Info
DIE SCHÖNSTE NEBENSACHE DER IMPERIALISTISCHEN WELT
1. Haupt- und Nebensache
Normalerweise spielen sie nicht miteinander, die Nationen dieser Welt. Der internationale Vergleich, den sie in der Hauptsache pflegen, besteht in der Waffe der ökonomischen Konkurrenz und - wegen deren Resultaten - in der Konkurrenz der wirklichen Waffen, deren friedlich-erpresserischer Einsatz die normalen diplomatischen Beziehungen ausmacht. Der volkstümliche, weil auf den für den Frieden unerläßlichen Inter-Nationalismus des Volkes gemünzte Teil der Diplomatie besteht aus Kultur. Dazu gehört der Sport. Wegen des praktischen Interesses an der geschäftsfördernden Benutzung von Land und Leuten fremder Souveränität, und wegen der damit unvermeidlichen handfesten nationalen Gegensätze, kultivieren die politischen Herrschaften das komplementäre Ideal der Völkerfreundschaft. Für die Zelebrierung dieser notorischen Heuchelei haben sie eigens Spielwiesen eingerichtet, auf denen periodisch ein garantiert friedlicher Wettkampf unbewaffneter Mannschaften simuliert wird. Ein solches Großereignis, die Fußball-WM, hielt jetzt wieder einmal die Hälfte der Erdenbewohner in seinem Bann.
Da treffen sich "Völker" zum sportlichen Wettkampf - echt chancengleich elf gegen elf -, deren Staaten ansonsten ganz andere Rechnungen miteinander zu begleichen haben. Franzosen tauschen ihre schweißgetränkten Blauhemden gegen rote mit Hammer und Sichel, während sich die Staatsgewalten, deren Farben sie als ihre Spieleruniformen tragen, für den Weltkrieg rüsten. Stolze Briten lassen sich von afrikanischen "Zwergen" "demütigen", deren staatliche Sponsoren hauptamtlich für den reibungslosen Abtransport natürlichen Reishtums in das Mutterland des Kapitalismus ausgehalten und bei mangelndem Respekt vor dessen Bedürfnissen zur politischen Räson gebracht oder ausgewechselt werden. Irakis holzen freundschaftlich gegen die Stroessner-Jungs aus Paraguay, während ihre Altersgenossen nicht Tore, sondern Perser schießen. Und Gastgeber Mexiko genießt den weltweiten Kredit, wenn er die Teilnehmer z.B. des westdeutschen Expeditionscorps freundlich bewirten und polizeischützen darf, wohingegen deren vaterländische Banken die mexikanischen Schulden bilanzieren, aus denen sie und ihre industriellen Klassenbrüder ihr Kapital schlagen und vermehren.
Dabei blamiert sich die Abstraktion, die im Internationalismus des Sports gepflegt wird, keineswegs vor der Brutalität der inter-nationalen Hauptsachen - Geschäftserfolg und Gewalteinfluß -; der olympische Geist gedeiht vielmehr auf deren Nährboden. Solange die maßgeblichen Politiker den Weltfrieden (er-)halten, sorgen sie auch für die Unterhaltung ihrer Völker, indem sie ihnen nicht nur Brot und Hunger, sondern auch Fußball-Spiele besorgen. Nur Weltkriege zwingen zu kurzzeitiger Unterbrechung.
Bei einer Weltmeisterschaft ausgesuchter Balltreter geht es einerseits "um nichts"; andererseits ist auch das Fußballfeld ein Feld der Ehre. Schließlich begegnen sich auf ihm lauter nationale Charaktermasken, wovon nicht nur die obligatorische Hymne auf die Staatsgewalt zeugt, welcher der Einsatz der vor ihr strammstehenden Auswahl gilt. Also kommt es auch hier auf den einen Sieg an, nicht auf den der genialsten Kicker, sondern den des "eigenen" Vaterlands. "Deutschland vor!" - in den grundgesetzlich geforderten Grenzen von 1937, versteht sich.
Die kleinen Unterschiede, die sich aus dem gültigen Tabellenstand innerhalb der Staatenliga ergeben, bleiben dabei nicht verborgen. Einige Nationen, ohnehin erfolgreich in den entscheidenden Dingen: lohnende Ausbeutung und militärische Stärke, wollen ihre Größe durch Siege auf dem grünen Rasen symbolisch unterstreichen, müssen dies aber nicht. Andere Nationen, Kreaturen der ersteren - auch "Zwergstaaten" tituliert -, wollen die einmalige Gelegenheit nutzen, Anerkennung für und durch ihre Artisten zu gewinnen, wobei König Fußball nur allzu deutlich als Ersatz für fehlende nationale Größe fungieren muß. "Toll, diese Exoten!" Für Länder wie Marokko geht es um ein Stück Repräsentation, ohne daß sie groß etwas zu repräsentieren hätten. Dazwischen liegt das Mittelfeld. Und auch die Staaten des realen Sozialismus mögen nicht im Abseits stehen. Fußballweltmeisterschaften sind also keine Werbung für den Fußball, sondern durch den Fußball.
