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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1986 erschienen.

Systematik

Das Letzte von der ideologischen Front
DIE INTERNATIONALE ERKÄMPFT DAS MENSCHENRECHT

Neulich in Reykjavik bzw. danach ist ein Zufall passiert. Die USA und die Sowjetunion waren sich in ihren nachträglichen Berichten über das große Ereignis auf der Insel in einem Punkt einig. Bezeugt ist diese Einigkeit in den Reden der Staatsführer an ihre Völker. Die durchaus seltene Übereinstimmung bestand in der Mitteilung, daß die beiden anwesenden Regierungschefs und Delegationen genau das nicht behandeln wollten, was der jeweils anderen Seite so merkwürdig wichtig gewesen ist.

Die russische Version: "Während wir über die Abschaffung von Raketen und Atombomben verhandelt haben und das Motto 'Frieden durch Abrüstung' für selbstverständlich erachteten, sind dem Präsidenten der USA immerzu die Menschenrechte eingefallen."

Die amerikanische Version: "Wir hätten gerne unseren russischen Gesprächspartnern einiges über die Menschenrechte erzählt, weil sie die ja gar nicht kennen und nicht haben - und da kommen die, mir nichts, dir nichts, mit einem Vertragsentwurf über Abrüstung daher.

Wegen dieser Einigkeit in der grundsätzlichen Berteilung des historischen Treffens ist es auf demselben nicht zu einer Einigung gekommen. An den Raketen kann das nicht gelegen haben, weil die haben ja beide, so daß man sich über eine kleine Wegwerfaktion leicht hätte verständigen können. Der Haken lag wieder einmal bei den Menschenrechten. Denn die haben die Amis, wollen sich von diesem Besitzstand nicht trennen und dann doch die Russen zu Mitinhabern dieses kostbaren Guts machen. Ähnlich wie bei SDI. Daran liegt ihnen so viel, daß sie bei der Abrüstung so lange bremsen wollen bis die Russen sich auch solche Menschenrechte zulegen. Dann begnügen sich die Amerikaner mit SDI.

Von der Herstellung und Anwendung einer ideologischen Offensivwaffe

Der amerikanische Präsident ist ein aufrichtiger Mann. Er denkt zwar nicht viel, was er aber denkt, das sagt er:

"Aber ich machte auch deutlich, daß eine Verbesserung der Menschenrechte innerhalb der So wjetunion für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unabdingbar ist. Denn einer Regierung, die ihrem eigenen Volk gegenüber nicht Wort hält, kann man auch nicht abnehmen, daß sie einem anderen Staat gegenüber Wort hält."

An anderer Stelle haben Reagan und die Seinen, kundige Teilnehmer wie Beobachter der Schicksalsbegegnung von Island, glaubwürdig versichert, die Sache wäre an SDI gescheitert. Demgegenüber nimmt sich die Version mit den Menschenrechten einigermaßen befremdlich aus. Nicht die Russen haben ihre Abrüstungsvorschläge an die Bedingung geknüpft, daß die Amis SDI bleiben lassen; vielmehr haben die Amerikaner ihren Abrüstungswillen unter den Vorbehalt gestellt, daß die Russen eine Menschenrechtsinitiative anzetteln. Das gibt zu denken. Entweder stimmt eine Version für die Begründung der Absage nicht - oder beide Versionen sind dasselbe. Anhänger der westlichen Glaubwürdigkeit können wir beruhigen: Ihr Führer hat sich nicht widersprochen.

1. Auf so läppische Vergehen gegen den internationalen Knigge wie "Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates" läßt sich der Präsident der Weltmacht Nr. 1 gar nicht erst ein. Er erklärt es für "unabdingbar", daß die Sowjetunion die bei ihr gültige Geschäfts- und Gemeindeordnung ändert, andernfalls komme es überhaupt nicht in die Tüte, daß sich die USA dazu herbeilassen, den Russen eine "Verbesserung von Beziehungen" zuzugestehen. Und das mitten in einem Termin, auf dem sich die Russen vertragsmäßig mit der anderen Weltmacht auf den Abbau der Waffenarsenale einigen wollten. Wohlgemerkt, der Präsident hat keinen Systemvergleich der Art angestellt, daß er die Vorzüge des Wirtschaftens in Ost und West gegen die Nachteile des Wohnens in beiden Herrschaftsgebieten abgewogen hat. Außer den unbegrenzten Reisemöglichkeiten der Neger in Harlem, der Arbeitslosen in Detroit, der vom Weizenexport ruinierten Farmer sowie der Prostituierten in Politik, Kultur und anderen Puffs wäre ihm sicher kaum ein Beispiel eingefallen für das, was er meint. Ach ja, noch ein paar Staatsgegner im Osten, deren Namen er nicht aussprechen kann, die er auch gar nicht kennt, andererseits aber durch die Russen viel kulanter behandelt sehen möchte als die paar aufmüpfigen Menschen, die von Amerikas Justiz und Polizei niedergemacht werden.

