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Der GAU von Tschernobyl in sowjetischer Sicht
SOZIALISTISCHE MORAL BEZWINGT RADIOAKTIVITÄT
Ein sowjetischer Atomreaktor ist explodiert und die sowjetische Öffentlichkeit ist davon unterrichtet worden. Wie - davon ist einem vieles vertraut. Auch drüben gehorchen die Techniken der Bewältigung dem einen Muster: Eine Katastrophe verlangt nach obrigkeitlicher Betreuung, und zuständig dafür sind allemal die Zuständigen. Es ist etwas "passiert", aber die Instanzen haben bereits "alles unter Kontrolle", "Fachleute" haben die "erforderlichen Maßnahmen" ergriffen... Auch das kennt man von hier zur Genüge: die dosierte Information, die Meldung der Katastrophe mit der sofortigen Betonung ihrer - verhältnismäßigen - Ungefährlichkeit, die Anordnung von Maßnahmen zugleich mit der Beschwichtigung, damit die Ordnung gewahrt bleibt... Und schließlich auch in der Hinsicht dasselbe: Anlaß für eine gründliche Aufklärung über die Gründe der Atompolitik und die damit vorprogrammierten "Risiken" dieser Technologie waren die "Ereignisse" am Ort des Geschehens genausowenig wie in der so unglaublich aufgeklärten wie kritischen westlichen Öffentlichkeit.
Auf der anderen Seite läßt die sowjetische Berichterstattung vieles vermissen, verglichen mit westlichen Sitten. Beschwerden darüber hat es ja übergenug gegeben: Ausmaß, Aussehen und die plastischen Details der Katastrophe, um all diese wissenswerten Nachrichten hat TASS die Welt und die eigenen Russen betrogen. Auf Sensationsjournalismus müssen die Sowjetbürger verzichten, also auf die Sorte Unterhaltung, die die Gräßlichkeit des Unglücks in allen Einzelheiten ausmalt, am Befinden der Opfer nachempfindet, im Idealfall ein besonders exotisches Sterben mitfilmt und dafür den Fotopreis des Jahres kassiert. Die damit verbreitete Botschaft von einem grund- und zwecklosen Schicksal, das in der Beliebigkeit seines Zuschlagens eine einzige Aufforderung zur Bescheidenheit darstellt und zur Würdigung des Umstands, wie - vergleichsweise - gut der Betrachter es doch getroffen hat, die moralische Nutzanwendung paßt offensichtlich nicht ins Weltbild der sowjetischen Massenbetreuung. Im Gegensatz zum Auskosten von Verhängnissen und dgl. ist deren Standpunkt vielmehr: Das hätte nicht passieren dürfen.
Was die sowjetische Bewältigung des GAU auch nicht zu bieten hat, ist eine ausgiebige Debatte darüber, wer von den zuständigen Instanzen sich wo welche Fehler hat zuschulden kommen lassen, mit Standpunkten für alle Geschmäcker von zupackenden Notstandsreglements bis zum sensiblen Eingangs- und Ausgangsohr für die Ängste der Bevölkerung. Sogar die Fragen, wo Gorbatschow am Abend der Katastrophe war und ob er sich rechtzeitig und im angemessenen Tonfall dazu geäußert hat, mußte die westliche Presse mit sich allein erörtern. Und anstelle eines Streits zwischen Aufsichtsbehörde und Betreibergesellschaft mit der Abklärung der wechselseitigen Rechte und Pflichten haben die sowjetischen Stellen ein paar verantwortliche Versager in der Betriebsleitung, der örtlichen Parteiführung, demnächst vielleicht auch noch in der Regierungsmannschaft der Ukraine ausgemacht und kurz und schmerzlos ihrer Posten enthoben. Auch in der Abteilung dringt die sowjetische Bewältigung auf eine andere Sorte von Sicherheitsstiftung:
Ein solches Unglück stört die heile, geordnete Welt der sozialistischen Gesellschaft; daß es eigentlich nicht vorkommen dürfte, wird mit aller Entschiedenheit an den dafür haftbar gemachten Figuren exekutiert.
