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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1986 erschienen.

Systematik

Korrespondenz
KRITIK AUS DEM OSTEN

Zu "Internationale Heimatkunde: Die Volksrepublik Polen" und zur Rezension von "Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach - ein endloses geschlossenes Band". Beides in MSZ Nr. 12/1985.

"Eure Zeitung habe ich an der Warschauer Uni aufgegabelt; man verfolgt dort recht aufmerksam, was denn so im Westen die Meinungen zu Polen sind...

...Der Polen-Artikel hat mir besonders gefallen, der ist gut, in aller Kürze das Problem auf den Begriff gebracht. Daß Ihr da allerdings auch so gegen den polnischen Nationalismus loszieht, habe ich nicht ganz verstanden. Was habt Ihr denn für eine Meinung, was man machen sollte oder könnte?

Nationalismus als Haltung, als Abwartehaltung, solange keine politisch handlungsfähige Kraft da ist - ich finde das gar nicht so schlecht. Hat seine "Bewährungsprobe" auch irgendwo bestanden; und lieber eine Nation, als den kleinsten gemeinsamen Nenner (selbst wenn sie von allen möglichen Interessen herumgeschubst wird, nur nicht den eigenen) als überhaupt keinen Zusammenhalt - womit man dann als Spielball fremder Einflüsse durch die Weltgeschichte kullert. Ich find auch nicht, daß sich Kommunismus und ein gesunder Nationalismus so sehr beißen: Egal, was da in nächster Zeit passieren mag, an Veränderungen kommt, das wie ist zuvörderst ein nationales polnisches Problem. Und so etwas gilt nicht nur für Polen.

Eine "Frage" habe ich dann doch noch. Wer hat den Literaturanzeiger gemacht? Dem logischen Unsinn im vorgestellten Buch (Hofstadter...) auf die Sprünge zu kommen, war für Euren Autor sicherlich leicht. Die "lügenden Kreter" und die Unterscheidung von Aussagenebene und Metaebene sind ja ein Kindergartenbeispiel für die Logik. Daß dann über Gödel hergefallen wird und überhaupt die Frage der Formalisierung einer Wissenschaftssprache abgetan wird mit diesem Satz: "Man möchte richtig denken, ohne etwas zu denken, also ohne überhaupt zu denken." - das zeugt nun seinerseits nicht eben von Logik-Kenntnissen...

P.S. Da ich einmal beim peniblen "Korrigieren" bin: Auch wenn Ihr Euch Marxistische Gruppe nennt, solltet Ihr dem alten Lenin das Recht angedeihen lassen, ihn richtig zu zitieren. Es heißt nicht: "Sozialismus = Sowjetmacht und Elektrizität", sondern: "Kommunismus = Sowjetmacht und Elektrifizierung des ganzen Landes".

Eine Forderung, die den Spruch auch heute noch propagandistisch verwertbar macht. Tschernobyl läßt grüßen!..."

J., Berlin (Hauptstadt der DDR)

Antwort der MSZ

Gegen Dein Argument für Nationalismus, immerhin sei er "ein Zusammenhalt" und besser als keiner: Es kommt schon noch darauf an, was der Inhalt eines Zusammenhalts ist und wozu er da ist. Und der Zusammenhalt von Leuten in einer Nation ist zunächst gar nichts anderes als ein anderer Name für Herrschaft: alle die, die ein und derselben Regierung unterstellt sind. Was Du Dir dabei vorzustellen scheinst, immerhin ein bißchen "Schutz" vor "fremden Einflüssen", das ist allerdings genau die Verwechslung, auf die die Macher von Nationen großen Wert legen, daß nämlich ihre Herrschaft ganz ausschließlich dem Wohlergehen der eigenen Untergebenen gewidmet sei. Mit der Vorstellung von einer Nation, die es getrennt von ihrer staatlichen Organisation als eine selbständige und höhere Wesenheit geben soll auf die sich Staaten dann verpflichten, wird nämlich der Gegensatz bestritten zwischen der jeweiligen Staatsräson und den Leuten die als Volk dafür geradezustehen haben. Ebenso im übrigen die Gegensätze m Volk, in kapitalistischen Staaten die der Klassen, in dem realsozialistischen die durch die ökonomischen "Hebel" institutionalisierten. Die Benützung eines Volks für die staatlichen Vorhabcn, bei der die Interessen der großen Mehrheit auf der Strecke bleiben, stellt sich ganz umgekehrt dar: der Staat als Diener seiner Untergebenen als Nation. Die Absichten und Maßnahmen der Politik verschwinden hinter der ohersten Berufungsinstanz, dem Wohlergehen der Nation, und die Abstriche vom eigenen Wohlergehen, die den Leuten dafür abverlangt werden, erscheinen ganz unangreifbar.

