Info

Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1986 erschienen.

Systematik

Das Ergebnis von Reykjavik
TOTRÜSTEN UND ABRÜSTEN SIND DOCH NICHT ZU VERWECHSELN

Wäre die Gutgläubigkeit moderner Staatsbürger nicht so unerschütterlich, die Wendungen der Gipfelpropaganda hätten jeden Normalverstand enorm strapaziert. Im Vorfeld wurden Hoffnungen gepflegt, Vertrauen in die Führung, die, wenn sie sich höchstpersönlich den obersten Russen vornimmt, schon alles richtig deichseln wird. Dann wieder wurde etwas gedämpft, denn auch die größten Führer können nicht alle Probleme auf einmal lösen. Dann stiegen die Hoffnungen während des Gipfels sprunghaft an: Gewaltige Abrüstungsfortschritte seien in Gang. Dann, kaum war der Gipfel beendet, kaum war gemeldet, daß fast unterschriftsreif ausgearbeitete Verträge vorgelegen hatten und keine Vereinbarung, null Resultat zustandegekommen war, kaum hatte das Publikum Gelegenheit gehabt, sich über Meldungen von einem Scheitern zu beunruhigen - schon sollte wieder gar nichts gewesen sein. Eine Kette von Dementis: Nein, der Gipfel war ein Erfolg, es geht weiter, es ist nichts kaputt in der glorreichen Welt der Rüstungsdiplomatie...

Was war eigentlich gewesen? Warum meinten die Genschers, unbedingt alle Welt mit der Botschaft versorgen zu müssen: "Die Tür ist nicht zu"?!

Wenn sich die politischen Interpreten über ihre sonst üblichen, interessiert eingefärbten Kommentare zu hundertprozentigen Lügen gesteigert haben, dann wollten sie das Ergebnis von Reykjavik vertuschen, das sich die obersten Repräsentanten der beiden Weltmächte dort bestätigt haben: Ihre Interessen lassen keinerlei Einigung zu. Damit steht der Schein der Rüstungsdiplomatie auf dem Spiel, das über Jahre hinweg gepflegte vertrauenstiftende Lügengebäude, daß das Reden über Rüstung immer so etwas wie Friedenssicherung.

Gespräche über Waffen sichern den Frieden - die unverschämteste Lüge der Rüstungspolitik

Ausgerechnet dem Material, das sich die beiden Weltmächte wegen ihres unversöhnlichen Gegensatzes angeschafft haben, ausgerechnet der gewaltigsten Kriegsmaschinerie aller Zeiten soll man die tröstliche Botschaft abgewinnen, der Gegensatz sei gar keiner. Allein wegen der Verlaufsform der Diplomatie, daß sich getroffen und miteinander verhandelt wird, soll man glauben, daß ein beiderseitiges positives Interesse daran besteht, den Gegensatz nicht auszutragen. Und dessen Mitteln, den Waffen, werden dann lauter erfundene Funktionen zugesprochen: von der Kriegsverhinderung bis zum potentiellen Schrotthaufen. Bloß um den Einsatz der Waffen und dessen Planung, um Krieg und Kriegsvorbereitung, soll es nie und nimmer gehen.

Dabei ist der Erfolg der Rüstungskontrollverhandlungen unübersehbar. Die zahlreichen Gesprächsrunden haben nicht das Geringste dafür erbracht, daß sich der Gegensatz der beiden Blöcke in irgendeiner Hinsicht hätte beilegen lassen; noch haben sie zu irgendeiner Begrenzung oder gar Verminderung der Waffen getaugt, im Gegenteil. Derlei kann also auch nicht der Zweck dieser merkwürdigen Sorte Diplomatie sein.

Der sowjetische Einbruch in die heile Welt der Atomwaffen

Nicht zufällig sind sowohl die Angst vor einem Atomkrieg als auch die Rüstungskontrollverhandlungen und das beruhigende Gerücht, sie seien ein Mittel zur Friedenssicherung, aus ein und demselbe Grund in die Welt gekommen.

Solange wie die USA ein Monopol in dieser Waffengattung besaßen, diskutierten die Fachleute aus Politik und Militär unverhohlen die Vor- und Nachteile und Bedingungen ihres Einsatzes. Erst nachdem die Sowjetunion sich Zugang zu dieser Waffentechnologie verschafft und die amerikanische Nation mit der Möglichkeit eines atomaren Schlages schockiert hatte, kam überhaupt erst die friedensliebende Besorgnis um das Schicksal der Welt, der Menschheit usw. auf. Nationalisten fürchten sich eben nie vor den Waffen, die ihre Führung kommandiert. Wenn aber der Feind ähnliches aufbieten kann und die Aussicht auf einen glatten Sieg verdirbt, dann entsteht Kriegsangst.