Katastrophengrund: Atom
Die sowjetische Politik hat an ihrem GAU etwas zu bewältigen. Mit dem Eingeständnis von Versäumnissen oder gar einem Fehler im System wird der interessierte Westen allerdings nicht bedient. Die sowjetische Führung sorgt sich um das Verhältnis zu ihrem Volk, das sie als erstes mit ihrer Deutung des Geschehens bekannt macht. Dabei wird der "Vorfall" genauso entschieden von seinen Gründen getrennt wie in den westlichen Betrachtungsweisen. Das militärische und ökonomische Diktat zur Benützung der Atomtechnologie steht genausowenig zur Debatte, um so mehr der Mensch im Mittelpunkt. Allerdings der Mensch in Konfrontation mit einem ganz unvorhersehbaren und ganz außergewöhnlichen Ereignis. Das ist das erste, was der Generalsekretär in seiner Fernsehansprache betont haben will:
"Wir sind zum ersten Mal real mit einer so gefährlichen Kraft konfrontiert worden wie der außer Kontrolle geratenen Kernenergie... Angesichts des außerordentlichen und gefährlichen Charakters dessen, was in Tschernobyl geschehen ist. ...
Wie ich schon sagte, haben wir es zum ersten Mal mit so einem außergewöhnlichen Vorfall zu tun..."
Der wissenschaftliche Einsatzleilter vor Ort, Vize-Präsident der Akademie der Wissenschaften, steuert eine sehr wissenschaftliche Übertreibung bei:
"Mit vielen dieser Probleme - das kann man ohne Übertreibung sagen - wurde die Menschheit überhaupt zum ersten Mal konfrontiert."
Ganz im Gegensatz zur abgebrühten westlichen Katastrophenmoral, die mit der Erkenntnis wuchert, daß das Leben nun mal so ist und der Mensch sich außer den verschiedensten "Risiken" und Schadens-Alternativen nichts davon zu erwarten hat, ganz im Gegensatz dazu versetzt das sowjetische Weltbild "den Menschen" in eine spannende Auseinandersetzung mit "der Natur", und zwar an der vordersten Front, so daß man darauf stolz sein kann. In diesem Fall mit "dem Atom".
Obwohl das in seiner Normalform an überhaupt gar nichts schuld ist und die Sowjetbürger in der Schule gründlich darüber unterrichtet werden, daß diese Dinger überall herumzischen, ohne daß deswegen irgend etwas in die Luft geht, zitiert der Generalsekretär "die gefährliche Kraft des außer Kontrolle geratenen Atoms".
"Das Atom", das in diesem Fall von naturwissenschaftlichem Obskurantismus in der Einzahl aufzutreten pflegt, hat zwei, weniger wissenschaftlich als moralisch unterschiedene Seiten: eine nützliche und eine gefährliche.
"Bekanntlich bringt das friedliche Atom der Menschheit nicht wenig Nutzen."
Wenn es sich aber auf die Hinterfüße stellt und "außer Kontrolle gerät", dann betätigt es seine "gefährlichen Kräfte". Dann schwelgen die Anhänger der wissenschaftlich-technischen Revolution in ihren Märchenmetaphern vom "Rachen des atomaren Vulkans" und dem "aufsässigen atomaren Riesen". Der unbedingte Wille zur Benützung dieser Naturkraft unter Einschluß der damit wissenschaftlich bekannten und technisch behandelten Wirkungen erzeugt eine komplette Philosophie des Atoms, das dem Menschen als sehr eigenwilliger Widerpart gegenübertritt. Das ist dialektischer Materialismus, Marke Ostblock.