Der Präsident hat einen entschiedenen Systemvergleich vorgelegt und ganz bescheiden vermerkt, daß er mit solchen Leuten keinen Vertrag nicht abschließt. Er hält sie nämlich nicht für vertragswürdig, rät ihnen ganz locker, sich zum Guten zu ändern, und verspricht nur eines: daß er sie auch nach dieser Absage stets kritisch prüfen wird.

2. Mit seinem Geschäftsordnungsänderungsantrag bezüglich der Verkehrsformen in den Sowjetrepubliken hat sich der US-Präsident ganz nebenbei des Volkes angenommen, das in der Sowjetunion unter der Knute der neuen Zaren darbt. Was die gewöhnlichen Russen so tun und lassen, wonach ihnen auch ihr politischer Sinn steht, war für ihn nicht der Rede wert. Fest steht für diesen Staatsanwalt der Freiheit, daß er ein Adoptivrecht in der Tasche hat, daß es ihm gebührt, außer ein paar hundert Millionen Amis noch ein paar hundert Millionen Russen zu coachen. An dieser Stelle sei vor Nachahmung gewarnt. Wenn ein x-beliebiger Privatmann, außer Jesus natürlich, behauptet, r sei so etwas wie der Wille, der Weg und die Wahrheit von Millionen auswärtiger Ausländer, so blamiert sich der. Es gilt sich schon an den höchsten Repräsentanten einer Macht zu halten, wenn die Fürsorge für fremde Völkerscharen glaubwürdig aussehen soll. Das tut sie bei Ronald Reagan allemal, weil er dank seiner Mittel tatsächlich befugt ist, den maßgeblichen Russen zu- oder abzusagen. Wenn Leute, die zum Material dieses großen Mannes zählen, beschließen, mit ihrem Vorstand den Russen kräftig einzuheizen, dann sollten sie eines bedenken: Sie werden dabei auch verheizt.

Jedenfalls hat Ronald zu Protokoll gegeben, daß er es mit keinem Russen tut, es sei denn, der ganze Laden da drüben läßt sich auf eine kleine Amerikanisierung ein. Vom Standpunkt der Russen, und nicht einmal bloß der führenden, sieht die Sache natürlich etwas anders aus. Wer sucht sich schon gern einen neuen Herrn aus, wenn er noch nicht einmal gegen den alten übermäßig viel einzuwenden hat? Ein noch größeres Wunder wäre es, wenn ein von Parteiversammlungen und ihrem lästigen Hin und Her endloser Selbstkritiken frustrierter Russe Sehnsucht danach bekäme, auf einer Wahlveranstaltung der Republikaner 'Hi Nancy' zu brüllen, bis er heiser ist.

3. Ron, wie ihn auch sein Freund Helmut aus Bonn nennt, hat sogar noch ein zusätzliches Argument für sein prinzipielles Mißtrauen auf Lager. Er behauptet nicht nur, daß sich die Russen ändern müßten, um ihm als geschäftsfähiger Partner gegenübertreten zu können. Er versteigt sich zu dem Hinweis darauf, daß die Russen vom Kreml sich sogar schon einmal per Unterschrift darauf verpflichtet hätten, daheim nach dem Bilde des Westens alles umzukrempeln. Er setzt die Lüge in die Welt, daß sintemalen in Helsinki Breschnew und die Seinen am Scheideweg zwischen Freiheit und Sozialismus in Richtung Dollar abbiegen wollten, dies ihrem Volk hoch und heilig versprochen haben - und jetzt immer noch wortbrüchig geblieben sind.