Gegen Deine Auffassung von Nation als "kleinstem gemeinsamen Nenner", der für einen "Zusammenhalt" taugt: Erstens könnte Dir diese Sorte Zusammenhalt allein schon darüber verdächtig werden, daß er keiner ist, den sich die Zusammenhalter selbst nach Maßgabe ihrer Interessen ausgesucht haben. Zweitens ist der Nenner nicht gerade klein: Mit dem Zufall, in diese oder jene Nation hineingeboren zu werden, steht nämlich der Lebensplan schon so ziemlich von A bis Z fest, und zwar in Gestalt der gesamten, staatlich kodifizierten Lebensumstände, mit denen man zurechtzukommen hat, und den damit festgeschriehenen Zwecken, für die man sich nützlich zu machen hat. Zu einer Nation gehören, heißt überhaupt nicht, daß man in dem Zusammenhalt etwas weniger "herumgeschubst" würde, sondern daß man exklusiv von der eigenen Regierung geschubst wird.

Speziell u Polen. Es ist uns einigermaßen rätselhaft, wie Dir der Artikel gefallen kann, aber mit Ausnahme der Kritik am polnischen Nationalismus. Er enthält doch überhaupt nur den Nachweis, daß Nationalismus schädllich ist, der von oben und der von unten. Daß sich in Polen die Arbeiter immerhin einmal geregt haben, halten wir für keinen guten Grund, ihrem Nationalismus etwas abzugewinnen - der ist nämlich der Grund aller ihrer Fehler. Die Lebensumstände, die ihnen der reale Sozialismus beschert und mit denen sie unzufrieden sind, haben sich die polnischen Arheiter mit der schlichten und genauso idealistisehen Umdrehung des normalen, gefügigen Staatsbürgerglaubens erklärt: Die Regierung schädigt die Nation, weil sie im Dienst auswärtiger, sowjetischer Interessen agiert. Die "Russenknechte" aus der Regierung vertreiben ist aber ein ganz anderes Programm als die Bekämpfung der Produktionsweise, die einem schadet. Ausgerechnet mit der Berufung darauf, daß sie als brave Polen, als bescheidene, arbeitswillige, gesetzestreue Arbeiter eine bessere Herrschaft verdient hätten, haben sie ihre Auseinandersetzung mit der Staatsmacht angezettelt. Und genausowenig wie über den Grund ihrer Unzufriedenheit haben sie sich über die Mittel ihrer Durchsetzung Klarheit verschafft, sondern zielsicher auf die falschen Freunde gesetzt: Auf die imperialistischen Staaten im Westen, die längst tatkräftig an ihrer Ausbeutung mitbeteiligt waren und sie auch politisch nur als Manövriermasse zur Schwächung des Ostblocks ausgenützt haben; auf die Kirche, die dasselbe Programm verfolgt; und sogar auch auf die Partei: Mitten in ihrem ganzen Aufruhr haben sie sich auf Vorurteile, daß "Polen nicht auf Polen schießen" etc., verlassen und gemeint, sie könnten zu ihrem Vorteil Fraktionen und Einzelkämpfer in der Partei "gegeneinander ausspielen".

Der unterm Kriegsrecht verbliebene regierungsfeindliche Nationalismus schließlich ist keineswegs klüger geworden; er ist auch keine "Abwartehaltung", bis man sich wieder zu einer "politisch handlungsfähigen Kraft" zusammengesammelt hat, sondern Resignation, die Rückkehr zur ohnmächtigen schlechten Meinung von der gültigen Politik, und auch damit läßt sich regieren. Zumal sich auch ein oppositioneller Nationalismus durchaus Erfordernisse und Sachzwänge "der Nation" einleuchten läßt, mit denen ihm die Regierung kommt.

Wenn polnischen Arbeitern das Leben schwergemacht wird, dann hätten sie sich die Gründe klarzumachen, um dagegen vorgehen zu können. Anstatt das fiktive Recht auf bessere Behandlung, auf eine "wirklich nationale" Regierung einzuklagen, hätten sie zu kapieren, daß ihnen nicht als Polen das Leben schwergemacht wird, sondern als Leuten, die für die Planerfüllung, den Staatshaushalt, die westlichen Kreditgeber und Handelsunternehmen zum Arbeiten anzutreten haben. Und weil sie es nicht nur mit ihrer Staatsmacht, sondern auch mit deren Bündnis zu tun bekommen, müßten sie kapieren, daß sie für ihre Durchsetzung die sowjetischen, tschechischen und DDR-Arbeiter brauchen, daß sie die also für dasselbe Vorhaben gewinnen müssen. Bevor "proletarischer Internationalismus" zu einer diplomatischen Floskel für die Gemeinsamkeit in der nationalen Konkurrenz der Warschauer-Pakt-Staaten verkommen ist, enthielt diese Parole immerhin den korrekten Hinweis darauf, daß sich Nationalismus und die Durchsetzung von Arbeiterinteressen ausschließen. Wenn die Arbeiterklasse einer Nation Herrschaft und Ausbeutung kippen will, dann ist sie für ihren Erfolg schon einigermaßen darauf angewiesen, daß sich die Arbeiter anderer Länder nicht im Namen ihrer Nation gegen sie mobilisieren lassen.