Katastrophenbewältiger: Mensch
In dieser Sorte Ringen von Mensch und Natur hat allerdings Optimismus zu gelten. Der Mensch ist dem Atom über! Während westliche Politiker die Gelegenheit benutzt haben, ihr Publikum gründlich über die Unentbehrlichkeit der Strahlen und anderer "Risiken" aufzuklären, mit denen es nun einmal zu leben hat, versichert der sowjetische Generalsekretär seinem Volk, daß die "Gewährleistung einer sicheren Meisterung der gewältigen und ungeheuren Kräfte, die im Atomkern stecken", erledigt wird. Während hierzulande die Wahrscheinlichkeitsrechnung, das "Restrisiko" und die Güte des nationalen Geräts jeden Zweifel beschwichtigen sollen, garantiert drüben die Moral selbst im Augenblick der eingetretenen Katastrophe alles. Und der Organisator auch dieses moralischen Sieges ist der Sowjetstaat.
Der metaphysische Unsinn über das Atom stellt schließlich nichts anderes dar als das von der Partei ausgegebene Selbstbewußtsein, nach dem unter ihrer Anleitung die Menschen nurmehr mit der Entfaltung der Prouktivkräfte zu tun haben. Das ist die Elementarlüge dieser Staatsdoktrin, die die Differenz zwischen dem unablässigen Bemühen der Massen und den weniger großartigen Resultaten der Reichtumsproduktion nicht auf die Beschaffenheit ihrer ökonomischen Anweisungen zurückführen will, sondern statt dessen lieber die Produktivkräfte für sehr nützlich, aber auch sehr schwierig erklärt. Konkurrenzgedanken, Vergleiche mit anderen im Dienste eines Feindbilds sind dieser Perspektive fremd.
Materialismus buchstabiert die Partei als Fortschrittsglauben - eine schöne Alternative zur im Westen üblichen Sitte, die ruinösen Wirkungen des Kapitals auf die menschliche und sonstige Natur als Rache der mißbrauchten Schöpfung zu interpretieren und sich angesichts von lauter Glanzleistungen der Kapitalakkumulation den pessimistischen Glauben an eine Welt voller "Knappheiten" zu leisten.
Der von der Partei für verbindlich erklärte Idealismus, daß die von ihm benützten Mittel prinzipiell tauglich zu sein haben, beschert den Sowjetbürgern das Atom als "den Fortschritt", den sie zu "bemeistern" haben.
"Ich bin zutiefst überzeugt, daß das Atomkraftwerk der Gipfel der Errungenschaften der Energietechnik ist. Das ist das Fundament der nächsten Etappe in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation."(Akademiemitglied W. A. Legasow)
Eine üble Kosten-Nutzen-Philosophie, in der ausgerechnet die Mittel für ein sorgenfreies Leben, Natur und Technik, ohne Sorgen nicht zu haben sein sollen:
"Der stürmische Fortschritt von Wissenschaft und Technik bringt nicht nur Erfolge mit sich, sondern auch Opfer - materielle und menschliche. Kein Bereich der menschlichen Tätigkeit ist da eine Ausnahme. Fürjeden Fortschritt muß die Menschheit bezahlen. Man kann an den 15. Start der scheinbar vollkommen erprobten Raumfähre erinnern. Das betrifft auch die Forschungen auf dem Gebiet der Atomenergie. Ausnahmen kann es da nicht geben, wenn auch außergewöhnliche und kostspielige Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Menschen ergriffen werden. Den Kampf des Menschen um die Beherrschung aller Kräfte der Natur kann man nicht als abgeschlossen ansehen." (Prawda, "Was die Fakten aussagen", 5.5.)
Wenn die Russen in ihrem menschheitssüchtigen Beweisdrang schon so großzügig sind, ein Stück Kriegsprogramm der USA unter "Erforschung des Kosmos" abzubuchen, soll man auch bei ihnen nicht kleinlich nach der Natur eines "Fortschritts" fragen, der mit seinen Opfern für sich Reklame macht. Das Beileid der Sowjetregierung für die Opfer des SDI-Programms scheint ernst gemeint gewesen zu sein. Am widerlichen US-Beerdigungszeremoniell für die Challenger-Besatzung ist den Russen nichts aufgefallen. Vielmehr hielten sie es für passend, die einzementierte Reaktorruine zum Grabstein für die beiden ersten Opfer zu ernennen. Eben auch für eine gute Sache draufgegangen!
