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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1986 erschienen.

Über "Ungarn 56" weiß hierzulande jeder mindestens genauso gründlich das Wesentliche wie über Afghanistan.
DER BÜRGERAUFSTAND VON 1956

Der typische Sündenfall der Sowjetunion: Sowjetische Panzer walzen den Freiheitswillen eines Volkes nieder. Dafür hat der ungarische Aufstand nach dem noch etwas mickrigen 17. Juni der DDR (nur 5 Tage und 21 Tote) klassisches Material geliefert. Allzu genau wissen wollen, was damals los war, darf man allerdings nicht, das schadet der Übersichtlichkeit der aus dem Ungarn-Aufstand herausdestillierten Botschaft.

1. Von wegen: "Ein Volk hält die totalitäre Gewaltherrschaft nicht länger aus und steht auf."

Gewalt der Ereignisse in dem Sinn, daß das ungarische Volk eines Tages beschlossen hätte, was es sich nicht mehr gefallen lassen will, ist es gar nicht gewesen. Ausgangspunkt und Anlaß waren Streitigkeiten in der Parteiführung der Kommunisten, die erstens ihre Herrschaft unbedingt im Namen des Volkes ausüben wollten, zweitens aber von der Roten Armee an die Macht gebracht worden waren, sich mit einiger Gewalt gegen die von Volksteilen favorisierten Konkurrenten um die Macht durchsetzten und die Umsortierung der Eigentumsverhältnisse erzwangen. Beides zusammen verursachte ziemlich endlose Auseinandersetzungcn über das richtige Maß von Opportunismus bzw. Zwang gegenüber den Beherrschten. Entscheidungsinstanz über "den richtigen Weg zum Sozialismus" war (auch) für die ungarische KP die KPdSU.

Ihr Pech war, daß ausgerechnet in Moskau nach Stalins Tod Auseinandersetzungen über die weitere Form der Herrschaft ausbrachen. Darüber verschärften sich auch die Flügelkämpfe innerhalb der ungarischen KP, da jetzt verschiedene Gruppierungen innerhalb der KPdSU als Berufungsinstanz dienten.

1953 - 1956 lösten sich Rakosi und Imre Nagy mehrmals als ungarische Regierungschefs ab und verurteilten sich dann jeweils in aller Grundsätzlichkeit als "Links-" und "Rechtsabweichler". Höhepunkt dieser Streitigkeiten war die Rehabilitierung des unter Rakosi (gleichzeitig als Agent Titos und der CIA) hingerichteten ehemaligen Innenministers und Antifa-Helden Rajk. Beim Staatsbegrähnis der 7 Jahre alten Leiche fand eine erste politische Demonstration statt. Angesichts der offensichtlichen Unsicherheit und Zerstrittenheit der Führung - im Westen nennt man so etwas ein "unerträgliches Machtvakuum" - fühlten sich die verschiedensten Fraktionen im "Volk" dazu aufgerufen, bzw. ergriffen die Gelegenheit, einmal energisch ihre Unzufriedenheit mit wiederum den verschiedensten Fragen kundzutun.

2. Von wegen: "das Volk"

Ein paar kleine Unterschiede muß man bei der Verherrlichung "des Volks" schon ignorieren. Z.B. den zwischen dem ersten demonstrierenden kommunistischen Jugendverband, der sich für seine Vorstellung vom Übergang zum Sozialismus stark machte, und den Anhängern des faschistischen Horthy-Regimes, die nach 45 aus allen Positionen herausgesäubert worden waren. Oder z.B. den Unterschied zwischen national gesonnenen Arbeitern, die sich die Nachkriegsmangelwirtschaft mit den Reparationsforderungen der sowjetischen Siegermacht erklärten, und der Bourgeoisie, die sich von der Rückkehr der Esterhazys und dem freien Zugriff des Imperialismus auf Ungarn etwas verspricht. (Einen Otto von Habsburg, der sein Recht auf eine ungarische Regentschaft reklamierte, gab es damals übrigens auch noch, heute als "überzeugter Europäer" für die CSU im Europaparlament.) Oder z.B. den Unterschied zwischen Bauern, die durch die Landreform mit ein paar Parzellen ausgestattet worden waren und angesichts der Kollektivierungsmaßnahmen um ihr jämmerliches Eigentum fürchteten, und Gruppierungen in der Partei, die, um das Volk nicht so sehr der Partei zu entfremden, mehr Anerkennung der "nationalen Besonderheiten auf dem Weg zum Sozialismus" verlangten, Nagy und Anhänger.

Die Einheit dieser verschiedensten Interessen, von Leuten, die sich gerade vorher noch bis aufs Messer bekämpft hatten, war daher auch nur die negative, die durch den Aufzug der sowjetischen Panzer bewirkt wurde. Der führte dann zu den bekannten Bildern, die für sich selbst sprechen sollten: Stalin wird von seinem Sockel heruntergeholt.

Wie der Westen, z.B. die "Frankfurter Allgemeine" 1956 begeistert vermeldete:

"Dieses Mal sind nicht nur die intellektuellen Schichten, sondern auch die Arbeiter aufgestanden. Die beliebten Propagandaworte 'Provokateure' oder 'konterrevolutionäre Elemente' täuschen niemand darüber hinweg, daß das ungarische Volk die Riückkehr in die nationale Unabhängigkeit - von Rußland - sucht... Freiheitsdrang der Ungarn, die sich vom Kommunismus ganz loslösen wollten... Ausbruch der wahren Volksstimmung..."