Immerhin ein schöner Vorwand für abgrundtiefes Mißtrauen. So daß, schon gleich in der heiklen Frage der Waffen, die Herstellung von Vertrauen ganz in den Aufgabenbereich dieser wortbrüchigen Menschenrechtsverletzer fällt. Das sitzt. Wenn die Russen abrüsten wollen, pari pari mit den Amerikanern, so geht das nicht, weil sie noch kein Vertrauen erworben haben. Und wo? In der Frage der Systemveränderung, die sie bei sich zu Hause so zögerlich angehen. Was tut da not? Druck, und zwar von seiten derer, die im Falle eines leichtfertigen Abrüstens den ewigen Bestand des menschenrechtswidrigen Systems garantieren täten. Also: SDI ist eine Frage der Menschenrechte, und die Menschenrechte sind eine kategorische Feindschaftserklärung. Dergleichen als erfüllbare Bedingung für eventuellen Zuspruch in Raketenfragen zu präsentieren, ja gar als ein weites Feld für Verhandlungen aufzutischen - das ist ein Verfahren von Erpressern. Von Leuten also, die ihr Interesse als Gemeinsamkeit fingieren, weil sie sich der Überlegenheit ihrer Mittel sicher sind. Das Interesse an den Menschenrechten ist der ebenso heuchlerische wie offensive Antrag, dessen Unerfüllbarkeit den defensiven, aber unwidersprechlichen Einsatz von SDI nach sich zieht. Gegen Leute, die sich nicht fügen, muß man sich eben verteidigen. Denn auf die vertrauensbildenden Maßnahmen, die die Russen da bringen sollen, ist keiner im Pentagon gefaßt. Selbst im Verkehr zwischen feindlichen Nationen ist es nicht üblich, Vertrauen dadurch zu stiften, daß man nachgibt. Worin läge dann der Nutzen des erworbenen Vertrauens: Das verstehen sogar US-Politiker. Sie akzeptieren ja sowieso keinen Vertrauensbeweis, sie halten sich lieber an Fakten bzw. an ihre "Versicherungspolice" namens SDI. Und natürlich an die Menschenrechte, die in Wien jetzt wieder verhandelt werden, obwohl es sie doch gar nicht gibt.

Eine menschenrechtliche Verteidigungsinitiative...

Die Sowjetunion hat die Taktik begriffen, sie kennt sie als Mittel zur Demütigung, als Forderung nach irgendwelchen Schtscharanskis als Vorbedingung für andere Verträge ja zur Genüge. In Reykjavik hat Gorbatschow schon versucht, sein Gegenüber davon abzubringen, "die ideologischen Unterschiede mit der Frage der Einstellung des Wettrüstens in Verbindung zu bringen".

Die "Prawda" kommentiert die Menschenrechtswaffe der westlichen KSZE-Position:

"Soll das etwa keine Orientierung auf die Konfrontation sein, kein Bestreben, das Treffen zu einer Arena des Streits und gegenseitiger Beschuldigungen zu machen?! Wird mit diesem Manöver nicht bezweckt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den fortgesetzten Aktionen der USA und der NATO zum Anheizen der Kriegsgefahr in Europa abzulenken? Und werden nicht deshalb hierher, nach Wien, offensichtlich aufKommando von Übersee, die 'Kämpfer' aller möglichen Zentren der politischen Diversion zusammengetrieben, die von der CIA ausgehalten werden." (4.11.)

Die sowjetische Führung hat sich nun aber auch eine Gegenoffensive überlegt, und die besteht ausgerechnet darin, ihrerseits die Menschenrechtsfrage aufzumachen: Sie soll nicht länger als Hebel dienen, die Sowjetunion vor aller Welt anzuschwärzen und vor allem von den entscheidenden Fragen "abzulenken". So stellt sich diese Tour des Westens, seine Kompromißlosigkeit zu Protokoll zu geben, in der sowjetischen Sichtweise dar. Ein Sprecher der sowjetischen KSZE-Delegation hat angekündigt,

"für die UdSSR werde es keine verbotenen Themen geben. Gleichzeitig stellte er im humanitären Bereich neue sowjetische Initiativen in Aussicht." (Süddeutsche Zeitung, 31.10.)

Eine etwas groteske Veranstaltung: Die Sowjetunion schlägt dem Feind das Streben nach menschenfreundlicher Herrschaft unter solidarischer Kritik als neue Gemeinschaftsaufgabe vor! Um die durchaus als Taktik begriffenen ewigen Menschenrechtsanklagen als Vorwand gegenüber ihren substantiellen Anliegen zu entkräften, will sie sich allen Ernstes auf den Beweis einlassen, daß sie sich in dieser Frage nichts vorzuwerfen hat, bzw. ihre Probleme offen und ehrlich diskutiert, daß umgekehrt der Westen ehrlicherweise zugeben soll, daß er in dieser Hinsicht auch nicht ganz sauber ist. Das ist ein Konter, der notwendigerweise mehr von Umarmungstaktik als Angriff in sich hat.