Katastrophenmoral: einmalig!
Daß Leichenfeiern und ein gutes Gewissen ganz ausgezeichnet zusammenpassen, ist ein Vorzug beider Systeme; was die Sowjetbürger aus der Katastrophe alles lernen können, wodurch sich die Katastrophe in ihr glattes Gegenteil, nämlich einen Anlaß für eine nationale Jubelfeier verwandelt, ist eine sowjetische Spezialität. "Das Atom" als eine großartige Herausforderung für die Menschheit verlangt mit seiner negativen Seite ziemlich viel Heldentum. Wenn es aus schierer Laune aus den Fugen gerät,
"was, wie die Physiker der theoretischen und der angewandten Physik behaupten, sogar im System der unwahrscheinlichsten Wahrscheinlichkeiten nicht geschehen sollte", (Prawda, 23.5.)
also gerade so wie ein äußerer Feind die friedliche Sowjetgesellschaft überfällt, sind lauter Kriegstugenden gefragt.
Lauter Parallelen zum "Großen Vaterländischen Krieg" "drängen sich" auf.
"AKW Tschernobyl: alltägliche Heldentat Kampfarbeit
'KRIEGER! Den Auftrag der Sowjetregierung werden wir erfüllen!' Unter solch einer Devise arbeiten an dem havarierten Atomkraftwerk die Truppen und Truppenteile...
Der Weg von Kiew bis Tschernobyl läuft durch Orte schwerster Kämpfe, die vor dreiundvierzig Jahren die sowjetischen Krieger führten, besonders die 38., 60. und 13. Armee, beim Stürmen des Dnjepr... Wir hielten eigens in Nowye Petrowzy an, das auf dem ehemaligen Brückenkopf Ljutesh liegt. Südwestlich von diesem besiedelten Punkt befanden sich auf einer namenlosen Höhe die Kommando- und Beobachtungsposten des kommandierenden Armeegenerals der 1. Ukrainischen Front, N. Watutin und des Armeebefehlshabers der 38., General K. Moskalenko, sie lagen 200 Meter vor den vordersten Verteidigungslinien des Gegners!
Still und ruhig war es über den sorgsam erhaltenen Verbunkerungen und Verbindungsgängen, über dem Denkmal für die Befreier Kiews. Nur das unbekümmerte Schlagen der Nachtigall stört diese Ruhe. Mit einem Wort, überhaupt gar nichts sagt einem, daß nördlicher, in wenigen Dutzend Kilometern sich eine Schlacht entwickelt hat. In dieser Schlacht ist kein Geschützdonner zu sehen, den jetzigen Gegner, dessen Name Strahlung ist, kann man nicht mit dem Fernrohr ausspähen, seine 'Sprache' nicht auffangen, um die feindlichen Absichten in Erfahrung zu bringen...
Das geflügelte Wort der Front 'Kommunisten, voran!' erklingt hier auf dem Schauplatz von Tschernobyl hell und deutlich. Jetzt, in Friedenszeiten, lösen die Truppen eigentlich eine Kampfaufgabe. Das ist der Angelpunkt der aktiven, dynamischen Arbeit der Partei, die sozusagen nach den Maßstäben der Kriegszeit geführt wird... daß die Befehle mit maximaler Geschwindigkeit die Soldaten und Offiziere erreichen..." (Prawda, 20.5.)
Was die Kriegstugenden lehren, ist Optimismus: Der Feind ist zu besiegen! Die Strahlung kann noch so unsichtbar sein, der Roten Armee und dem Sowjetvolk ist sie nicht gewachsen. Das Umgekehrte zu denken, ist nicht erlaubt.
"Die Attacke gegen den havarierten Reaktor begann vor kurzem auch 'frontal'. Die Strategie des Kampfes ist festgelegt, die nötigen Mittel sind vorhanden. Und das heißt, der Sieg wird unbedingt kommen."
Fazit: Mit Strahlen fertig zu werden ist 1. eine Frage des 'Gewußt wie', 2. eines straffen Kommandos, 3. und hauptsächlich aber eine des Willens!