Die seitdem aufgekommenen Vorstellungen der atomaren Apokalypse, des widersinnigen Rüstungswettlaufs usw. sind dabei nichts anderes als die volkstümlich vereinfachte Fassung eines Problems, das die NATO-Strategen beschäftigt, seitdem auch die Sowjetunion über Atomraketen verfügt. Es galt nunmehr, den Einsatz des eigenen Pntentials unter dem Gesichtspunkt durchzukalkulieren, daß die Sowjetuninn zu einem atomaren Schlag gegen das Territorium der westlichen Führungsnation, also auch zur Vernichtung zumindest von Teilen von deren Atommacht fähig war. Und es wurde wegen der unmittelbar schlagfertigen Präsenz dieser Waffe leider notwendig, mit dem Gegner ins Gespräch zu kommen, um sich Gewißheit darüber zu verschaffen, wie und unter welchen Bedingungen er den Einsatz in Betracht ziehen würde.

Dieses Ärgernis, diese Einschränkung westlicher Machtvollknmmenheit bildete den Ausgangspunkt der friedensliebenden Rüstungsdiplomatie. Und einer ihrer ersten und langlebigsten Erfolge besteht bezeichnenderweise in der Einrichtung des roten Telefons: Wenn zwei Weltmächte ihre Flugzeuge, U-Boote und Spionageapparate rund um die Welt in ständiger Bewegung halten und wenn sich ihre Interessen in so gut wie jedem Konflikt in dritten Ländern in die Quere kommen, sind Kollisionen unvermeidlich. Gerade deshalb kommt es darauf an, sich schleunigst darüber zu vergewissern, wie diese Zusammenstöße zu verstehen sind: als Panne, als Auftakt zu... oder als Konflikt unterhalb der Grenze, ab der sich die Weltmächte unmittelbar selbst angegriffen fühlen müssen. Wenn ein sowjetisches U-Boot vor der amerikanischen Küste Feuer fängt, gibt es nichts Dringlicheres als die an die zuständigen US-Instanzen abgegebene Versicherung, daß das Feuer ein Feuer ist und keine gegen die USA gerichtete feindselige Absicht. Diese Notwendigkeit, sich gegen eine aus Mißverständnissen entstehende Eskalation zu versichern, charakterisiert sehr deutlich den Zustand namens Weltfrieden. So prekär gestaltet sich das Gegenüber zweier Weltmächte; deren Interessen ständig aneinander geraten, deren Kriegsmittel ständig einsatzbereit sind, die sich also immer wieder darüber ins Benehmen setzen müssen, daß gewisse Feindseligkeiten (noch) nicht als Auftakt zu weitergehenden gemeint sind, gerade um sich die Freiheit zum Einsatz des Militärapparats zu sichern, dann, wenn es darauf ankommt.

Rüstungskontrollverhandlungen und ihr guter Leumund

Die Gespräche über Raketen sind wegen desselben Gegensatzes zustandegekommen, genauer: wegen des für die USA ärgerlichen Umstands, zum ersten Mal von sowjetischen Atomraketen bedroht zu sein. Der Befund lautete "atomares Patt" und drückt - noch verhältnismäßig nahe an der Sache - das Ärgerliche an diesem Zustand aus. Mit dem harmonischeren Titel "Gleichgewicht" dagegen wurde im weiteren das Waffenverhältnis erst einmal zur Friedensgarantie umstilisiert, um dann das bekannte Raketenzählen anzufangen und lauter sowjetische Verstöße und westliche Rüstungslücken entdecken zu können. Im Ausgangspunkt war das öffentliche Klima jedenfalls weitaus ehrlicher: Das sowjetische Gleichziehen war Grund zur Beunruhigung und nicht die Herstellung irgendeines Gleichgewichts das eigene Anliegen. Deshalb gab es das Bedürfnis nach Rüstungskontrolle, danach, mit dem Gegner Kontakt aufzunehmen, um dessen Absichten und Mittel prüfen zu können.

Die auf den ersten Blick widersinnige Veranstaltung, daß sich Kriegsgegner treffen und sich über die Mittel ihrer Gegnerschaft verständigen, hat eben darin ihren Sinn, daß sie gerade wegen der Wucht ihrer Mittel an deren dauernder Überprüfung und theoretischem Vergleich und an den Absichten des Feindes interessiert sind. Also wird die Anwendung und praktische Wirksamkeit immerzu antizipiert. Wenn es darüberhinaus auch das Bedürfnis nach Rüstungskontrolle in dem Sinn gegeben haben mag, per Verhandlung auf die Rüstungsmaßnahmen des Gegners Einfluß zu nehmen, damit der einiges unterläßt - ein solches Bedürfnis, von zwei Gegnern gegeneinander angemeldet, kann schwerlich in Erfüllung gehen.

