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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1986 erschienen.

Systematik

Eine Katastrophe wird politisch ausgeschlachtet
EIN LEHRSTÜCK ÜBER DIE METHODE DEMOKRATISCHER POLITIK

Was ist zu tun, wenn eine radioaktive Wolke das Bundesgebiet verseucht? Die Bundesregierung und die mitregierenden Parteien in Bonn und anderswo haben es gleich gewußt - entgegen allen Gerüchten über angebliche Konzeptionslosigkeit und Durcheinander in den Führungsetagen der Nation.

Sicher, an "Schutzmaßnahmen" ist nicht viel herausgekommen. Aber das liegt nicht an behördlicher Inkompetenz, sondern daran, daß es einen Schutz gegen radioaktive Verseuchung ganzer Landstriche gar nicht gibt; mehr als die bekannten Empfehlungen in Sachen Milch und Spinat ist da kaum drin. Umgekehrt: Wer hat denn schon aus dem radioaktiven Niederschlag der letzten Wochen den Schluß gezogen, daß die obrigkeitlichen Schutzversprechungen wirklich nichts als herrschaftsdienliche Lügen sind? Die zahllosen "verunsicherten Bürger", die die Auskunftstelefone der Behörden mit Anfragen nach dem Erlaubten belagert haben, jedenfalls ganz sicher nicht. Und das ist ein Erfolg der gekonnten Manier, in der die bundesdeutschen Politiker von der ersten Stunde an mit der "schwierigen Lage" umgegangen sind.

Die Regierung

hat sich gleich in die Pose des souveränen Managers aller Folgen geworfen. Dafür hat sie schließlich eine "Strahlenschutzkommission" und einen Staatshaushalt. Den Strahlenschützern ist zwar bloß Unsinn eingefallen; aber der kam immerhin von ganz oben und immer gleich als Vorschrift daher. Alles Gemecker über angebliche Ungereimtheiten hat ihre Zuständigkeit nur bestätigt. Außerdem ist es dem Bauernminister gelungen, den Fall-out zu einem Entschädigungsproblem für Landwirte zu machen, das nahtlos in die beschlossene Wiedergutmachung für die insgesamt gesenkten europäischen Agrarpreise überging. Dafür ist erst recht niemand anders zuständig als die souveränen Herren über den bundesdeutschen Staatsreichtum.

Zwischendurch sind die christlich-liberalen Meister in die Rolle der obersten nationalen Lichtanzünder und Aufschwungsbesorger geschlüpft. Insofern war der Reaktorunfall nämlich wieder Sorge und Auftrag für sie: Eine mannhafte Klarstellung haben sie sich abverlangt, daß es mit der bundesdeutschen Atomstrom- und Kraftwerksindustrie auch in Zukunft weiter aufwärts geht. In dieser "Schicksalsfrage" haben sie souverän jeder "Verunsicherung" vorgebeugt.

Als berufener Anwalt deutschen Rechts ist die Regierung schließlich nach außen aufgetreten. Schon im fernen Tokio hat Kanzler Kohl ohne Zögern herausgefunden, daß im Reaktorunfall auswärts deutsche Zuständigkeiten über die engen Grenzen der Bundesrepublik hinaus begründet seien. Aus der Verseuchung größerer Geländestreifen wurde so ein internationaler "Regelungsbedarf", den natürlich die politischen Veranstalter einer flotten AKW-Industrie in aller Welt unter sich und am besten unter deutscher Obhut auszumachen haben. Kohl hat sich nämlich zuerst als Gastgeber einer "internationalen Konferenz der Atomstromerzeugerstaaten" gemeldet. Das zeichnet ihn als verantwortlichen Weltpolitiker aus ganz gleich, ob so etwas zustandekommt, geschweige denn, was dabei herauskommt. Das Volk wurde in seiner Abteilung "Vertriebene" an diesem schönen deutschen Welterfolg beteiligt: Ausgerechnet den Sudetendeutschen, die bekanntlich mit der CSSR noch eine Grenz-Rechnung offen haben, hat der Kanzler anvertraut, welche Sorgen ihm die Russen machen - sie zahlen nicht für die bundesdeutsche Aufregung und die Extra-Subventionen für den Bauernstand. Noch eine offene Rechnung also.