"Ca. 40.000 Menschen wurden in feldmäßig eingerichteten Sanitätsbataillons untersucht, die Menschen erhielten qualifizierten Rat, erwarben, und das ist sehr wichtig, psychologische Stabilität."
Eine stabile Moral ist der beste Strahlenschutz. Und wenn das sowjetische Fernsehen die Feuerwehrleute vorzeigt, die demnächst fällig sind, was auch jeder weiß, weil die Wirkung der Strahlen bekannt ist, dreht es keinem den Magen um. Wenn die versichern, wie gut sie sich fühlen und wie gut sie versorgt werden, bricht Begeisterung über diese großartigen Heldencharaktere aus.
Das ist Sensationsjournalismus sowjetischer Machart, die Ausschlachtung der Katastrophe unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewältigung durch das hervorragende sowjetische Menschenmaterial. Von wegen also "Verschweigen", wie der westliche Haupt- und Generalvorwurf gelautet hat: Der GAU ist eine einzige Gelegenheit, die Erfordernisse der Staatsmoralität breitzutreten und Erfolgsmeldungen zu veröffentlichen, deren feierlicher Zynismus kaum zu überbieten ist.
Opfer gehören gefeiert!
Ein ordentliches Unglück fordert erstens lauter Tugenden heraus:
"Bei aller Schwere des Geschehens konnte der Schaden in entscheidendem Maße dank des Mutes und des Könnens unserer Menschen, dank ihrer Pflichttreue und dank der Dynamik der Handlungen aller... in Grenzen gehalten werden." (Gorbatschow)
"Ja, die Menschen waren bereit für ein solches Ereignis." (Prawda, 23.5.)
Daß Kriege, Katastrophen und sonstiges Unglück für das betroffene Menschenmaterial eine sachliche Erpressung darstellen, sich der eigenen Haut zu wehren und den Dreck wieder wegzuräumen, schmälert nicht das Lob der Tugend: Ausgerechnet dabei soll ganz viel Bereitschaft und Selbständigkeit am Werk sein.
"Bei der Lage, die sich da ergeben hatte, erlaubte sich niemand auch nur die geringste Schwäche, sondern im Gegenteil, man zeigte seine Geschlossenheit und Organisiertheit, sein Können und die Kühnheit, selbständige Entscheidungen zu treffen, manchmal auch riskante."
Und daß dabei ein paar krepiert sind, ist ein Fleck auf ihrer Ehre, der so nicht stehenbleiben darf:
"Er, der Ober-Operateur im Reaktor, der seine gewöhnliche Wache im vierten Block angetreten hatte, versuchte, die außer Kontrolle geratene Gewalt zu bändigen. Und deshalb" - eine Folgerung der moralischen Logik -"ist er nicht Opfer, sondern der Mensch, dessen Name Walerij Chodemtschuk ist."
Zweitens hat die Katastrophe, nach dem Prinzip: Je größer die Scheiße, desto mehr Tugend nötig, eine klassische Bewährungsprobe fürs Volk geboten. Unter der Überschrift "Die Zone der Wahrheit und des Gewissens" erörtert die Prawda die Ergebnisse dieser Volkstugendüberprüfung.
"Die Situation hat jeden ins Licht gestellt. Ihn kompromißlos ausgeleuchtet... Doch heute schon kann man sagen, daß auf je zehntausend Einwohner von Pripjat nicht mehr als einer entfiel, dessen Seele außer Kontrolle geriet... Insgesamt bestehen die Menschen die Prüfung, der sie ausgesetzt wurden, mit Ehre..."
Die Versager sind also eine verschwindende Minderheit und werden garantiert ihres Lebens nicht mehr froh.
"Ich war auf der ersten Parteiversammlung der Atomarbeiter nach der Havarie. Das Protokoll dieser Versammlung ist ein Dokument seltener Art. In ihr erklang kein einziges Mal das Wort 'Held'. Aus dem Mund der Menschen, deren Wache in den drei Reaktoren gerade abgelöst worden war, war das Wort 'Mann' sogar umfassender. Dafür strahlte das Wort 'Deserteur' eine mörderische Dosis Ekel und Verachtung aus... Sie sitzen offensichtlich irgendwo rum wie die Mäuse und warten ab, bis alles sich hier beruhigt."
