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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1986 erschienen.


DER GANZ NORMALE WAHNSINN

Waldsterben wegen Menschen im Wald

Es zählt zu den politischen Erträgen des russischen GAUs, daß seit Tschernobyl die Leute vor lauter Sorgen um ihre Gesundheit nicht mehr groß über den "sterbenden Wald" jammern und damit ihre Politiker belästigen. Jetzt ist die Wissenschaft auf den abschließenden Gedanken zum Thema gekommen:

"Forstexperte für Verbote zum Schutz des Waldes

Verstärkte Einschränkungen für Spaziergänger im Wald bis hin zu weiteren gesetzlichen Verboten hat der Forstwissenschaftler Professor Rolf Zundel empfohlen, um die Lebensräume für Tiere und Pflanzen besser zu schützen. Auf einer Tagung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald im nordpfälzischen Obermoschel schlug Zundel - Direktor des Instituts für Forstpolitik in Göttingen - vor, daß Besucher beispielsweise in der Dämmerungszeit und nachts den Wald nur auf festen Wegen betreten sollten. Auf einem Sechstel der Waldfläche in der Bundesrepublik könnten nach den Vorstellungen Zundels schutzwürdige Naturruhezonen geschaffen werden, von denen sich Waldbesucher fernhalten sollen." (Süddeutsche Zeitung, 2.6.)

Die Schornsteine müssen rauchen, eh klar. Die Leute sollen draußen bleiben aus dem Wald, damit er "erhalten" bleibt. Fragt sich bloß Für wen?

ETA ante portas?

"Stoltenberg vergleicht Grüne mit ETA."

"Der schleswig-holsteinische CDU-Landesvorsitzende und Bundesfinanzminister hat der grün-alternativen Bewegung vorgeworfen, sie entwickle sich wie die 'baskische ETA' in Spanien. Die Grünen bestünden aus einem zivilen und einem gcwalttätig-militanten Flügel... Die einen kandidierten für Parlamente, die anderen beteiligten sich an Gewaltaktionen, deren 'Brutalität in der Nachkriegsgeschichte bisher ohne Beispiel ist'." (Süddeutsche Zeitung, 16./17.6.)

Auch hier irrte Stoltenberg. Mit der ETA haben die Grünen ebensowenig zu tun, wie die CDU (einmal abgesehen von weltanschaulichen Grundpositionen bezüglich Volk, Nation und starker Führung) irgendetwas mit der Wehrsportgruppe Hoffmann gemein hat. Während sich bei den Basken die Parlamentskandidaten keinen Augenblick lang von der Militanz distanziert und die Gewalttätigkeit gegen die Staatsgewalt umgekehrt Stimmen bringen soll im Wahlkampf, ist den deutschen Grün-Alternative nichts peinlicher als ein Stein in Brokdorf kurz vorm Wahltag, weil das die Chancen von Leuten mindern könnte, die schließlich endlich das mitverantworten dürfen wollen, wogegen sie ihre Bedenken anmelden. So weisen grüne Politprofis jede Sympathie mit "Chaoten" als Diffamierung entrüstet zurück; ausgerechnet denen gegenüber, die AKWs bauen und Polizeiüberfälle auf Demonstrationen gegen sie anordnen. An einem Punkt trifft er allenfalls, der stoltenbergische Vergleich: Er und die Seinen würden mit der grünen Konkurrenz und unartigen Protestierern liebend gerne so verfahren, wie der spanische Staat mit ETA und allem, was an unbotmäßigem Volk dranhängt. Nach den Polizeieinsätzen von W:ckersdorf und Hamburg, deren Brutalität n der Nachkriegsgeschichte bisher ohne Beispiel ist, hat die BRD allerdings den spanischen Gewaltapparat deutlich abgehängt: Bei uns gibt es nämlich gar keine ETA.

"BILD" vor Brokdorf

"Wer geht nach Brokdorf?

'Stell dir vor, es kommt Krieg und keiner geht hin', lautet ein Spruch der Friedensbewegung. Heute kann es in Brokdorf zu schlimmen Exzessen kommen. Wer geht also dorthin?"

Klartext: Wer nach Brokdorf geht, will Krieg - und nicht demonstrieren.

"Was in Wackersdorf passierte, darf sich nicht mehr wiederholen: 180 verletzte Polizisten, 200 verletzte Demonstranten."

Klartext: Verletzte Polizisten? Das darf sich nicht wiederholen. Als Opfer sind schließlich die Demonstranten vorgesehen, nicht die, die sie dazu machen.

"Der Staat hat dle Aufgabe, den friedlichen Charakter von Demonstrationen zu sichern. Das geschieht am leichtesten, wenn die Chaoten allein erscheinen."

Klartext: "Sicher" und "friedlich" macht der Staat eine Demo, indem er alle "Chaoten" verprügelt. Wer außer den Chaoten auch noch antritt, erschwert der Polizei ihre Aufgabe - ist also selber ein Chaot, der verprügelt gehört.

"Keiner, der heute in Brokdorf auftaucht, darf hinterher sagen: Das habe ich nicht gewollt, nicht gewußt. h.k."