Nationalismus ist das Gegenteil von Materialismus - daß er so etwas wie eine Vorstufe oder ein ganz brauchbares Mittel für das zweite sein soll, ist die Lektion, die Euch drüben immer verabreicht wird. Um daran zu glauben, muß man allerdings übersehen, daß u.a. wegen der Konzessionen an den Nationalismus, den die Sowjetunion in den von ihr dazugewonnenen Staaten vorgefunden hat, eine richtige Planwirtschaft, also die Durchsetzung des Materialismus der Arbeiter als maßgeblicher Wirtschaftszweck, gar nicht erst richtig angefangen hat. Statt dessen hat man patriotische Gefühle als Mittel der Herrschaft für nützlich befunden und sich ihrer hemmungslos bedient.

Nationalismus ist eben nichts als eine, und zwar die Hauptform des praktizierten Idealismus auf Erden. Daß diese "Geisteshaltung" nichts taugt, ist Dir sicher aus Universitätskursen über den "ewigen Kampf" zwischen Materialismus und Idealismus in der Geschichte der Philosophie vertraut. Wir halten zwar nichts davon, das gesamte Denken der Menschheit von den Anfängen bis heute unter das Schema dieses "Kampfs" zu subsumieren, der nie stattgefunden hat. Statt dessen liegt uns aber einiges daran, Idealismus zu widerlegen.

Deswegen unsere Anmerkungen zu Gödel. Der hat nämlich an einem methodischen Idealismus mitgewirkt, der sich inzwischen offenbar systemübergreifend in philosophischen Seminaren breitmacht: der Suche nach einer Garantie richtigen Denkens, getrennt vom Vollzug des problematischen Gedankens selbst. Ganze Generationen von Philosophen haben sich aufgemacht, um formelle Eigenschaften einer Wissenschaftssprache herauszufinden bzw. festzulegen, die sicherstellen könnten, daß die Erkenntnis einer Sache korrekt voranschreitet. Das ist allerdings wirklich einmal ein idealistischer Kampf gegen den Materialismus - dagegen nämlich, daß die Wissenschaft bei der Sache bleibt. Statt dessen soll sich auf einer "Metaebene" der methodischen Vorkehrungen fürs Denken entscheiden, ob irgendein Gelaber das Attribut "wissenschaftlich" verdient; so als wäre Erkennen nichts als ein streng geregelter Denksport. Beherzigt man diesen Unsinn - Hegel hat ihn noch, sehr materialistisch, als das Unterfangen verspottet, mit Vorurteilen wie "mit Spießen und Stangen auf den Gegenstand loszugehen" -, dann lassen sich in der Wissenschaft fortan zwar rekordverdächtige Hochleistungen erzielen, aber ganz sicher keine Erkenntnisse gewinnen über den bürgerlichen Staat, die realsozialistischen Parteien, die Prinzipien falschen Denkens oder auch nur über das Verhältnis zwischen Masse und Energie oder zwischen natürlichen Zahlen.

Um dem alten Lenin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Seine Parole war nicht gerade eine besonders tiefschürfende Erkenntnis über den Sozialismus, sondern eine Auskunft darüber, was die Sowjetunion damals sachlich dringend gebraucht hat. Aus dem Beschluß, das Land zu elektrifizieren - gegen den Du ja wahrscheinlich auch wenig einzuwenden hast -, folgt aber noch längst nicht so ohne weiteres ein Tschernobyl. Dazu ist erstens einmal das politische Interesse an dieser speziellen Technologie erforderlich, das sich die Sowjetunion wegen der atomaren Erpressung durch die USA zugelegt hat. Und zweitens braucht es dazu eine Stromversorgungsökonomie, die sich mit Energieexporten in den Westen und ihren eigenen ökonomischen Rechnungsweisen lauter liebliche Sachzwänge eingerichtet hat, mit denen sie nun herumwirtschaftet die entsprechenden Rücksichtslosigkeiten gegen die Bevölkerung sind die Folge. Zur politischen Ökonomie des AKW-Programms in Ost und West ist im übrigen alles in der letzten Ausgabe der MSZ (Nr. 6/1986, "Noch eine Katastrophe, die nichts und niemanden ändert") nachzulesen.

MSZ-Redaktion