Die SALT-Verhandlungen waren denn auch nur die diplomatische Begleitung einer beiderseitigen A ufrüstung. Die in SALT II vereinbarten und bezeichnenderweise von den USA damals schon nicht ratifizierten "Beschränkungen" waren in Wirklichkeit so ziemlich das Gegenteil, nämlich Obergrenzen, die die USA jetzt erst, also nach 7 Jahren erreicht haben. Insofern waren die Rüstungskontrollverträge Verträge über Aufrüstung mit dem merkwürdigen Zusatz, daß sie sich die beiden Weltmächte sozusagen wechselseitig erlaubt hatten. Diese Verhandlungen haben also dazu getaugt, sich bei und wegen der Modernisierung und Vervielfältigung der Waffen im Hinblick auf das Potential des Gegners die Gewißheit zu verschaffen, daß der dem Rüstungsprogramm zwar die technische Verbesserung der bestehenden Drohung, aber keine aktuelle Kriegsprogrammatik entnimmt.

Mit dem Bestand dieser Sorte Diplomatie haben dann die politischen Deutungen zur Vertrauenstiftung Aufschwung genommen: Die diplomatisch abgesicherte Aufrüstung sollte man als das schiere Gegenteil begreifen lernen - als Verhandlungen über eine beiderseitige Abrüstung, wobei natürlich erst einmal nur kleine Schritte, z.B. eine Rüstungsbegrenzung zu erwarten wären... Und militärische Rechnungsarten und Gesichtspunkte wurden als "Gleichgewicht", "Abschreckung" usw. präsentiert. Daß das Friedenssicherung genannt wurde, hat seinen guten demokratischen Grund. Denn so führt eine Regierung, beunruhigend und beschwichtigend zugleich, die Aufrüstung für den Weltkrieg als das Thema ihrer Politik ein, um das sich fortan alles drehen soll.

Das "Ende der Entspannung" - der Aufschwung des Abrüstungsgedankens

Dieser ideologische Überbau der Rüstungsdiplomatie, der während der 70er Jahre erfunden und gepflegt wurde, aber genausowenig wie die Sache selbst unter den vorderen Themen der Weltpolitik rangierte, erlebt eine beispiellose Konjunktur, seitdem die USA und in deren Gefolge die europäischen NATO-Staaten ihre prinzipielle Unzufriedenheit mit dem Erfolg ihrer Rüstungsanstrengungen und -diplomatie erklärt haben. Nicht, daß nicht der Ost-West-Gegensatz längst schon die heißeste Frage war; aber der wurde an Vietnam, an Chile, am Nahen Osten verhandelt, als das Recht und die Pflicht der freien Welt, der "Ausdehnung" der Sowjetunion Einhalt zu gebieten. In derselben, Entspannung genannten Etappe, haben umgekehrt russische Politiker und auswärtige Linke gerne optimistische Prognosen darüber abgegeben, daß dem Imperialismus ein Land nach dem anderen abspenstig gemacht würde. Beide Sichtweisen haben nicht viel Wahrheit auf ihrer Seite. Den Schein, daß sich die Auseinandersetzung zwischen Ost und West im Kampf um Dritte erschöpfen würde, hat die NATO beendet. Seitdem hat sich auch die öffentliche Verhandlung des Gegensatzes fast gänzlich auf die Kriegsmittel verlagert.

Die Weigerung, SALT II zu ratifizieren, haben die USA damit begründet, die Sowjetunion hätte die Phase der SALT-Verhandlungen für ihre Aufrüstung "ausgenützt". Eine merkwürdige Beschwerde, weil USA bzw. NATO nichts anderes getan hatten. Die während der 70er Jahre gefaßten NATO-Beschlüsse dokumentieren das Verhältnis ziemlich genau, indem sie immer wieder feststellen, daß die Sowjetunion da und dort gleichgezogen hätte, die NATO "also" neue Anstrengungen machen müßte usw. usf.

Der Einfall, die Rüstung der Sowjetunion auf einmal am Ideal der Beschränkung zu messen und sich selbst als betrogener Rüstungsverhinderer aufzuführen, war eben auch nur der an der Rüstungsdiplomatie festgemachte Ärger, daß auch das diplomatisch begleitete Aufrüsten, alle möglichen in Quantität und Qualität des Waffenpotentials erzielten Fortschritte nicht zu der strategischen Überlegenheit geführt hatten, die die Kalkulation für den Sieg wesentlich eindeutiger gemacht hätte.