Klartext: Friedlich ist nur der Demonstrant, der zu Hause bleibt. Alle anderen kriegen die Gewalt des Staates zu spüren. ("Bild"-Kommentar vom 7.6.)

Unser Rechtsstaat - Unverwüstlich!

"Staatsanwaltschaft: Anschlag in Celle war legal

Der vom niedersächsischen Verfassungsschutz inszenierte Sprengstoffanschlag auf das Celler Gefängnis war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft in Celle legal. Wie Generalstaatsanwalt Ferdinand Cloppenburg mitteilte, ergab eine Überprüfung des Vorfalls vom 25. Juli 1978 keine Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten. Der Verfassungschutz hatte nach eigenen Angaben ein Loch in die Gefängnismauer gesprengt, um einen Befreiungsversuch für den in Celle einsitzenden Terroristen Sigurd Debus vorzutäuschen. Die Tat sollte dann einem Häftling zugeschrieben werden, um ihn als V-Mann in die Terrorszene einzuschleusen. Nach Angaben Cloppenburgs war der Sprengstoff-anschlag kein Vergehen nach dem Sprengstoffgesetz, da dieses Gesetz für die Polizei nicht gelte. Wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion werde nach dem Strafgesetzbuch nur bestraft, wer durch die Explosion Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährde. Das sei in Celle nicht der Fall gewesen. Auch wegen falscher Verdächtigung, Vortäuschens einer Straftat und Verfolgung Unschuldiger lägen Anhaltspunkte für Straftaten nicht vor." (Süddeutsche Zeitung, 14./15.6.)

Klar, daß die Polizei sich nicht ans Sprengstoffgesetz halten kann. Wie sollte sie denn sonst Verbrecher fangen? Und unsere James Bonds wären ohne Dynamit ja gleich ohne Chance. Eine "Sache von bedeutendem Wert" wird die Gefängnismauer zwar schon gewesen sein: Immerhin schützt sie das höchste Rechtsgut, das Recht der Staatsgewalt aufs Einsperren. Insofern ist sie allerdings in jeder Hinsicht des Staates ureigenste Sache. Verdächtigungen haben sich anschließend nur gegen die "Terroristen" gerichtet, also nicht falsch gelegen. Der eingesperrte Debus wurde hinterher zwar härter angefaßt, aber weder verfolgt - er saß ja schon -, noch war er unschuldig. Auf die "Vortäuschung einer Straftat" schließlich sollten nur Staatsfeinde reinfallen, nicht die Staatsgewalt selbst; die hat ja die ganze Zeit arbeitsteilig Bescheid gewußt.

Was aber das allerschönste ist: Die bundesdeutsche Staatsgewalt steht nicht bloß über den Gesetzen, auf die sie ihre Untertanen festlegt. Sondern sie leistet sich auch noch eine rechtsstaatliche Bestätigung, daß sie dem Gesetz genügt, wenn sie sich von dessen Hoheit und Allgemeinheit nicht betroffen weiß. Aufs Gütesiegel des Rechts will eine tatkräftige Obrigkeit gerade dann nicht verzichten, wenn sie tut, was sie ihrem Volk rechtskräftig verbietet. Dafür gibt es eine "Gewaltenteilung" und eine unabhängige Gerichtsbarkeit, die sich nicht täuschen läßt.

Zweimal keine Volksverhetzung

"Präsident Weizsäcker in der Türkei"

"Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland. Die Bundesrepublik ist auch gegenüber den hier lebenden Türken verpflichtet. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeitslosigkeit würden bei einem starken Zustrom nicht nur die neuen türkischen Einwanderer von vornherein in eine schwierige Lage gebracht. Auch ihre eigenen Landsleute würden darüber nicht besonders glücklich sein." (Süddeutsche Zeitung, 24.5.)

"'Türken raus' nicht strafbar

Gericht: Bezeichnung 'Kameltreiber' keine Volksverhetzung

Wer die Parolen 'Türkische Kameltreiber raus' oder 'Türken raus' an Hauswände schmiert, macht sich nicht der Volksverhetzung schuldig. Von dem entsprechenden Vorwurf sprach das Landgericht Nürnberg-Fürth eünen Angeklagten frei, der zuvor vom Amtsgericht Nürnberg wegen Volksverhetzung und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war. ...

Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die Entscheidung des Landgerichts zunächst Revision eingelegt, diese aber nach Vorliegen der Urteilsgründe als 'nicht aussichtsreich' wieder zurückgezogen. Das Gericht stellte in den Gründen für seine Entscheidung ausdrücklich fest, die Verwendung des Wortes 'Kameltreiber' stelle zwar eine 'außerordentliche Geschmacklosigkeit und Überheblichkeit und mit Sicherheit eine Beleidigung unserer türkischen Mitbürger dar', damit seien aber noch nicht die objektiven Voraussetzungen eines Vergehens der Volksverhetzung erfüllt.

Der Fall hatte auch das Bayerische Oberste Landesgericht beschäftigt, das ihn schließlich wieder an das Landgericht zurückverwies. Die Oberste Instanz hatte ebenfalls weder objektiv noch subjektiv die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen Volksverhetzung erfüllt gesehen." (Frankfurter Rundschau, 7.6.)