Die Opposition

hat an der politischen Betreuung der fernen Katastrophe nach Kräften mitgewirkt. Nach dem Bildzeitungs-Motto "Angst verlangt Führung" hat sie gleich ein Idealbild von gelungenem "Krisenmanagement" aufgestellt und den interessanten Vorwurf in Umlauf gesetzt, die Souveränitätspose der Regierung ließe schwer zu wünschen übrig. Jede besorgte Bürgerstimme - und wenn sie von ihren eigenen Ortsvereinen kam - hat sie als Beweis für mangelnde Tatkraft gewertet: Eine anständige Herrschaft läßt Anzeichen möglicher Panik gar nicht erst zu. Den Grünen ist da derselbe Vorwurf eingefallen wie den Reserveführern von der Sozialdemokratie: "Die Behörden reagieren dumm und hilflos." Wo ein Unfall doch schlagend beweist, daß die Obrigkeit dazu da ist, klug und hilfreich zu agieren...

Keine Unklarheit auch in der Frage, wo das Entscheidungsmonopol über Methoden, Unkosten, Preise und Profit bei der Erzeugung des kapitalistischen "Grundstoffs" Energie ist und zu bleiben hat: bei denen natürlich, die schon in der Vergangenheit so vorausschauend waren und AKWs in Auftrag gegeben haben. In diesem konstruktiven Sinne wirft die Opposition den regierenden Atomstrom-Politikern vor, schon zu weit vorausgedacht zu haben und allzu unbekümmert eine Plutoniumwirtschaft zu "riskieren" - so die SPD -, statt das Geschäft mit Alternativen lohnend zu machen und das Volk zu Sparsamkeit anzuhalten - so die Grünen -, als täte die Marktwirtschaft mit ihren saftigen Strompreisen da nicht schon ihr Bestes.

Was schließlich den Übergang zu den weltfriedenspolitischen Großaufträgen an die bundesdeutsche Nation "wg. Tschernobyl" betrifft, so macht den Internationalisten von der Sozialdemokratie kein Kohl etwas vor. Egon Bahr wirft Reaktorunfälle und Atomwaffen gleich in einen Topf und wirbt für den Oppositionseinfall einer Ost und West übergreifenden "Sicherheitspartnerschaft" in beiden Angelegenheiten. Das ist noch besser als Kohls Atomstromkonferenz und macht wieder einmal deutlich, daß SPDler die militärische Wucht der Waffen, um deren Beschaffung sie sich verdient gemacht haben, als unliebsame Nebewirkung dieser Geräte verstanden haben wollen, zu deren solidarischer Bewältigung man den Feind eingeladen haben möchte - der soll die NATO-Bomben nämlich so liebenswürdig auffassen. Das schafft Vertrauen!

Die Demokratie

hat sich also wieder einmal als überlegene Herrschaftsform bewährt. Die Veranstalter der Atommacht BRD präsentieren sich ihrem Volk als die berufenen Schutzherren gegen radioaktive Schädigung, als unangefochtene Entscheidungsträger in Sachen Energiewirtschaft, als zutiefst berechtigte Vormünder über den Rest der Staatenwelt, vor allem der kommunistischen. Nur daran werden sie von ihren opponierenden Konkurrenten gemessen: am Ideal völliger Souveränität im Notstandsfall, in der Wirtschaftsförderung, beim Einmischen in das Herrschaftsgebaren der östlichen Konkurrenz. So befördern beide Seiten eine Katastrophe zu einem Fall für Machtworte und einem schlagenden Beweis dafür, wie recht die faschistische Sehnsucht nach starken Führern hat.