Der gesamte bisherige Umgang mit der Sowjetunion wurde als pure Schwäche, also als Fehler hingestellt. Die USA verkündeten das Ende der Entspannung und verfertigten lauter Beweise für den angeblichen Mißbrauch ihrer Gutmütigkeit durch die Sowjetunion. Außenpolitisch hieß es, man könnte die "Expansion" der Sowjetunion nicht länger "hinnehmen" als ob die USA der Sowjetunion jemals auch nur ein Stück Einflußsphäre überlassen hätten, ohne die militärischen Kosten möglichst hochzutreiben und sich bei drohendem Erfolg eines "prosowjetischen" Staatswesens gleich ans blutige "Destabilisieren" zu machen. Und in Sachen Rüstung wollten die neuen amerikanischen Führer - mit dem Wechsel von Carter zu Reagan hat diese imperialistische Selbstkritik so richtig Aufschwung genommen - lauter Versäumnisse sehen, als hätten sich ihre Vorgänger wegen der Rüstungsdiplomatie von der Sowjetunion auf unzumutbare Beschränkungen verpflichten lassen.

In materieller Hinsicht ist die amerikanische Selbstkritik etwas ungerecht, denn die Rüstungsvorhaben, die mit dem sog. Ende der Entspannung in Angriff genommen wurden, waren ja von den Vorgängern schon längst eingeleitet worden. In dem Bemühen, besser und effektiver aufzurüsten als die SU, haben sich die verschiedenen Generationen von Militärplanern der Freien Welt keine waffentechnischen Versäumnisse vorzuwerfen. Die Fortschritte liegen da vielmehr in den technischen Mitteln, die sie sich haben einfallen lassen bzw. noch einfallen lassen wollen.

Neue Mittel zur Bedrohung der Sowjetunion...

Die sogenannte Nachrüstung z.B. war bereits Anfang der 70er Jahre von den NATO-Planern beschlossen. Es braucht eben seine Zeit, ehe eine neue Raketengeneration technisch ausgereift und stationierungsfähig gemacht ist. Dank der Leistungen der amerikanischen Rüstungstechiker ist die Modernisierung der alten Pershing zu einer weiterreichenden und extrem leistungsfähigen Mittelstreckenrakete geraten, und deren Kombination mit den neu entwickelten Cruise Missiles hat der europäischen Front strategisch ein ganz neues Gewicht verliehen. Im Resultat ist es der NATO gelungen, die atomare Bedrohung des Warschauer Pakts zu verdoppeln.

Zufriedenheit ist damit noch lange nicht eingekehrt. Die US-Strategen sorgten sich nämlich um das sogenannte 'Fenster der Verwundbarkeit', ein Bild, mit dem sie die Tatsache umschreiben, daß sowjetische Raketen amerikanische Raketenbasen treffen können. Anstelle der unter Präsident Carter geplanten Umstellung auf ständig in Bewegung befindliche Raketensysteme hat sich Präsident Reagan von seinen Beratern auf die Idee von Raketenabwehrsystemen bringen lassen. Unter gründlicher Anwendung der militärisch absurden, moralisch aber beliebten Vorstellung, Defensive sei im Unterschied zur Offensive gut und fast schon friedlich, machte man sich an das Projekt, sowjetische Waffen untauglich zu machen. Die eigene Kriegsplanung soll damit von der Notwendigkeit befreit werden, den Einsatz der eigenen OffensivWaffen im Hinblick auf einen Gegenschlag kalkulieren, sich also um deren Überlebensfähigkeit (z.B. als Zweitschlagspotential) kümmern zu müssen. Der Auftrag für SDI ist erfolgt, und die US-Rüstungstechniker tun ihr Bestes.

