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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1986 erschienen.

Systematik

Der russische GaU - ein demokratischer Glücksfall:
VON WEGEN "UMDENKEN"!

Es stimmt nicht, daß mit dem russischen GAU die Kritik an den Kernkraftwerken einen Aufschwung genommen. Und schon gar nichts zu spüren ist von einer Selbstkritik derer, die Kernkraftwerke betreiben. Das ist auch gar nicht verwunderlich. Welche Argumente für oder gegen die nationale Atomindustrie und ihr Gerät sollte denn der Unfall in der Ukraine den schon feststehenden hinzufügen, welche denn entkräften? Daß solche Unfälle möglich und fällig sind, war jedenfalls schon vorher bekannt. Am besten denjenigen, die sich von Berufs wegen mit Reaktorsicherheit befassen. Und der Schrecken, der manchen Zeitgenossen befällt, weil jetzt, weil jetzt leibhaftige Strahlenopfer unterwegs sind, taugt zur Bekehrung ebenfalls recht wenig. Daß beim Betrieb solche Opfer vermieden gehören, "folgern" die einen; daß der Betrieb zur Vermeidung solcher Katastrophen eingestellt gehört, die anderen.

Die Bilanz, die sich aus den Raktionen auf den Reaktorunfall ziehen läßt, zeigt, was die Rede vom "Umdenken", die durch sämtliche Lager geistert, meint. Korrekturen sollen die jeweils anderen und gegnerischen Standpunkte auf sich nehmen - die eigene Position hat zu bleiben, wie sie ist und noch energischer als bisher vertreten zu werden. Daß ein Ereignis - und sei es auch eine Katastrophe - jemanden zur "Umkehr" bringt, mag in der Bibel vorkommen. Im wirklichen Leben spielt es eine vergleichsweise geringe Rolle. Weit entfernt davon, als "Ursache" ein entsprechendes Dichten und Trachten zu "bewirken", ist es entweder ein Gegenstand, über den man sich Rechenschaft ablegt. Mit dem Grund und Verlauf der Sache bekannt gemacht, kann man sodann interessiert prüfen, ob sie einem genehm ist, oder ob es da etwas zu tun gibt". Oder besagtes Ereignis dient den Zeitgenossen als Anlaß, das was sie schon immer gesagt und getan haben jetzt noch lauter zu sagen und noch entschlossener zu tun, Wenn sie dabei zuviel Aufhebens über die wegweisenden Qualitäten des Anlasses machen und ihre Absichten und Befunde quasi als dessen "Produkt" ausgeben, so sollte man ihnen diese Lüge besser nicht glauben. Näher liegt da schon die gar nicht schwer zu ermittelnde Wahrheit, daß Tschernobyl alle Welt bestätigt, d.h. zu haargenau den Überlegungen "bewegt", auf die sie sich schon immer viel zugutehalten:

- Denen, die mit der Feindbildpflege befaßt sind, ist mit der Katastrophe prompt eine Bereicherung des ausgelutschten Materials ihrer Russenhetze zugefallen

- Diejenigen, die das Deutsche lieben und ehren, finden vor lauter Begeisterung über die Sicherheitsstandards speziell deutscher AKWs kaum noch passende Worte

- Die Betreiber der deutschen Kernkraftindustrie hören das gern und schließen aus Tschernobyl messerscharf, daß sie mindestens so weitermachen müssen wie bisher

- Die AKW-Gegner im Lande meinen hauptsächlich "Da seht ihr's!" und wollen ein zusätzliches Argument zu ihren alten Einwänden an Land gezogen haben

- Die Parteien nehmen wachsam die Katastrophenmentalität des Volkes zur Kenntnis um sich wahlkämpferisch zu profilieren - der Ruf nach Führung und Betreuung in Sachen Strahlenangst wird Wahlkampfthema

- Die Wähler passen auf, wer alles umdenkt, um ihre Stimmen zu verteilen

- Christen sehen wie immer schwarz von wegen menschlicher Hybris und verwechseln immer noch Herrschaft mit Verantwortung

- Mütter denken wie zuvor nicht an sich oder über Kernkraft und ihre staatliche Verwaltung nach, sondern ausschließlich an ihre Kinder - in deren Namen sie ja bisher alles getan und gelassen haben

- Der Bundespräsident übt sich in Verantwortung, denkt nach und entdeckt ein Problem

- Anti-AKW-Demonstranten demonstrieren gegen AKWs, wie bisher immer vor Ort, weil sie jetzt erst recht im Recht sind mit ihren verkehrten Argumenten und "Strategien"

- Strahlenschutzmediziner klären wie zuvor über die relative Verträglichkeit relativ großer Mengen Strahlung auf

- Bürger wollen Klarheit und Einheit und Führung von ihrer Führung, weil die ist für die Bewältigung von Tschernobyl da wie für alles andere auch

- Weltpolitiker kämpfen wegen Tschernobyl an der diplomatischen Front - wie immer um unseren Einfluß auf die Russen

etc. etc.

Nicht einmal die Marxistische Gruppe hat sich entscheidend vom GAU beeindrucken lassen. Aber nicht wegen Tschernobyl wähnen wir uns irgendwie im Recht, sondern wegen unserer Kenntnisse des atompolitischen Programms in Ost und West, sowie dessen ökonomischer und technischer Rücksichtslosigkeit. Die Forderung, die in Bonn am Rhein möchten abschalten, erheben wir nicht wegen Tschernobyl, sondern aus anderen Gründen. Wir halten nämlich den Gedanken für verkehrt, daß in Bonn und anderswo regiert wird, um "uns" irgend etwas zu ersparen, was mit den Zielsetzungen unseres Staates unverzichtbar ist. Auch leuchtet uns deswegen die Verleumdung nicht ein, daß die Entmachtung der Atomnationalisten ein Umweg sei - hin zur Abschaltung der AKWs. Den (kürzeren) Weg über die vertrauensvolle Ermächtigung zum Abschalten-Lassen soll uns erst mal einer zeigen.

Kurz: Alle wesentlichen, in der GAU-Aufregung zu kurz gekommenen Antworten auf die Fragen: Warum? Von wem? Wozu? Wie? in Sachen AKW bilden den Gegenstand dieser Nummer. Und natürlich die obligatorische Rubrik "So nicht!", die sich dem politischen wie menschlichen Umgang mit Tschernobyl widmet.