Drittens ergibt also die Katastrophe die Erfolgsmeldung, daß das Volk in seiner 99,9-prozentigen Mehrzahl einwandfrei funktioniert. Keine Ausfälle, die Front steht - und das ehrt das System:
"Ja, die Sowjetmenschen demonstrierten in dieser Stunde erneut die eherne Geschlossenheit unserer Gesellschaft, ihr hohes humanes Wesen, in der Tat zeigten sie die Einheit von Partei und Volk, die Einheit von Volk und Armee, die Stärke der Kampf- und Arbeitertraditionen, die Freundschaft der Völker unseres Landes aus vielen Nationalitäten."
Und dieses Erlebnis ist so klasse, daß sich der Oberwissenschaftler kaum noch vom Strahlenherd Tschernobyl losreißen konnte:
"Mit Bedauern verließ ich Tschernobyl, obwohl mein Arbeitstag dort 18 Stunden dauerte. Es ist angenehm, sich in einem Kollektiv zu wissen, in dem jeder bereit ist, eine beliebige Aufgabe zu erfüllen, dem Kameraden zu Hilfe zu eilen, in dem alle, unabhängig von ihren Titeln und Rängen, durch ein gemeinsames Ziel, einen gemeinsamen Wunsch vereinigt sind, die für die Menschen nützliche Arbeit bestens und schnellstens auszuführen."
Jetzt muß der bedauernswerte Mensch wieder bis zum nächsten GAU warten.
Der Sozialismus will sich ausgerechnet als ein großangelegtes Erziehungsprogramm zur Uolkseinheit verstehen, zu einer Einheit, in der sich die Menschen durch viele Opfer und Tugenden heftig nützen. Bei der Feier dieser strapaziösen Einheit sind störende Hinweise auf die Differenz von oben und unten nicht erlaubt: Im Unterschied zum geheuchelten Verständnis für die Betroffenheitsmasche westlicher Staatsbürger, die ihre Ohnmacht und "berechtigte Angst" locker zugestanden kriegen, sind sowjetische Staatsbürger als Zupacker beim Einheitswerk gefragt und haben sich für "Hysterie" bestenfalls zu schämen:
"Zur Ehre der tausend Menschen, die im AKW arbeiten und gleich daneben wohnen, gab es keine Panik, obwohl auch einzelne Panikmacher auftauchten."
Und umgekehrt sind Zynismen, mit denen Führernaturen der Sorte Zimmermann und Strauß Punkte machen, nicht erlaubt: Daß der Bürger ohnehin nicht durchblickt, deswegen auch nichts zu wissen braucht, weil er dann sowieso nur Unordnung stiftet, sich dafür aber jeden Unsinn über die "Lage" zurechtlegen darf, der nicht schadet - darauf kämen Sowjetführer nie.
Die unbedingte Einheit von Führung und Volk muß nämlich geglaubt werden, damit die Moral das Volk auch nicht verläßt.
"Es gibt eine Kraft, die mächtiger ist als die Energie des Atoms. Sie nährt uns in allen schweren Prüfungen. Diese Kraft ist der sowjetische Charakter. Unsere monolithische Einigkeit hat der unerwarteten Not den Weg versperrt."
Die Partei ist eben der festen Auffassung, daß unter allen Produktivkräften die Moral die allerwichtigste ist. Sie denkt also gar nicht daran, die Katastrophe zu verschweigen, sondern veranstaltet mit ihr eine regelrechte Kampagne. Zur Verbreitung des gehörigen Optimismus, daß der Sozialismus noch alle seine Feinde an der zähen Natur des gelungenen sozialistischen Menschen zerschellen lassen wird, und zur Aufklärung über die nächsten Etappen, an denen sich die Volksmoral bewähren soll.