2. Die Nationalmannschaft
Sie besteht, wie der Name schon sagt, nicht unbedingt aus guten Fußballspielern, sondern aus deutschen. Sie ist "unser" Aushängeschild. Als solches hat sie erstens die Pflicht, sich unter ihresgleichen zu bewähren, d.h. zum Sieg. Und zweitens soll sie dabei womöglich auch noch gut spielen, um den Sieg für die Heimat moralisch zu verschönern. Daß der nationale Auftrag nicht selten das Spielen "kaputtmacht", weiß nicht nur Italiens Fußballtrainer-Philosoph, sondern wird allgemein beklagt.
"Die Pflicht zum Siegen macht das Spiel kaputt", sprach Enzo Bearzot vor dem Eröffnungsspiel seiner Mannschaft in die laufenden Kameras. Er müsse seinen Schützlingen "das Gefühl, unbedingt gewinnen zu müssen", nehmen, damit sie - gewinnen (Enzo Bearzot, Italien)
Aber "brotlose Kunst" ist nicht gefragt. Der Zweck des Weiterkommens heiligt die Mittel; der Erfolg gibt - wie in der 'großen Politik'-jeder Brutalität, sprich "(un)gesunden Härte", recht.
3. Die Nationalspieler
sind Repräsentanten ihrer Nation. Lauter lebende schwarz-rot-goldene Fähnchen, die den Ruhm ihres Vaterlandes mehren oder diesem bittere "Schande" bereiten. Sie werden auserwählt und "berufen", um an der Front des sportlichen Überbaus Heldentaten zu verrichten. Dafür haben sie ihre (ob angeborenen und/oder erworbenen, ist wissenschaftlich höchst umstritten!) Fähigkeiten im Umgang mit der Lederkugel, ihre Knochen und vor allem ihren Willen voll "in den Dienst der Mannschaft" zu stellen. Als Leute, die bestenfalls Fußball spielen können, sind sie entgegen anderslautenden Vorurteilen im Durchschnitt auch nicht dümmer als ihre arbeitenden und studierenden Zeitgenossen. Gemessen werden sie - und das ist durchaus angemessen - vor allem an den moralischen Tugenden selbstloser Bewährung und freiwilliger Unterordnung, die sie - wie es sich für Vorbilder geziemt - aller Welt vorexerzieren sollen. Haben "unsere Jungs", wenn sie dem Gegner schon spielerisch um Klassen unterlegen waren, wenigstens "bis zum Umfallen gekämpft"? Oder haben sie sich, wie die Ungarn - diese schlaffen Gulaschkommunisten mit österreichischem Phlegma den Russen beim 0:6, "fast willenlos ergeben"?
Die beliebte Anwendung (para)militärischen Vokabulars auf eine angeblich rein spielerische Betätigung ist also durchaus nicht, wie kritische Kulturgeister monieren, ein geschmackloser faux pas, sondern die passende Betrachtungsweise für einen internationalen sportlichen Wettkampf, der längst nationalisiert ist und deshalb mitnichten für politische Zwecke bzw. als "Ersatzkriegsveranstaltung" mißbraucht werden kann.
Von den für die "höhere Aufgabe" ausgewählten Profikickern will ein jeder die prominente Ehre haben, dabeizusein; zumal jene sich in ihrem Falle in klingender Münze auszuzahlen pflegt. Der sich dabei einstellende Konkurrenz"druck" und -neid fördert entweder mit dem Ehrgeiz der Beteiligten, die sich im Training schon 'mal "unbeabsichtigt" die Knochen polieren, auch die Schlagkraft des Kollektivs; insofern ist er laut Bundesfranzls Lieblingswort Nr. 1 "ganz normal". Oder aber er zerstört - dann ganz abscheulicher "egoistischer Individualismus" - mit der "Moral der Truppe" die Chancen auf den Spitzenplatz, der Deutschland eigentlich zusteht. Was man immer erst hinterher nach dem Ausscheiden, dann aber um so genauer weiß.