Zu dieser Strategie gehört als erstes das Bekenntnis, daß die Sowjetunion sich der KSZE-Akte zutiefst verpflichtet weiß:

"Die Sowjetunion mißt dem in der Schlußakte fixierten Grundsatz Sieben über die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit, höchste Bedeutung bei." (Rede Eduard Schewardnadses auf dem KSZE-Folgetreffen, 5.10.)

Ein Bekenntnis dazu, daß die heutige Sowjetunion die paar richtigen Einsichten ihrer Staatsgründer längst über Bord geworfen hat, nämlich die, daß ein Sozialismus auf richtige Gedanken angewiesen ist und die bürgerliche Freiheit, sich mit jedem Unsinn als weltanschaulicher Deutung der eigenen Lebensumstände einzurichten, nicht gebrauchen kann und daß die Religion, eben eine solche Unterwerfungsmoral, bekämpft gehört. Statt dessen hat man gerade wegen der moralischen Leistungen die Brauchbarkeit auch der anderen Weltanschauungen entdeckt. Insofern kostet einen heutigen Sowjetpolitiker ein derartiges Bekenntnis gar nichts; es nützt ihm aber auch nichts. Solange wie er und seinesgleichen ihre materialistische Weltanschauung als Staatsdoktrin betrachten und die sonstigen "nur" tolerieren, also nicht gleich jede Sekte auf Händen tragen, massenhaft Bibeln drucken und Kirchen bauen, sondern auf dem Standpunkt stehen, daß sich die Gläubigen selber darum kümmern sollten, solange herrscht nach westlicher Auffassung eben "religiöse Unterdrückung" in der Sowjetunion.

Das "Reich des Bösen" schlägt zurück

Umgekehrt möchte die Sowjetunion klarstellen, daß die Menschenrechtsfrage dem Westen auf die eigenen Füße fällt. Deshalb schenkt man sich die lange - wegen der zu eindeutig antikommunistisch brauchbaren Passagen gehegten Bedenken gegen die UNO-Menschenrechtskonvention, um sich auf die heftig berufen und die schon immer favorisierten "materialen" Menschenrechte zitieren zu können:

"Dieser einzigartige und universelle Kodex bestimmt die Verhaltensnorm der Staaten bei der Gewährleistung der grundlegenden Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Arbeit, Wohnraum, Erholung, unentgeltliche Ausbildung, medizinische und soziale Betreuung, der Heranführung an das kulturelle Leben sowie die Teilnahme am wissenschaftlichen Fortschritten und der Nutzung seiner Ergebnisse. Wir sind zutiefst beunruhigt darüber, daß diese Dokumente von einigen Staaten ignoriert werden, vor allem von den USA, in denen Verletzungen der Menschenrechte an der Tagesordnung sind und Massencharakter haben."

Wo Schewardnadse Recht hat, hat er Recht. Wer wollte es bezweifeln, daß die US-Regierung - die europäischen übrigens genauso keineswegs alle ihre Bürger mit Arbeit, Wohnraum, Erholung, Ausbildung und auch noch Kultur versorgt. Bloß: Eben das hat noch keine US-Regierung, seit es eine solche gibt, jemals beabsichtigt. Es mag ja den sowjetischen Staatsmachern wie russischen Normalbürgern, gemessen an ihrem realsozialistischen Volksversorgungsprogramm, wie eine einzige staatliche Pflichtvergessenheit vorkommen; sie mögen erschrocken sein über das Maß an Verwahrlosung, Armut und Unterernährung, das sich die "reichen" Demokratien ganz unbekümmert leisten. Aber die Demokratien setzen ihr Volk nun eben einmal den Gesetzmäßigkeiten der Konkurrenz aus, um sich die reklamierten Güter zu beschaffen, und befassen sich selbst damit nur soweit, wie die Brauchbarkeit ihrer Arbeiterklasse für die nationale Reichtumsproduktion gewisse Hilfestellungen notwendig macht. Das als Versagen gegenüber Menschenrechten anzuprangern, führt immer nur zu der Sorte "Kritik", die den Demokratien ein Volksbeglückungsprogramm als "eigentliche" Absicht zugutehält, anstatt deren wirkliche Vorhaben anzugreifen. Zum Aufhetzen irgendeines westlichen Staatsbürgers taugt das Verfahren wenig, auch wenn die sowjetische Seite da einige Skepsis stiften möchte. Aber für den erwünschten diplomatischen Effekt taugt es genausowenig. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Unterernährung sind für demokratische Politiker "Lebensrisiken", selbstverständliche Begleiterscheinungen einer durchschlagend erfolgreichen ökonomischen Basis ihrer Macht. Daraus lassen sie sich keinen menschenrechtlichen Vorwurf machen; denn zu mehr als dazu, mehr oder weniger nützliches Mitglied einer starken Nation zu sein, "berechtigen" ihre Menschenrechte ohnehin nicht. Und was die Ideale menschenfreundlicher Herrschaft betrifft, wissen sie gut zu unterscheiden zwischen den national bedeutsamen Zielen ihrer Herrschaft, deren Techniken und deren wohlklingenden demokratischen Titeln.