3. Von wegen: "Freiheitswille"

Forderungen wie die nach der Rückkehr von Nagy in die Regierung, von geheimen Wahlen in der KP oder nach der Einführung von nationalen Uniformen sind etwas anderes als eine Forderung nach Einführung des Kapitalismus. Und auch Putschversuche mit dem Interesse an einer Wiederherstellung des vorherigen klerikal-faschistischen Ordnung passen nicht ganz ins Bild der reinen Freiheitssehnsucht.

Die berühmte Erklärung Nagys zum Austritt aus dem Warschauer Pakt schließlich taugt ebenso wenig als Beleg dafür, daß der ungarische Aufstand ein einziges Plädoyer für den Eintritt in den Westen war. Nagys' Anliegen war es vielmehr, die Macht der KP unter allen Umständen zu erhalten. (Im Unterschied zu seiner späteren Umstilisierung zu einem nationalen Freiheitskämpfer war er ein Kommunist konservativer, inzwischen ausgestorbener Machart, der z.B. die seiner Meinung nach fehlerhafte Politik Rakosis damit kritisierte, daß er ihm anhand der Reproduktionsschemata im 2. Band des "Kapital" Abweichung vom Marxismus "nachwies".) Die Neutralitätserklärung mit dem Appell an die UNO, die ungarische Neutralität zu garantieren, war sein letzter Versuch, die Massen zur Rückkehr zur Ordnung zu bewegen, indem er ihnen in ihrem Anti-Russen- und Besatzungsaufstand partiell Recht gab. Polizei und Militär waren in großer Zahl auf die Seite der Aufständischen übergelaufen, so daß Nagy, der amtierende Ministerpräsident außer seinen Radioreden gar keine Mittel mehr in der Hand hatte, die "Ordnung" wiederherzustellen. Sein Pech, das er dann auch mit seinem Leben bezahlte, war, daß Ungarn weltpolitische Bedeutung erlangt hatte: Die Sowjetunion fürchtete eine militärische Einmischung der USA. Immerhin hatte Radio Free Europe alles getan, um diesen Eindruck zu verstärken: durch Aufrufe an das ungarishe Volk, sich auf keine Kompromißangebote Nagys einzulassen und weiterzukämpfen, und durch Meldungen über den Aufmarsch von UNO-Truppen an der österreichischen Grenze. Die Sowjetunion war nicht bereit und konnte es sich aufgrund des gerade zustandegebrachten "atomaren Patts" auch leisten, sich keine Einschränkung ihrer Weltkriegsgewinne bieten zu lassen. Und auf die Tour Nagys, sozialistische Treue zu versprechen und eine UNO-geschützte Neutralität zu verlangen, wollte sie sich erst gar nicht einlassen. Zumal der nicht einmal selber für Ordnung sorgen konnte.

Wenn also auch an der Geschichte vom Freiheitswillen des ungarischen Volkes so gut wie nichts stimmt, tauglich war und ist sie schon: weil sie eben den Anwalt dieses Anliegens ins Recht setzt, den freien Westen, der seit 45 im Namen der unterdrückten Völker das Recht und auch die moralische Pflicht zum Krieg gegen den Osten haben soll. Deshalb war Ungarn 56 auch

4. "das erste große historische Versagen des Westens"

Er hat nämlich den Ungarn keine freiheitlichen Bomber und Panzer geschickt.

"Aber daß der Westen damals nach der sowjetischen Intervention am 4. November keine Hilfe leistete, zeigte auch den moralischen Bankrott der sogenannten 'Befreiungskonzeptionen' des Westens." (Die Zeit, 23.10.1981)

"Empörte Briefe und Anrufe zeigen jeder Zeitungs- und Rundfunkredaktion, daß auch bei uns schwere Fehler begangen worden sind. Fassungslos steht ein großer Teil der Menschen im Westen und natürlich in Ungarn - vor der Tatsache, daß man die ungarischen Freiheitskämpfer angespornt und ermutigt hat, ihnen im entscheidenden Augenblick aber nicht helfen konnte... Es ist tragisch, aber die USA können und dürfen in den verzweifelten Kampf der Ungarn nicht eingreifen, wenn die Welt nicht in einen furchtbaren Krieg gestürzt werden soll." (Frankfurter Rundschau, 1956)

Man merkt der Tonlage an, verglichen mit heutigen Kommentaren zum Weltgeschehen, daß der Westen einige Fortschritte dabei gemacht hat, diese "Tragik" zu beenden. So rechtfertigt auch heute noch das alte "Meer von Blut" die "tröstenden Schlußfolgerungen", die die "FAZ" z.B. damals aus ihm gezogen hat:

"Die vielen tausend Toten der ungarischen Oktoberrevolution 1956 haben nicht umsonst ihr Leben gelassen. Sie sind für die ganze Welt diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs nicht nur eine ernste Mahnung, sondern auch eine Verheißung, und sie waren, das wird man erst später richtig begreifen und beweisen können, das moralische Stalingrad des Weltbolschewismus."

Wenn auch der Ostblock nicht gerade an moralischer Verachtung zugrunde geht.