Die nützliche Seite des Atoms will schließlich nur um so mehr "bemeistert" werden und nicht nur die.
"In den Betrieben des Donbass, wie auch in vielen anderen Betrieben des Landes, läuft die Fertigung für Eilaufträge für das AKW Tschernobyl. So montiert das Kollektiv des Maschinenbau-Werks Nowokramatorsk im Stoßarbeits-Tempo ein spezielles Erdbewegungsaggregat. Die Metallurgen des Gebiets haben als Sonderlieferung bereits 1.700 t Walzgut, 10.000 t Großrohre, 1.200 t Magnesit-Pulver verladen..."
Die mit der Katastrophe nun einmal unausweichliche Entscheidung, den Schaden gering zu halten und in gemeinsamem Werk aufzuräumen, die praktische Not erfährt da eine staatliche Deutung, die es in sich hat. Es ist, als ob in der Katastrophe das Ideal der Harmonie zwischen Staat und Volk wahrgeworden ist und die Politik sich feiern wollte - angesichts einer Lage, die "Hader und Zwietracht" gar nicht zuläßt.
Die Ernte in den nicht-verstrahlten Gebieten braucht natürlich ebenso ihre Helden, überhaupt ist Tschernobyl ein einziger Auftakt für analoge Großtaten allüberall: Sonderschichten wegen und für Tschernobyl! Auch für die Kompensation der Schäden, die der GAU der nationalen Wirtschaft beschert, heißt das Rezept: ein einsatzfreudiges Sowjetvolk! Das ist die russische Variante des Spruchs "Tschernobyl ist überall!" Das ist eben auch ein Unterschied der Systeme: Während sich hier Ängste und Nöte des geschädigten Bürgers einwandfrei in Wahlstimmen, in die Ermächtigung der Führung umsetzen, die die Nöte weiterhin verordnet, veranstaltet die KPdSU mit ihrem GAU eine einzige Kampagne zur Feier und Stärkung der Volksmoral, die sich unter bewährter Anleitung an der Produktionsfront zu bewähren hat. Bloß - für oder gegen welches von beiden Systemen spricht das jetzt?
Katastrophe sortiert Freund und Feind
Systemvergleichen können sie übrigens auch, nämlich so:
"Es istjedoch zu bedauern, daß vor diesem weiten Hintergrund des Mitgefühls und des Verständnisses von bestimmten Kreisen Versuche unternommen werden, das Geschehene zu üblen politischen Zwecken auszunutzen. Propagandistisch wurden Gerüchte in Umlaufgebracht, Erfindungen die den elementaren sittlichen Normen zuwiderlaufen. Zum Beispiel werden unglaubliche Geschichten über Tausende von Getöteten, über Panik in der Bevölkerung herumposaunt. Jedem normalen Menschen ist verständlich, daß Schadenfreude in der Not eine unanständige Betätigung ist." (Prawda, 5.5.)
"Dennoch, wer in seiner Verblendung durch den Antisowjetismus und den Antikommunismus eiligst jeden Vorwand nutzt, um mit fremdem Unglück zu spekulieren, sollte endlich verstehen, daß in einer zivilisierten Menschheit solche Ausfälle nur die verdiente Verurteilung finden." (Prawda, 6.5.)
Eine Aufklärung über den Imperialismus ist das nicht gerade und auch ein sehr passives Feindbild: Dem Feind gehen nämlich nur die guten Sitten, die Hochanständigkeit des sowjetischen Menschenschlags a b. Unsittlichkeit, Unzivilisiertheit, allenfalls Verblendung wird dem Gegner attestiert. Während der die Schäden für die sowjetische Ökonomie und Rüstungsprogramme hoffnungsvoll hochrechnet, gönnen sich die Sowjetmenschen den Glauben an die Möglichkeit von dessen Besserung. Oder sind im schlimmsten Fall beleidigt über soviel Unanständigkeit.
Inwiefern die moralische Blamage des Feindes an der sowjetischen Katastrophe ein besonderes "Ablenkungsmanöver" von der Katastrophe sein soll, wie es sich der "Spiegel" ausgedacht hat, wird wohl dessen Geheimnis bleiben.