Gibt es ein Menschenrecht auf Subversion?

Die dritte Abteilung der sowjetischen Menschenrechtsoffensive besteht darin, vorzuzeigen, was sie ihren Bürgern alles an Rechten zukommen läßt.

"Der XXVII. Parteitag der KPdSU hat die weitere Demokratisierung in all ihren Formen als eine Hauptaufgabe verkündet. Und wir sind dabei, diese Aufgabe zu lösen. Die Stärke jeder Gesellschaft liegt in ihrer Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung. Die Stärke der sozialistischen Gesellschaftsordnung läßt diese Fähigkeit breit zutage kommen."

Den Genscher-Diplomaten erläutern, wie penibel die Rechte eines Sowjetbürgers auf Vorbringen, Anhören und Berücksichtigung von Beschwerden geregelt sind, damit kann man denen bestenfalls auf die Nerven gehen, wohl kaum aber das Menschenrechtsargument aus den Händen schlagen. Weil es nun einmal ganz anders gemeint ist.

Viertens schließlich will die Sowjetunion auch noch guten Willen beweisen, Probleme "zugeben" und "regeln", mit denen sie immerzu belästigt wird.

"In letzter Zeit werden in unserem Land bedeutende gesetzgeberische und administrative Maßnahmen getroffen, um die internationalen Kontakte weiter zu entwickeln und Fragen der Familienzusammenführung und der Schließung von Mischehen in humanitärem Geiste zu lösen..."

Die Bestimmungen über Auswanderung sind jetzt im Amtsblatt der sowjetischen Regierung veröffentlicht und dahingehend erweitert worden, daß Entscheidungsfristen festgelegt worden sind und die Gründe für eine Ablehnung mitgeteilt werden müssen. Betont rechtsstaatlich werden die Kriterien zur Ablehnung aufgezählt: Tragen von Staatsgeheimnissen, anhängige Strafverfahren bzw. Strafen, nicht-erledigte Schulden, frühere Devisen- oder Zollvergehen im Ausland usw. Als erlaubte Auswanderungsgründe wiederum werden - betont prinzipientreu - strikt private genannt: Familienangelegenheiten, Heirat usf. 'Systemgegnerschaft' als rechtlich anerkannten Auswanderungsgrund schreibt sich die Sowjetunion natürlich genausowenig in ihr Recht, wie der Westen derlei menschenrechtlich kodifiziert. Da ist die freie Meinung und Versammlung ja auch immer sofort zu Ende, sobald sie mit der Erlaubnis zu Kritik verwechselt wird; und die freie Berufswahl kann von Haus aus keiner mit einer gesicherten Beschäftigung seiner Wahl verwechseln.

Ungefähr das Gegenteil davon wird aber immerzu von der Sowjetunion verlangt: volle Rechte für die Subversionsarbeit von Systemgegnern. Insofern wird auch das versprochene Entgegenkommen der Sowjetunion, die wohlwollende Behandlung von "Mischehen" und die Bemühung um "den Austausch von Informationen und geistigen Werten, die dem Humanismus dienen", garantiert als lachhaft abgebucht, um weiter auf Juden und Wolgadeutschen herumzuhacken.