...und eine neue Technik der Diplomatie: das Abrüstungsultimatum

Die strategische Bedeutung und das dementsprechende Interesse der NATO an diesen Fortschritten ist nicht schwer zu ermitteln. Den Beschluß zur Nachrüstung und erst recht die Inangriffnahme von SDI haben die NATO-Mächte aber mit einer sehr eigentümlichen Sorte von Diplomatie versehen: Unzufrieden mit den unsicheren Resultaten des beiderseitigen Aufrüstens sind sie dazu übergegangen, vom Osten Abrüstung zu fordern. Die Lüge der SALT-Verhandlungen, Waffen seien ein heilsamer Zwang zw Verständigung, wurde damit ein bißchen übertrieben. Die neue zusätzliche Aüfrüstung soll gleich als Hebel zur Beseitigung bisheriger Waffensysteme verstanden werden. Der Wille zur Aufrüstung nahm so die diplomatische Form eines Abrüstungsultimatums an die Adresse der Sowjetunion an: Waffen auf dem Papier sollten gegen die "Überrüstung" namens SS 20 aufgerechnet werden. Umgekehrt kursiert die Nicht-Abrüstung der anderen Seite seither als Grund für die eigene "Nach"rüstung,

Das Doppelte am"Doppelbeschluß"

Dazu wurde, was die BRD betrifft, das Thema erst einmal als eine enorm beunruhigende Existenzfrage der Nation aufgemacht. Die bislang gepflegte Ideologie, das Waffengleichgewicht garantiere den Frieden und die NATO sei mit dem Aufpassen aufs Gleichgewicht beschäftigt, mit der bis dahin alle Rüstungsfortschritte wenig spektakulär durchgeführt worden waren, wurde soweit neu interpretiert, daß man auf einmal wegen der (auch schon längere Zeit herumstehenden) SS 20 nicht mehr ruhig schlafen können und eine unglaubliche Verletzung des Gleichgewichts durch die Russen fürchten sollte.

Bis Ende der 70er Jahre waren Fachkenntnisse über Raketen, deren Treffsicherheit, Mengen und Standorte über die zuständigen Kreise hinaus allenfalls das Hobby von Politologen: Mit dem "Doppelbeschluß" rückte das Thema prompt in die vorderen Zeitungsseiten, wo es seitdem geblieben ist, und die Öffentlichkeit wurde in Windeseile fit gemacht für die teilnahmsvolle Begutachtung verletzter Gleichgewichte und sowjetischer Überrüstungen. Das war im übrigen der Ursprung der Friedensbewegung.

Mit der originellen Sichtweise, die bisher ausgebliebene Abrüstung sei das Ergebnis der hartnäckigen Verweigerung der Sowjetunion, man müßte ihr also endlich einmal härter kommen, um die Abrüstung voranzubringen, wurde der Beschluß zur atomaren Aufrüstung der BRD eingeführt und das Interesse der Öffentlichkeit auf diese famosen Verhandlungen verpflichtet. An diesem neuen Maßstab wollten sich die Regiere den ab sofort messen lassen, eine sehr praktische Erfindung, weil, daran gemessen, eine Regierung in den Augen ihrer Nationalistenmannschaft gar nicht schlecht abschneiden kann. Den Übergang vom internationalistischen Abrüster zum nationalen Verteidiger schaffen demokratische Staatsbürger spielend - immer, wenn er von oben angesagt ist.

Mit dem "Doppelbeschluß" seligen Angedenkens legte die NATO sehr einseitig erst einmal den Beginn der Stationierung fest, um dann der Sowjetunion das großartige Angebot zu unterbreiten, man könnte bis dahin darüber reden. Und für diese Sorte Verhandlungen präsentierte man den eigenen Aufrüstungsbeschluß, die vorab beschlossene Notwendigkeit zur Aufstellung der neuen Waffen der Sowjetunion quasi als Gegenstand ihrer Entscheidung: als ob sie darauf durch ihre eigene Entwaffnung an der eüropäischen Front Einfluß nehmen könnte - die Erfindung der "Null-Lösung". Vergebens beharrte die Sowjetunion auf dem sehr "ungleichgewichtigen" Verhältnis der als Tauschobjekt vorgestellten Optionen; immerhin ist das NATO-Potential auf das strategische Kerngebiet des Warschauer Pakts gerichtet, während die SS 20 nur Ziele im europäischen Vorfeld abdeckt. Genauso vergeblich hat sie sich zu verschiedenen Zugeständnissen und Waldspaziergängen bereitgefunden - ein Handel war seitens der NATO nicht beabsichtigt, ein "Scheitern" der Verhandlungen war geplant.