Im übrigen befindet sich unser Ex-"Torwächter" und heutiger westfälischer Fach-Denker Hans Tilkowski mit seiner allenthalben bestätigten Hypothese im Irrtum, daß die Psycho-Spinnereien im Lager unserer Idole aus der unvermeidlichen Tatsache heirühren, daß "ja immer nur 11 spielen können, aber 22 mitfahren". "Stinksauer", beleidigt und "verbittert", weil nicht nominiert, wird doch nur einer, dessen Gemütszustand sich von der allzu menschlichen = stinkbürgerlichen Einbildung bestimmen läßt, daß gerade er eigentlich ein Recht darauf hätte, berücksichtigt zu werden. Und warum "verkrampfen" sich einem Rummenigge vor lauter "Erwartungsdruck" womöglich die Muskeln, wenn "unser Kapitän" sich nicht das eingebildete Recht von 60 Millionen Westdeutschen auf einen deutschen Maradona zu Herzen und die entsprechende persönliche Eitelkeit zum Spielmotiv genommen hätte!
4. Der Nationaltrainer
Er ist erstens der Manager, der über Zusammensetzung, Strategie und Taktik der Mannschaft entscheidet. Wer spielen darf, muß nicht unbedingt spielen können, sondern eventuell bloß neunzig Minuten lang unverdrossen hinter einem Spieler der fremden Equipe herlaufen, ihn rechtzeitig und "kompromiß"-, d.h. skrupellos, aber nicht durch "unnötige Fouls" von den Beinen holen. "Fußball ist ein Kampfsport und kein Schachspiel!" lautet deshalb der Beckenbauer-Lehrsatz Nr. 2. Der Bundestrainer ordnet an, ob und wie gewonnen, auf Unentschieden gespielt oder auch mal verloren werden soll, wenn die Berechnung auf den leichteren Gegner in der nächsten Runde dies nahelegt. Dabei hat er es äußerst schwer, weil der (Miß-)Erfolg ihm wie gesagt immer erst hinterher (un-)recht gibt, weshalb die allgemeine philosophische Prämisse eines jeden Fußballehrers aus Beckenbauers vor dem Schottlandspiel mitgeteilter Einsicht Nr. 3 besteht: "The ball is round, and you never know where it is rolling."
Der Nationalcoach ist zweitens ein eitler Psychologe, d.h. ein Menschenführer aus nationalem Pflichtbewußtsein, der seine sensiblen Spielerseelchen (s.o.) "anzufassen", zu "nehmen" und zu "motivieren" weiß und "im richtigen Moment", nicht aber im falschen, ordentlich "durchgreift". Denn nur so kommt der "echte Teamgeist" zustande, mit dem Sepp Herberger die Schmach der deutschen Niederlage 1945 schon neun Jahre später vergessen - ließ und Deutschlands Helden rehabilitierte: "Einer für alle, alle für einen!"
Drittens schließlich ist ein deutscher WM-Trainer ein Diplomat der deutschen Nation im Ausland. Politisches Fingerspitzengefühl ist schon verlangt, um nicht das imperialistische Ideal der Völkerfreundschaft durch den Klartext der ihm innewohnenden Verachtung undeutscher Menschenarten und -rassen zum Nachteil des eigenen nationalen Tmages in der Welt zu desavouieren. Wer die geforderte demokratische Dialektik von Respekt und Verachtung gegenüber den gastgebenden und sonstigen Staaten nicht beherrscht, sondern seinen 'privaten' Rassismus (über zwergwüchsige Mexikaner und blinde Australier) "öffentlich" und zur "Unzeit" freien Läuf läßt, wie der noble Kaiser Franz, der ist nicht ein Rassist, sondern "vielleicht überfordert". Und muß im Falle ausbleibender Erfolge der deutschen Nationalstars - vielleicht sogar den Posten wechseln. Obwohl der gute Franz die politische Arroganz der deutschen Großmacht doch nur dumm-dreist-ehrlich in die Welt hinausposaunt.