Dieses bornierte Programm verbietet ganz nebenbei das bloße Aufkommen von kleinen praktischen Fragen. Zum Beispiel die an den Freien Westen, was er - außer der Gelegenheit zu freier antisowjetischer Betätigung diesen Völkerschaften eigentlich zu bieten hat. Wieso die Aussicht, in Israel an der Front oder als anderweitig eingesetztes Staatsmaterial verheizt zu werden, soviel "humaner" ist als ein sowjetisches Werktätigenleben mit den dazugehörigen bescheidenen Reproduktionsgarantien. Warum der Abstieg in die westdeutsche Arbeiterklasse oder gleich ins Lumpenproletariat ein Segen sein soll, verglichen mit dem gemächlichen Kolchosleben wolgadeutscher Bauern?

Diese Sorte Angriff fällt den sowjetischen Menschenrechtskämpfern natürlich nicht ein. Sie wäre schließlich auch hochgradig undiplomatisch. Statt dessen wollen sie lieber mit ihrer Verwechslung von Sozialleistungen und Menschenrechten um das Gütesiegel einer vorbildlichen Herrschaft konkurrieren und die nächste KSZE-Menschenrechtskonferenz gleich demonstrativ nach Moskau holen. Eine Idee, die der Westen gar nicht so schlecht findet. Genscher:

"Als Bedingung für die Konferenz in Moskau muß ein absnlut freier Zugang nicht nur für die Medien, sondern auch für andere Interessierte gewährleistet sein." (Süddeutsche Zeitung, 12.11.)

Als Gelegenheit für die Inszenierung von ein paar blamablen Freiheitsbeschränkungen für westliche Privathetzer wird sich das unter Einsatz von CIA und Westfernsehen schon ausnützen lassen.

Der Ost-West-Gegensatz - ein philosophischer Disput?

Auch da haben die Sowjetbehörden ihre einschlägigen Erfahrungen, aber das scheint sie nicht abzuschrecken. Warum ihnen jetzt diese Nebenfront so sehr am Herzen liegt, erklärt der Außenminister ausgerechnet mit einem Ausflug in die Philosophie bzw., was er dafür hält:

"Doch, wie es heißt, nicht vom Brot allein lebt der Mensch. Seit Plato oder vielleicht schon seit früheren Zeiten wird darüber gestritten, welche Gesellschaftsordnung den Bedürfnissen des Menschen entspricht und dessen Freiheit gewährleistet.

Jahrtausendelang wurde versucht, diesen Streit mit Waffengewalt zu lösen, aber auch heute wird der philosophischen Auseinandersetzung mit militärischen Mitteln 'Nachdruck' verliehen. Die Sowjetunion hat den Frieden zum höchsten Wert des Sozialismus erklärt und lehnt die militärische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Ideen und Konzeptionen ab.

Alle Auseinandersetzungen über Vor- und Nachteile dieser oder jener Gesellschaftsordnung können und sollen im friedlichen Wettbewerb der sozialpolitischen und wirtschaftlichen Systeme gelöst werden."

Ausgerechnet der Vertreter eines Staates, den es nur deshalb gibt, weil Arbeiter und Bauern wegen ihrer materiellen Interessen die Frage der "Gesellschaftsordnung" aufgemacht und in einer Revolution durchgesetzt haben, der sich in seiner Verfassung dazu verpflichtet, die Gesellschaftsordnung als Planwirtschaft ganz für die materiellen Bedürfnisse der Massen einzurichten, ausgerechnet der trennt die Frage, von was man lebt, einfach mal ab von der "Gesellschaftsordnung". Da soll es sich auf einmal um Philosophie handeln und dabei sollen sehr viel Meinungsunterschiede erlaubt sein. So äußert sich der "aggressive Kommunismus", ein Vertreter der "Weltrevolution".

Der Gegensatz von Klassen, der Gegensatz von revolutionierten Gesellschaften zu kapitalistischen Staaten hat sich aufgrund des Bedürfnisses nach friedlicher Koexistenz in eine Konkurrenz von Ideen verflüchtigt. Und unter der aktualisierten und mit den wuchtigsten Mitteln ausgestatteten Bedrohung durch die imperialistischen Demokratien erklären die Sowjetvertreter, daß sie für den Systemgegensatz keinen einzigen zwingenden Grund entdecken können, daß der Westen doch seine Vorurteile ihnen gegenüber korrigieren sollte, daß sie dafür für alle weltanschaulichen Debatten gerne zu haben sind, allerdings meinen, daß man wegen solcher Differenzen nicht gleich einen Weltkrieg vom Zaun brechen sollte. Der Westen hat aber einen Grund und zwar einen sehr materiellen, der steht auch in den ML-Lehrbüchern, nur kommt er den heutigen sozialistischen Führern ganz unglaubhaft vor.