Und der Ertrag dieses diplomatischen Verfahrens bestand darin, erstens zu testen, wie lange die Sowjetunion, mit den Aufrüstungsbeschlüssen der NATO konfrontiert, "in Genf sitzen bleiben" würde, und zweitens ihrer "Uneinsichtigkeit" die Qualität eines moralisch besonders guten Grundes für die eigene Aufrüstung zu verleihen. Damals schon haben US-Strategen auch immer wieder Klartext geredet, die Konstruktion von der auszugleichenden Raketen"lücke" mit dem Hinweis auf die bereits vorhandenen, anderen NATO-Optionen für die betreffenden Ziele dementiert und daran erinnert, daß die "Nachrüstung" auf das europäische Bedürfnis zurückging, die eigene strategische Bedeutung zu erhöhen. Der europäische, speziell der bundesrepublikanische Nationalismus wollte sich atomar bewaffnen, er wollte sich über die eher untergeordneten Funktionen im Rahmen der Gesamtstrategie der NATO hinaus mit einer Bedrohung für die Sowjetunion ausstaffieren, die der von den USA ausgehenden atomaren Bedrohung zumindest nahekommen sollte. Wenn heute Rüstungsexperten über die Nachrüstung reden - unter dem Gesichtspunkt einer noch durch SDI abgesicherten Atomkriegsplanung und im Gesamtspektrum der NATO-Waffen -, tun sie glatt so, als ob es auf die speziell kaum ankäme. Die als "Doppelbeschluß" veranstaltete Heuchelei mit dem unbedingt notwendigen Gegengewicht ist längst zu den Akten gelegt. Was allerdings nicht heißt, daß die NATO sie als rüstungsdiplomatisches Spielmaterial ernsthaft wieder hergeben wollte. In Gleneagles haben die NATO-Verteidigungsminister gerade die Einsatzpläne abgesegnet.

Das Entwaffnende an SDI

Die Technik des Doppelbeschlusses aber ist erst recht zu Ehren gekommen. Noch während der Genfer Verhandlungen über die europäische Aufrüstung erklärte der US-Präsident, daß er jetzt auch einmal die Interkontinentalraketen kräftig abrüsten wollte. Er präsentierte einen genialen Abrüstungsvorschlag - START - in erster Linie für die landgestützten sowjetischen Interkontinentalraketen, das militärische Hauptgewicht der sowjetischen Kriegsmittel.

Und in seiner "Rede zur nationalen Sicherheit" vom März '83 kündigte er das SDl-Programm an - als die "Vision einer atomwaffenfreien Welt". Seitdem werden SDI die wundersamsten Friedenswirkungen nachgesagt: Es soll die Sowjetunion an den Verhandlungstisch bringen, es soll sie für "wirkliche" Abrüstung weichklopfen, und, wenn das alles passiert ist, dann hat der US-Präsident der Sowjetunion großzügig die Teilnahme an dieser herrlichen Technologie in Aussicht gestellt.

Die Ideologie, daß die Bereitstellung neuer Waffen der direkte Weg zur Abrüstung von Kriegsgegnern sei, hat mit der SDl-Propaganda ihre monströsesten Blüten getrieben; die Materie wird nurmehr in den absurdesten Vorstellungen des Raketenverschrottens verhandelt, ohne daß nennenswerte Zweifel an deren Glaubwürdigkeit aufkommen würden. Da zweifelt man allenfalls daran, ob SDI so schnell und so sicher ausfallen wird, wie es sich ein visionärer Reagan vorstellt. Der harte Kern der Botschaft bleibt dabei keineswegs verborgen: Das Bekenntnis zu einer Politik der Stärke, daß die NATO nunmehr durch die komproißlose Herstellung von Überlegenheit zu einer energischen Korrektur der Weltlage fähig werden muß - das wird zur Kenntnis genommen und mit den geltenden Sprachregelungen der Abrüstungsideologie abgehakt. Und genauso wird in Genf Jahr um Jahr getagt, Abrüstungsvorschläge werden ausgetauscht, begutachtet, abgelehnt, die sowjetischen Unterhändler bestehen auf der Einbeziehung von SDI und die amerikanischen lehnen ab.

Der unvorhergesehene Mißklang von Reykjavik: Die Russen reden nicht über, sondern wollen Abrüstung

