre Auswirkungen nicht ändert und solange Pinochet dafür einsteht und im Militär genug Unterstützung findet, daß das "chilenische Modell" von Freiheit und Gewalt ohne Neuerungen weitergeht. Die einzige Änderung, die Pinochet vorgesehen hat, besteht in der Regelung seiner Nachfolge: Die Verfassung der Militärregierung von 1980 legt fest, daß die Oberkommandierenden der Streitkräfte einstinnmig einen neuen Präsidenten bestimmen, der anschließend per Plebiszit bestätigt wird. Der Kandidat steht also noch nicht fest, und selbst wenn er nach dem Willen von Pinochet wieder Pinochet heißen sollte, muß dieser sich der Loyalität der Streitkräfte versichern.

Hieran knüpfen sich die Hoffnungen der gemäßigten Opposition, und jede Äußerung eines Generals, es sei "noch alles offen", interpretieren sie sofort als Indiz für die herbeigewünschte Vertrauenskrise. Je mehr sie auf Differenzen im Militär setzen und je mehr sie das Regime personalisieren - "Y va a caer" (Und er wird fallen) lautet die Hauptparole -, desto mehr sind die Oppositionsparteien bereit, ihre Forderung von 1984 - "sofortiger Übergang zur Demokratie" - zu vergessen. Ein ziviler Kandidat dazu oder ein anderer General als Pinochet, das wäre für sie bereits ein Erfolg.

Parteienstreit auf chilenisch

"Rückkehr zur Demokratie" heißt konsequent für die bürgerlichen Parteien keineswegs Rückkehr zu dem Staat von vor 1973: Was Pinochet auf dem Feld von Ruhe und Ordnung geleistet hat (auch die Löhne sind angenehm niedrig in Chile), ist den Christlichen Demokraten und ihren Verbündeten selbstverständlicher Ausgangspunkt. "Pinochetismo ohne Pinochet" lautet ihre nicht nur insgeheime Vorstellung, d.h. ein starkes Chile ohne den Einfluß der linken Gewerkschaften und Parteien. An ihrem Anti-Kommunismus wollen sie keinen Zweifel aufkommen lassen; ein Vorwurf an Pinochet heißt, er maße sich ungerechterweise das "Monopol auf Anti-Kommunismus" an. Pinochet traf sie 1984 nach den ersten größeren Protestbewegungen an ihrem empfindlichen Punkt, als er neben der Erklärung des Belagerungszustandes den verbotenen oder geduldeten Parteien die Frage nach ihrer Zusammenarbeit mit der KP aufmachte. Deren Bündnis MDP (Demokratische Volksbewegung, bestehend aus KP, Fraktionen der Sozialisten und der MIR) sah sich letztes Jahr mit einer erweiterten Konkurrenz konfrontiert: Unter der Schirmherrschaft des Bischofs von Santiago, Kardinal Fresno, formierten die Christlichen Demokraten eine "Nationale Übereinkunft" (Acuerdo Nacional) unter Einschluß von rechten Pinochet-Gegnern, deren Vertreter fordern, "daß der Präsident den Krieg einstellt, den er ohne Unterschied allen Parteien erklärt hat". Gleichzeitig nutzen die von ihnen beherrschten Gewerkschaftsorganisationen des CNT (Comando Nacional de Trabajadores) die Militärdiktatur dafür, ihren Einfluß unter den Arbeitern auf Kosten der linken, verbotenen Gewerkschaften auszudehnen.

Die Linke hielt man aus dem Pakt gleich durch zwei Bedingungen draußen: Als wären sie in der BRD zu Hause, haben die Christdemokraten Chiles die Gewaltfrage entdeckt, um an ihr echte von falschen Patrioten zu trennen - ausdrückliche Distanzierung von der "Anwendung von Gewalt" war gefordert. Unerwünscht waren ferner Parteien, die so etwas wie Enteignungen in ihrem Programm haben.

Als dann im April 1986 - ebenfalls auf Betreiben der DC - eine "Bürgerversammlung" (Asamblea Nacional de la Civilidad) gebildet wurde, ein Zusammenschluß von Gewerkschaften, Berufsverbänden, Frauenvereinen etc., hatten der MDP nahestehende Vereinigungen für ihre Aufnahme einen Preis zu zahlen: Sie mußten sich auf einen gemäßigteren Kurs festlegen und die Forderung der bürgerlichen Parteien nach einer Übergangsregierung und nach Kooperation mit den Militärs akzeptieren. Offenbar ist die MDP zu der ihr abverlangten Selbstkritik bereit. Ein MDP-Sprecher:

"Wir sehen die Bürgerversammlung als Beginn einer aktiven Allianz von Mittelschichten und den unteren sozialen Schichten. Sie verbindet Forderungen nach materiellen Verbesserungen sowie nach Demokratie mit einem Plan gesellichaftlicher Mobiliiierung.... Wir müssen die Fehler der Unidad Popular vermeiden. Es war aus unserer heutigen Sicht teilweise sogar reaktionär, wie die Regierung Allende mit den Mittelschichten umgegangen ist. Man arbeitete mit ihnen, indem man ihnen den Kauf eines Autos erleichtem wollte. Fundamentalere, durchaus fortschrittliche Interessen der Mittelklasse wie etwa gute Erziehung wurden nicht stark genug einbezogen."

