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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1986 erschienen.

Systematik


DIE SCHLAUESTEN ARGUMENTE GEGEN DAS ABSCHALTEN

1. "Keine Gefahr würde abgewendet, die aus anderen Ländern droht, schaltete man die deutschen Anlagen ab", erklärte Kanzler Kohl im Bundestag.

Stimmt, man schaltet immer nur die AKWs ab, die man abschaltet. Die, die man nicht abschaltet, schaltet man nicht ab. Allerdings: Verplaudert hat der Atomkanzler sich schon ein wenig. Wenn man das Abschalten für den ersten Schritt auf dem Weg zum Ruin deutscher Wirtschaftskraft hält, also gar nicht abschalten will, dann sollte man Argumente vermeiden, mit denen man die Verstrahlung anerkennt.

2. Ein Abschalten ist keine Lösung, weil selbst die abgeschalteten AKWs noch strahlen und die "Lagerung der radioaktiven Materialien ein absolut ungelöstes Problem darstellt", meint ein Schlaumeier von der "Frankfurter Rundschau".

Die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß sich eine Strahlung nicht per Knopfdruck abstellen läßt, verwendet der Rundschau-Mann in kühnem Salto mortale für eine Konsequenz, die den wissenschaftlichen Befund auf den Kopf stellt: Weil man sich keine Illusionen über die Schwierigkeiten beim Beseitigen macht, kann man getrost fürs Weitermachen plädieren.

3. Es wäre "ein grandioser Irrtum, wenn bundesdeutsche Grüne den Schluß zögen, ein Ausstieg aus der Kernenergie in der Bundesrepublik würde in Großbritannien oder auch in Frankreich nachvollzogen werden", schreibt die liberale "Frankfurter Rundschau".

Jeder denkt an sich, nur ich denk' an mich. Was ist denn damit gemeint? Soll die BRD ihre starke Position in der EG nutzen, um den Partnern einmal nicht nur ihre häßlichen Kapitalverkehrskontrollen abzugewöhnen, sondern ihnen das schmutzige Atomhandwerk zu legen? Oder handelt es sich wieder einmal um den Hinweis, daß jeder EG-Staat dem anderen praktischerweise sein Sachzwang ist. Da die EG-Winde bekanntlich systemtreu sind, ist in Richtung Westen jene Drohung verboten, die nach Osten zur Zeit geboten ist, daß nämlich "die Gefahr der Strahlenverseuchung die Souveränität bricht" - wie die taz lobend Genscher zitiert.

DIE GLAUBWÜRDIGSTEN ARGUMENTE FÜR DAS ABSCHALTEN

1. Minister Fischer regte in der Bundestagsdebatte eine Verfassungsklage an, weil jeder GAU die grundsätzlichen Freiheiten der Bürger einschränke. "Keine andere Katastrophe", erläutert der Weser-Kurier, "außer Krieg, kann eine Gesellschaft politisch, zivilisatorisch, kulturell so zurückwerfen wie eine Reaktorkatastrophe. Würde sich in der Bundesrepublik eine Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl ereignen, müßte sofort der Notstand ausgerufen werden. Das heißt Diktatur. Militär müßte den engeren Bezirk um die Reaktorruine absperren und die Menschen daran hindern, mit ihren verseuchten Kleidern und Autos zu fliehen und damit andere zu gefährden."

Bemerkenswert an dieser Argumentation - weil der GAU Demokratie abschaltet, deswegen muß Demokratie AKW abschalten - ist die Verteilung der Sorgen. Sorge Nr. 1 gilt der Demokratie, Sorge Nr. 2 der Freiheit, Sorge Nr. 3 dem Grundgesetz usw. Fragt sich nur, an welches Grundgesetz Fischer dabei denkt. Das, das es gibt, hat schon längst vorgesehen, daß im Notstand einige ansonsten gewährte Freiheiten abgeschaltet werden. Eigenartig, daß Gegner der Kernkraft bei der Demokratie immer nur die Notkühlsysteme bemängeln.

2. Wegen durch Strahlenschädigung des Gen-Materials gefährdeten Zukunft des deutschen Volkes - humanistisch ausgedrückt: der kommenden Generation - soll man sich Sorgen machen. Wenn man so vornehm-altruistisch vom Schicksal de gegenwärtigen Generation absieht und Kritik unterhalb des Niveaus menschheitsgeschichtlicher Grundsatzfragen gar nicht erst anmelden will - dann soll man auch ganz gelassen abwarten, was herauskommt, mutationsmäßig. Schließlich gibt es die wissenschaftlich wohlbegründete und ethisch fundierte Meinung, daß die Amöbe es ohne eine gewisse kritische Strahlendosis nie zu genetischen Errungenschaften wie einem Riesenhuber, geschweige denn einem Kiechle gebracht hätte.