5. Die Gemeinde der Fans
Ob vor Ort oder vorm TV - als Anhänger der deutschen Nationalmannschaft sind sie alle gleich. Was sie eint, ist nicht mißzuverstehen als unschuldige Begeisterung für eine Sportart, sondern die fixe Vorstellung, zu wem man zu halten, für wen man zu brüllen, welche Farbe zu gewinnen hat. In unserem Fall: "Immer wieder, immer wieder, immer wieder schwarz-rot-gold!" Dieses leidenschaftliche Mitfiebern, zu welchem man/frau die Abseitsregel wirklich nicht kennen muß, ist die Quelle von überschwenglicher Freude und bitterer Enttäuschung. Ein Siegtor von "Ruuudi", den man persönlich zwar nicht kennt, schreibt sich die Mehrheit der im sportpolitischen Fanatismus vereinigten Untertanen eines Staates als ihren ideellen Lohn gut, weil und insofern der materielle Nutzen für ihren zwangsläufig und -weise entrichteten Beitrag zur Weltgeltung ihrer Staatsgewalt mit Sicherheit auf der Strecke bleibt. Während jene auf dem Felde des Fußballs nicht unbedingt gewinnen muß, obwohl's ein schönes Geschenk für die Regierenden wäre (so daß weiland Heinrich Lübke sogar, im übergeordneten Interesse des Ansehens unseres Vaterlandes, bescheiden-großzügig zum berühmten "Wembley-Tor" der Engländer und wider besseres Wissen offiziell erklärte: "Der Ball war drin!"), erfüllt für notorische V erlierer mit oder ohne Arbeitsplatz die Niederlage ihrer sportlichen Lieblinge nicht selten den Tatbestand eines ihnen schikanöserweise vorenthaltenen moralischen Rechts auf Partizipation an der nationalen Ehre.
In letzterem besteht das "Recht" auf Kompensation, welches gewöhnliche Fans zum Inhalt ihres Bedürfnisses gemacht haben. Lauter großartige Experten und kleine Bundestrainer, die da auf Schuldigensuche gehen und garantiert fündig werden: Der tiefe Boden, das heiße Wetter, die Überbezahlung satter Profis (im Verhältnis zum eigenen, gerechten 'Leistungslohn'), das Pech oder - der Gegner bestätigen noch allemal die vorausgesetzte Idiotie, daß "wir" eigentlich hätten gewinnen müssen! So kommt das psychologische und keinesfalls "natürliche" (Untertanen-)Bedürfnis auf jeden Fall auf seine Kosten.
Zwecks verantwortungsvoller Förderung des erwünschten Bewußtseins innerhalb der staatlichen Zwangsgemeinschaft, zur "richtigen" Nation zu gehören und entsprechend in der großen weiten Welt repräsentiert zu sein, gibt es schließlich noch eine ganze Meute von bezahlten Fachleuten aus den gebildeten Schichten:
6. Die nationalen Truppenbetreuer von Presse, Funk und Fernsehen
Diese sind stellvertretend für "uns alle", die wir in Fabrik, Büro und Küche unsere(n) Mann/Frau stehen müssen, am Ort des Geschehens und ermöglichen uns in der fernen Heimat hautnahe Anteilnahme an den Erfolgen und Sorgen derer, die für "uns" stürmen oder mauern, während wir im Sessel sitzen. Sie besetzen sämtliche Schlüssellöcher, um ja keinen Schnarchton der Kickerprominenz zu überhören, und stellen die richtigen wichtigen Fragen zu Stimmung, Gesundheit, Speiseplan, Ehefrauen, Freund und Feind, Erfolgsaussichten etc. "unserer Stars". Lady Di und Caroline haben es schwer in diesen Tagen. Zumal zur Bereicherung der Berichterstattung sämtliche Fußball-Zombies der Nation von Uwe bis Tilkowski herangezogen werden.
Daneben liefern die Volksmoderatoren Kürten, Valerien und Co wohldosiert sozialkritische Folklore aus dem exotischen Land "voller Kontraste: Reichtum neben beeindruckender bedrückender Armut" frei Haus. Das erklärte TV-Programm, "den Mann von der Straße miteinzubeziehen", der im Unterschied zum Mann aus dem zivilisierten Europa tragischerweise nicht nur vom Reichtum, sondern mangels Pesos auch noch aus den Stadien Mexiko-Citys und Queretaros, die das Opium der Armen liefern, ausgeschlossen ist, besorgt dem Publikum Anschauungsmaterial für die bekannte Mitleidsheuchelei, die der eigenen Seele so guttut. Und ein paar Dutzend Eintrittskarten für ebenso viele nette elende braune Muchachos, die sich noch nicht einmal die Einstandscreme kaufen können, um limpiabotas (= Schuhputzer) zu werden, springen allemal dabei heraus. Die Lüge, daß das WM-Spektakel die Leute von den "Tatsachen der harten Welt" tatsächlich "ablenkt", ist nicht als Kritik des Spektakels gemeint, sondern Beweis dafür, daß man gerade als brotloses "Erdbebenopfer" eines "Entwicklungslandes" ein Recht auf die Spiele hat. Das wollen "wir" ihnen doch nicht auch noch nehmen. Bienvenidos! Und nun zum Spiel der deutschen Mannschaft...
*
So geht Kulturimperialismus, als Überbau über dem wirklichen.