Es macht ja wirklich keinen Unterschied in der gemeinten Sache, ob stolze Inhaber eines deutschen Personalausweises die "Türken raus" wünschen und sich dafür ein Kraftwort einfallen lassen - viel Phantasie haben sie ja nicht, die Feinde des Kamele-Treibens, aber die Absicht ist unverkennbar -, oder ob redegewandtere Repräsentanten der Nation sich über die "Einwanderungsproblematik" verbreiten. Zwischen dem Präsidenten der Republik und der faschistischen Volksstimme bleibt tatsächlich nur ein Unterschied im Tonfall, den zu bestrafen wirklich ungerecht wäre. Zumal die vornehmere Ausdrucksweise zweifellos mehr dazu angetan ist, einem Volk die richtigen Abneigungen beizubringen: Wer mag sich schon einer "Volksverhetzung" entziehen, wenn der Fremdenhaß als Problembewußtsein und sogar im Namen der Betroffenen daherkommt? Umgekehrt: Wer wird sich denn durch so eine matte Schimpferei wie die "Kameltreiber"-Parole volksverhetzen lassen? Die gefällt doch höchstens Patrioten, die aus dem von oben angesagten "Türkenproblem" schon längst die Botschaft herausgehört und sie sich ohne Geschmacksprobleme zu eigen gemacht haben.

Die Entscheidung der bayrischen Richter und Staatsanwälte ist also zweifellos gerecht auch wenn die es so sicher nicht gesehen haben.

Wortschatz '86

"Forscher: 'Ausstieg' Wort des Jahres

Der Begriff 'Ausstieg' wird zum Wort des Jahres, hat nur in wenigen Wochen einen totalen Bedeutungswandel erlebt, meint Sprachforscher Broder Carstensen aus Paderborn. Die Worte 'Wirkwurfgeschoß' und 'Gummiwuchtgeschoß' entstanden bei Anti-Kernkraft-Demos" (Bild, 21.6.)

Gut gegeben!

"Ideologisches Gegengeschenk"

"Die polnische Regierung hat 50.000 Schlafsäcke und Wolldecken für New Yorker Obdachlose als Dank für die 50.000 Tonnen Milchpulver gespendet, die der US-Senat nach der Katastrophe von Tschernobyl der polnischen Bevölkerung schenkte. Dies gab der polnische Regierungssprecher Jerzy Urban am Mittwoch auf einer Pressekonferenz bekannt." (Fundsache aus der "Frankfurter Rundschau")

Gehe zurück ins Gefängnis

Wiedervereint sind Jelena Bonner und ihr Sacharow. Erst hat man sie in die Fremde getrieben, weil das Regime sie mit Herz-, Augenkrankheiten und Kettenrauchen schikaniert und es in der Sowjetunion ja bekanntlich weder Herz- noch Augenärzte gibt. So mußte sie sechs Monate lang ausreisen, ausgereist die Trennung ertragen und ständig vor den Fernsehkameras um das Leben ihres Mannes zittern, dem das Regime seinerseits mit Verbannung und Altersschwäche nach dem Leben trachtet. Dann mußte sie ihre vielen Pressekonferenzen mit Anklagen gegen das gräßliche Redeverbot und das Regime bestreiten, das ihr das Verbot auferlegt hatte. Und sie durfte sich wegen ihrer Öffentlichkeitsarbeit nicht einmal die Ruhe gönnen, die sie dringend gebraucht hätte. Dann beging zuguterletzt die italienische Regierung noch das Unrecht an ihr, einen letzten Staatsbesuchsrummel zu verweigern. Sie mußte sich mit zwei Auftritten in Paris und London bescheiden und mit einer Leibgarde von zwei waschechten US-Abgeordneten zurück nach Moskau, andernfalls hätten sie die Russen sofort am Flughafen standrechtlich erschossen. Man kennt die ja. Jedenfalls hat sie die Gelegenheit für einen letzten erschütternden Auftritt benützt und dem Journalistentroß diktiert, wie schwer es ihr jetzt wieder ans Herz geht, zurück von der Freiheit ins Gefängnis, Gorki heißt das auf russisch. Freiheit ohne Mann oder Mann ohne Freiheit - eine tragische und gut zubereitete Konstellation, fast so packend wie Schillers Räuber.

Jetzt darf sie wieder mit ihrem Andrej und muß ohne Pressekonferenzen und Staatsempfänge dahinvegetieren. Die Frau hat es wirklich nicht leicht. (Wie man hört, gibt es jetzt schon wieder Probleme mit ihrem Gepäck: Das hat sie in Moskau stehen lassen, sie ist aber ab nach Gorki. Kann und darf sie jetzt wieder zurück, um es zu holen?? Die Welt zittert mit.)

Jelena Bonner braucht niemandem extra zu erklären, was es ihr denn bei ihrem Rentnerdasein auf Staatskosten in Gorki eigentlich fehlt. Das weiß man doch, die Freiheit.