Dieser Technik hat die Sowjetunion in Reykjavik einen gewissen Schlag versetzt. Sie hat sich die Frechheit herausgenommen, gegen die Regeln der Rüstungsdiplomatie mit deren Schein ernstzumachen. Die ideologischen Rechtfertigungen von SDI hat sie mit einem Vorschlag gekontert, Abrüstung könnte man doch auch anders haben, nämlich als beiderseitigen Raketenabbau. Dann wäre auch SDI überflüssig - überflüssig eben in seiner behaupteten Funktion. Dieses Angebot war alles andere als ein Einschwenken auf westliche Verhandlungsziele, als das behauptete Gefügigmachen der Sowjetunion durch SDI. Entgegen der populären Auffassung vom Programm des US-Präsidenten ist die Sowjetunion damit nämlich noch lange nicht mittel- und wehrlos. Die Drohung hat sie gegen das SDl-Programm aufgemacht und in Reykjavik erneuert, sich ihrerseits Techniken und Mittel zuzulegen, die SDI unwirksam machen. Und sollten die USA weiterhin auf ihrer Position beharren, würde die Sowjetunion die USA ihrerseits mit einem Rüstungsprogramm konfrontieren, das einige Unwägbarkeiten enthält. Des weiteren war das Angebot genausowenig ein Nachgeben, sondern eine "sowjetische Falle", wie es der Ex-Präsidentenberater Brzezinski in der ersten Entrüstung sehr sachgerecht festgestellt hat. Die obersten US-Unterhändler hatten einige Mühe, ihre Visagen wieder unter Kontrolle zu bringen, ehe sie der Öffentlichkeit Rede und Antwort standen und erklärten, warum das nach ihren eigenen rüstungsdiplomatischen Sprachregelungen - überwältigende Angebot der Sowjetunion für die Weltmacht USA inakzeptabel ist.

Inakzeptabel, weil SDI eben ein Kriegsmittel und kein Abrüstungsmittel ist. Inakzeptabel, weil der Vorschlag einer beiderseitigen Reduzierung der Raketenarsenale dem sowjetischen Interesse sehr wohl zupaß käme, dem amerikanischen aber überhaupt nicht. Das sowjetische Interesse an "friedlicher Koexistenz", am Zustand einer durch militärische Mittel erzwungenen Respektierung der sowjetischen Souveränität, wäre nämlich auf einem niedrigeren Rüstungsniveau genausogut aufgehohen. Gerade das aber, daß die USA immerzu eine Sowjetunion als Schranke ihrer Weltherrschaft berücksichtigen müssen, ist das ganze Ärgernis, dem das Rüstungsprogramm abhelfen soll. Eine "sowjetische Falle" war die Befragung von Reagan durch Gorbatschow, weil der hinterlistige Abrüstungsvorschlag alle Vorwände der bisherigen rüstungsdiplomatischen Hinhaltetaktik beiseite geräumt, alle von den USA vorgebrachten Forderungen beim Raketenzählen berücksichtigt und somit nur noch die Frage übrig gelassen hat, ob die USA wirklich auf SDI als dem Beschluß zur Herstellung militärischer Überlegenheit und zur Entscheidung der West-Ost-Konkurrenz bestehen wollen.

Dieselbe Frage hat Gorbatschow mit einem Eingehen auf die amerikanische Position in Sachen ABM-Vertrag gestellt: Auch auf das letzte Reagan-"Angebot", den ABM-Vertrag ungefähr so lange beizubehalten, bis es SDI zur Herstellung von gebrauchsfertigem Gerät gebracht hat, 10 oder 15 Jahre, auch auf diese Verklausulierung ist der Repräsentant der Sowjetunion eingegangen und hat sich zu einer nur 10-jährigen Beibehaltung des ABM-Vertrags bereit erklärt. Allerdings mit der Bedingung, daß Waffentests auf Laborversuche beschränkt bleiben müssen. Damit wird den USA sogar noch das Interesse an der Konstruktion von Abwehrwaffen konzediert, um sie einzig auf die Frage festzulegen, wie sehr es ihnen darauf ankommt, solche Waffensysteme schnellstmöglich scharf u machen. Eben dafür genügen Laborversuche nicht.

Mit ihren gesamten Vorschlägen hat die Sowjetunion also SDI rein als Kriegsmittel zur Debatte gestellt, hat sich nur danach erkundigt, ob sie ab sofort mit dem erklärten Willen der USA zur militärischen Entscheidung zu rechnen hat. Und der amerikanische Präsident ist nicht umhin gekommen, seinem sowjetischen Gegenüber die entsprechende Antwort zu geben.

Nach dem Gipfel: ein Stück Bewältigungsarbeit für den Westen

Ein Entgegenkommen in der Sache hat Gorbatschow in Reykjavik nicht bewirkt, wohl aber hat er den NATO-Chefs einige Rechtfertigungsanstrengungen aufgehalst. Der Knacks im ideologischen Gebäude der Rüstungsdiplomatie mußte schleunigst weggeredet werden. Wer Jahre hindurch seine heimische Mannschaft darauf getrimmt hat, daß in einer Politik der Stärke die Friedensgarantie von wegen erzwungener Abrüstung besteht, der ist immerhin zu ein paar Erklärungen genötigt, wenn er das großartigste Abrüstungsangebot aller Zeiten einfach ausschlägt. Der Schein der Rüstungsdiplomatie mußte gerettet werden, um gar nicht erst die Sorge aufkommen zu lassen, die friedenssichernden Beziehungen zur Sowjetunion könnten außer Kontrolle geraten, die eigene Führung hätte die Weltlage unsicherer gemacht.

