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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1986 erschienen.

Systematik

Eine katastrophale Unsitte
BETROFFENHEIT

Die Zuschauer bei Katastrophen

erwarten zu Unrecht,

daß die Betroffenen daraus lernen

werden. Solange die Masse

das Objekt der Politik ist,

kann sie, was mit ihr geschieht,

nicht als einen Versuch,

sondern nur als ein Schicksal ansehen;

sie lernt so wenig

aus der Katastrophe,

wie das Versuchskarnickel

über Biologie lernt,

(Bertolt Brecht, Anmerkungen zu "Mutter Courage und ihre Kinder")

Schlechte Erfahrungen sind keine Mangelware. Katastrophen freilich sind etwas Besonderes, weil sie zumindest durch das Ausmaß des Schadens, der da über die Leute kommt, ein wenig Abwechslung bieten. Auf der einen Seite beeindrucken sie die Gemüter, weil ganz viele Leute plötzlich erheblichen Schaden erleiden, ohne was dafür zu können, und ziemlich wehrlos hinnehmen müssen, was ihnen eine Laune der Natur oder eine höhere Macht einbrockt. Andererseits bieten sie, sobald der erste Schrecken und das Gröbste vorbei sind, eine prima Gelegenheit, die Losung in Umlauf zu bringen, jetzt gelte es zu lernen. Das klingt ganz gut, weil es wie die vernünftige Aufforderung daherkommt, vom Standpunkt der Ohnmacht Abschied zu nehmen. In gewissen Fällen wie Krieg und GAU dementiert die Ermunterung dazu, aus dem erlittenen Schaden klug zu werden, ein wenig das Gerücht, niemand hätte was dafür gekonnt und keiner etwas merken können.

Der GAU von Tschernobyl ist so eine Katastrophe. Was er vor Ort, in der Ukraine, in Polen anrichtet, reicht sicher ein paar Jährchen für Stoff, aus dem das Journalistenhandwerk seine Ware strickt. Die Opfer und Zeugen des Schadens drüben tun gut daran, sich ihren Reim auf die Sache zu machen. Und zwar einen, der die Lesart der Urheber nicht gelten läßt.

Der GAU von Tschernobyl hat einen Hauch von Katastrophe auch in die deutsche Landschaft geweht. Der zwar vergleichsweise geringe, aber vorhandene Schaden hat seine ersten "Wirkungen" schon getan. Viele Leute haben sich einen Reim darauf gemacht - und sich katastrophenmäßig bewährt, daß es einen graust. Sie haben ein Kapitel politische Psychologie durchexerziert, das für den Ernstfall wieder einmal das Schlimmste befürchten läßt: Dieser Menschenschlag dürfte nach einem hausgemachten "Unglück" seinen Nachkommen haargenau dasselbe erzählen wie die letzte Kriegsgeneration ihren staunenden Kindern: "Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, was wir alles mitgemacht haben." Und diese Botschaft will vom Mitmachen so künden, daß kein Zuhörer an "Beteiligung" denkt; noch nicht einmal die naheliegende Deutung "Sich-gefallen-lassen" soll man erfassen. Nein, ausschließlich die deutsche Bedeutung des "erlebt und erlitten" soll man sich vorstellen und würdigen.

Unsere Vorhersage, für deren praktische Widerlegung wir durchaus noch einiges unternehmen, stützt sich vorläufig auf Beobachtungen, die wir vor, während und nach der Strahlenwolke nicht vermeiden konnten. Politische Psychologie pflegt nämlich öffentlich abgewickelt zu werden. Ihre Techniken taugen für jeden Inhalt; bei laufenden oder drohenden Katastrophen erzeugen sie ein ansehnliches Volksgemurmel.

"Betroffen"

Auch so ein Wort unserer schönen Sprache, mit dem wir Deutsche wahre Kunststücke vollbringen. Wir geben uns da nicht mit der Vorstellung zufrieden, daß einer betroffen ist, wenn es ihn erwischt hat. Bloß die Schädigung zu bezeichnen, die an einem vollzogen wurde, finden wir matt. Da legen wir schon etwas mehr hinein - das Passivum und die Vergangenheit sollen zu ihrem Recht kommen. Es ist passiert, wir sind die Leidtragenden und stehen schön blöd da. Das ist unsere Eigenschaft, wenn wir "betroffen" sind und uns klagend wundern. Was das Spiel mit dieser Bedeutung des Wortes in politischen Diskussionen zu suchen hat, weiß ein jeder: Wer sich als Opfer präsentiert, dem gebührt Rede- und Klagerecht. Wenn sich alle Betroffenen versammeln, dann bleibt kein Auge trocken. Denn ein anständiger Deutscher kritisiert nicht einfach, sondern nur vom Standpunkt des Opfers. Die enttäuschte Unschuld, das zur Schau gestellte Gefühl, garantiert ganz passiv herumzustehen und für die erlittenen Wunden selbst gar nichts zu können, kommt zu Wort, wenn in der deutschen Szene "Betroffene" aller Art aktiv werden. Da geht's rund und es macht gar nichts, wenn sich die "Kritik" darin erschöpft, daß Belege dafür gesammelt werden, wie betroffen man/frau ist. Vorgeführte Angst, die Demonstration des Selbstbewußtseins, das keinen anderen Inhalt hat als "Ich = Leidtragender", ist nämlich keine Kritik und auch nicht der Auftakt zu ihr. Dergleichen Veranstaltungen reduzieren sich auf den albernen Beweis, daß einem das Recht auf Gehör zustehe. Mit dem posierenden Gefühl des Übergangenwerdens treten erwachsene Menschen an, nur um zu zeigen, daß sie nichts Unanständiges wollen und kreuzbrav um Berücksichtigung bitten, die sie sich durch ihre Betroffenheit verdient haben. Bei wem, ist nicht schwer zu erraten. Bei den

Betreffenden

Das sind zwar die, die für die erfolgte Schädigung (des Wortes erste Bedeutung) zuständig sind. Aber das hindert sie keineswegs daran, auch noch für die Betreuung derer Verantwortung zu tragen, die darum betteln. Für "Betroffene" haben sie allemal Verständnis, ihre Vertretung läßt sich prima versprechen und abwickeln, denn solche Untertanen ermächtigen jeden, der ihre "Betroffenheit" honoriert. Sie stellen Fragen des Kalibers "Wieviel Milch und Spinat darf ich zu mir nehmen?", kriegen den erbetenen Rat - und das Vertrauensverhältnis ist wieder hergestellt, weil es nie gestört war. Eine "Betroffenenbewegung" hat eben nichts mit Widerstand zu tun. Sie ist als Stimmvieh bestens bedient.