Das friedliche und das böse Atom
Den Vergleich von GAU und Atombombe stellt die sowjetische Öffentlichkeit ebenfalls wieder sehr sittlichkeitsbewußt an. Getreu ihrer Unterscheidung der beiden Seiten dieses Dings:
"Was die friedliche Nutzung angeht, so muß hier mit der Realität gerechnet werden. Denn das friedliche Atom wurde schon zu einem mächtigen Wirtschaftszweig in vielen Ländern."
Und wenn das friedliche Atom außer Kontrolle gerät, nimmt man das als Warnung - vor seiner unfriedlichen Nutzung:
"Wir verstehen diese Tragödie als ein weiteres Alarmsignal, eine weitere schreckliche Warnung, daß die nukleare Epoche ein neues politisches Denken und eine neue Politik erfordert." (Gorbatschow)
Nicht etwa, daß die Beschaffung dieser Waffen sehr eindeutig auf die politischen Absichten zurückschließen läßt, auf die NATO-Kriegserklärung und die sowjetische Gegendrohung. Sowjetische Politiker denken viel komplizierter: Die Moral der Sache stellt die Moral des Benutzers vor große Aufgaben. Und da melden sie ernsthafte Zweifel am Charakter des amerikanischen Präsidenten an:
"Es sei gestattet, Mister Reagan zu fragen, ob eine solche Politik einer zivilisierten Nation würdig ist? Ist es denn würdig, sich für zivilisierte Menschen zu halten und gleichzeitig Waffenberge aufzuhäufen, die für die Massenvernichtung von Millionen bestimmt sind, demonstrativ das sowjetische Moratorium für Atomwaffenversuche zu durchbrechen, sich zu weigern, der elementaren Logik und dem gesunden Menschenverstand zu folgen?
Nein, so verhalten sich zivilisierte Menschen nicht, das ist eher das Niveau des Denkens von Neandertalern..." (Prawda, 6.5.)
Eine geradlinige Hetze gegen die USA, die immerhin die Atombombe erfunden, schon einmal eingesetzt, die atomare Energieerzeugung in große Maßstab und mit den entsprechenden "Störfällen" installiert haben, bringt die Sowjetpolitik nicht zustande: Der Standpunkt, daß die Dinger i n ihren Händen sehr nützlich sein sollen, verbietet das. Statt dessen wird wieder das Recht auf gemeinschaftliche Bewältigung der "nuklearen Epoche" angemeldet. Und wenn sich sowjetische Politiker schon einmal darüber auslassen, daß sie in diesen Fragen einer gewissen Erpressung von Seiten der USA ausgesetzt sind und auch über die Zusammengehörigkeit der beiden Seiten des Atoms Bescheid wissen, dann tun sie das 1. im Westen und 2. nicht ohne die Betonung, daß sie das für vermeidbar halten:
"Es stimmt schon, ist makaber, aber ebenfalls unzertrennlich, zivile und militärische Nutzung der Atomenergie. Sehen Sie, neulich im 'SPIEGEL'aus der Feder des Herrn Augstein stand es geschrieben und dem könnte ich sofort beipflichten, daß es letztendlich keinen Ausstieg aus der Atomenergie für die Sowjetunion geben darf, abgesehen von wirtschaftlichen Nöten. Das dürfen wir uns im Moment nicht leisten. Sondern aus einfachem Grunde, daß wir mittenmang in der militärischen Konfrontation sind und Atomgleichgewicht halten müssen. Deswegen auch alle unsere Vorschläge über Atomabrüstung, deswegen unsere Vorschläge über Testverbot." (Nikolai Portugalow im "Internationalen Frühschoppen", zitiert nach "Spiegel", Nr. 22/86)
Verraten hat der gute Portugalow den Westlern vom "Frühschoppen" und dessen Publikum damit freilich nichts. Daß bei den Russen die "friedliche Nutzung allemal nur Tarnung ist, weiß doch bei uns jedes Kind.