Zweitens aber mußten sofort Erkundigungen in Moskau eingeholt werden, wie man dort das Resultat von Reykjavik sieht, ob mit der Ablehnung von Gorbatschows Antrag auch schon der Abbruch der Beziehungen ins Haus steht. So kategorisch, wie es die USA ablehnen, SDI in Frage zu stellen, so wenig sie also für fortgesetzte Rüstungsverhandlungen als Verhandlungsgegenstand zu bieten haben, so sehr wollen sie einen Abbruch der Diplomatie vermeiden - gerade wegen SDI, weil dieses Kriegsmittel noch nicht zu ihrer Disposition steht. Die Aussicht auf eine Weltlage, in der sich Feindseligkeiten häufen, ohne daß man über diplomatische Beziehungen verfügt, über die etablierten Kanäle der Rückversicherung, welchen Stellenwert man welchem Vorkommnis beizumessen hat, diese Aussicht hat die Führung der USA einen Moment lang erschreckt. Dieselben Figuren, die sonst bei jeder Gelegenheit demonstrativ zu verstehen geben, daß ihnen die diplomatische Rücksichtnahme auf den Feind zunehmend lästig fällt, geradezu wie ein Zeichen eigener Schwäche vorkommt, dieselben Reagan und Shultz waren über die Moskauer Botschaft, daß die Tür nicht zu ist, sehr zufrieden. Seitdem sind die Frechheiten wieder in vollem Gang und beim Diplomaten-Rausschmeißen haben die USA das neue Kursverhältnis von Russe zu Ami mit 10:1 festgesetzt.

Die Botschaft aus Moskau war allerdings ziemlich anders gemeint, es war nicht die Auskunft, man könnte ruhig so weitermachen wie bisher. Inzwischen erfolgt aus Moskau eine Richtigstellung nach der anderen, um gegen die westliche Optimismuskampagne mit den "vielen neuen Möglichkeiten und Perspektiven für Genf" den eigenen Standpunkt klarzustellen. Die Sowjetu ion hat dem Westen eine Denkpause angeboten, eine Gelegenheit, sich noch einmal zu der in Reykjavik verhandelten Frage zu stellen, aber auch nur zu der.

Hinter diesem nochmaligen Versuch steht die unausrottbare sowjetische Überzeugung, daß der mit SDI ausgesprochene Wille, den Atomkrieg endlich zu führen, letztlich doch auch nicht im Interesse der westlichen Nationen liegen kann. Wieder einmal räumt die Sowjetunion dem anderen Bündnis Zeit ein, dem amerikanischen Volk, um sich einen "realistischeren" Präsidenten zu wählen, und den Europäern, um sich bei den USA gegen den Einsatz als "Schlachtfeld", gegen SDI zu verwenden. Der sowjetische Glaube daran, daß sich Krieg nicht lohnt, ist sehr zäh. Beim Begreifen der imperialistischen Kriegskalkulationen, mit denen sie sich doch gerade auseinandersetzen, tun sich Kremlchefs nach wie vor sehr schwer. Sie halten sogar die Schonung der amerikanischen und aller anderen Völker für ein Argument, das - ausgerechnet - dem Pentagon einleuchten sollte. Folgenlos bleibt der sowjetische Standpunkt deswegen aber noch lange nicht. Die Russen haben zwar keine Frist gesetzt, aber die Nachfrage von Reykjavik läßt sich nicht zu einer Dauereinrichtung machen.

*

Ein unhistorisches Postskriptum zu Reykjavik

Es steht jetzt schon fest, daß spätere Historiker, so noch vorhanden, den Gipfel einmal so einordnen werden, daß da der Frieden verspielt worden wäre. Das ist in zweierlei Hinsicht unwahr: Erstens ist es in Reykjavik nicht um "den Frieden" gegangen, sondern um den Interessensgegensatz von Ost und West, um den Versuch der Sowjetunion, die Konfrontation zu ihren Gunsten zu entschärfen, weil die USA sie so scharf gemacht haben. Zweitens ist also Reykjavik auch nur eine Etappe in der Abwicklung dieses Gegensatzes, der seit dem Ende des letzten Weltkriegs so ziemlich alles bestimmt, was in der Welt passiert, und sehr gründlich darüber entscheidet, zu was alles das Menschenmaterial der Staatenwelt nicht kommt. Drittens ist an diesem Weltfrieden also rein gar nichts, was sich zu bewahren oder nach träglich zu betrauern lohnt.