Um ihre demokratische Glaubwürdigkeit zu demonstrieren und ihr Gewicht als Verhandlungspartner innerhalb der Opposition zu stärken, hat die MDP einen weiteren "Fehler" eingestanden: Zum ersten Male verurteilte sie eine Aktion des bewaffneten Kampfes der der KP nahestehenden "Patriotischen Front Manuel Rodriguez". Während die MDP bisher "alle Formen des Kampfes" gegen die Militärregierung respektierte bzw. propagierte, schwenkt sie mit solchen Äußerungen auf die Taktik der Anbiederei an 'fortschrittliche' Militärs ein.

Währenddessen ist die demokratische Opposition nach Kräften bemüht, auch die Hochburgen der Linken in den poblaciones, den Elendsvierteln von Santiago, für sich zu instrumentalisieren. Wenn dort bei den von der "Bürgerversammlung" ausgerufenen "nationalen Streiktagen" Barrikaden mit Autoreifen oder auch einzelne Autobusse angezündet werden, ist es den demokratischen Oppositionsstrategen nur recht - zumindest solange in den besseren Vierteln auf Töpfen und Pfannen herumgetrommelt wird, Professoren, Lehrer und Händler ihre Dienste verweigern und die Streiks - so sie denn stattfinden in den Fabriken - ihren "politischen Charakter" behalten, also eine reine Machtdemonstration und keine Lahmlegung der Produktion darstellen, wie der CNT betont. Der "Streikbeauftragte" der CNT: "Dies ist kein Streik im klassischen Sinne, die Arbeiter streiken nicht gegen das Unternehmen, und wenn der Laden geschlossen wurde, dann in Übereinkunft zwischen den Besitzern und den Arbeitern. "Unruhe und "bürgerlichen Ungehorsam" inszenieren und die Lage im Griff behalten, also erfolgreich mit der KP konkurrieren bzw. ihr den Rang ablaufen: damit will die demokratische Opposition den Beweis antreten, daß sie als Regierungsalternative in Frage kommt.

Ein Juwel der freien Welt

Das bestätigt Pinochet in seiner Meinung, daß sämtliche Politiker außer ihm und seiner Mannschaft "Vaterlandsverräter und Kommunisten" sind. Den weiteren Chefs der Waffengattungen und Juntamitgliedern wird zwar seit Jahren eine "wachsende Distanz" zum Präsidenten nachgesagt, doch sind bis jetzt nicht mehr als interessierte Spekulationen über ihre Bereitschaft zu einem politischen Wechsel bekanntgeworden. Als Generäle setzen sie die Maßstäbe für oppositionelles Wohlverhalten und nicht umgekehrt die zivilen Politiker mit ihrem umständlichen Weg, über demokratischen Streit zum nationalen Konsens zu kommen, die Maßstäbe für die Demokratisierung des Militärs. Die Politiker der Opposition setzen ihre Glaubwürdigkeit - sofern sie sie überhaupt besitzen - mit jeder noch so kalkulierten "Unruhestiftung" aufs Spiel: Sie machen sich verdächtig und zögern den "Rückzug in die Kasernen" erst einmal hinaus. Sollte der jemals stattfinden, dann nicht ohne den Anspruch, von dort aus aufs Land aufzupassen. Vor allem wissen sie die Amerikaner hinter sich:

"Chile ist für die Vereinigten Staaten, insbesondere für die amerikanischen Militärs, von 'höchster Bedeutung'. Das sagte General John Galvin, der Oberbefehlshaber des Kommandos Süd der amerikanischen Streitkräfte, in Santiago. Galvin konferierte eine halbe Stunde lang mit dem chilenischen Staatschef Pinochet. ... Der amerikanische General erläuterte auf einer Pressekonferenz, sein Aufenthalt diene dazu, die chilenischen Streitkräfte 'besser kennenzulernen'. Es sei derzeit von besonderer Bedeutung, daß Chile und die Vereinigten Staaten 'gute Beziehungen' unterhalten." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.86)

Das ist immerhin eine Klarstellung zu Sinn und Zweck der demokratischen Manöver, mit denen die USA der chilenischen Regierung eine gewisse Unzufriedenheit kundgetan haben: In der UNO waren die USA, das erste Mal seit 12 Jahren, an einer Verurteilung Chiles wegen seiner "Menschenrechtsverletzungen" beteiligt, ihr Botschafter in Santiago nahm an einer Trauerfeier für einen von den Carabineros verbrannten 19jährigen Exil-Chilenen teil, und die Zustimmung zu weiteren Krediten der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wird offiziell in Zweifel gezogen. Daß man nun in Washington keinerlei Ungewißheit mehr über die "demokratische Reife" des chilenischen Volkes und seiner Politiker hegen würde, ist in solchen Akten der Diplomatie mit Sicherheit nicht ausgesprochen. Eher schon eine ernste Warnung an alle Beteiligten und eine Mahnung an den General Pinochet, sich keine den guten Beziehungen abträgliche Mißerfolge bei der Befriedung des Landes zu leisten. Außerdem hat das System einer Einmann-Diktatur immer das Problem, daß die Nachfolgefrage sich nicht von allein erledigt. Aber vielleicht hat der General Galvin die chilenischen Streitkräfte schon so gut kennengelernt, daß bereits für Kontinuität gesorgt ist.