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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1986 erschienen.
Deutsch-Europa zu Reykjavik:
REINREDEN, SICHAUFSPIELEN, BELEIDIGTSEIN, HEUCHELN, HETZEN, SCHARFMACHEN
Den bundesdeutschen Unterführern hat am Gipfel zuerst und vor allem eines überhaupt nicht gepaßt. Sie hatten dabei nichts zu sagen. Dort haben ganz ausschließlich die Chefs der beiden Blöcke agiert, und ihr prächtiges deutsches Staatswesen addiert sich dabei genauso selbstverständlich zum Blockinventar der einen Seite, wie man das hierzulande immer der DDR hinzureiben pflegt. Das heißt leider nicht, daß die Bonner Größen deshalb ausnahmsweise mal die Klappe gehalten hätten.
Wenn schon nichts zu sagen, dann heißt es um so mehr, dazu was zu sagen. Zum Beispiel genau das: Wir haben wieder einmal nichts zu sagen! Da wurde der Ohnmachtskult wieder heftig belebt: Wir, "die Kleinen", müssen "die Großen" dreimal am Tag auf die "Verantwortung" hinweisen, die sie tragen, sonst würde die Heuchelei ja glatt fehlen. Oder: Wir - dreimal unterstrichen - erwarten uns sehr viel, sind schwer enttäuscht, warnen, mahnen, stärken den Rücken, rufen auf und was es sonst an politischen Schwerarbeiten noch alles gibt.
Bei all dem darf natürlich die Parteilichkeit nicht fehlen. Wir wollen natürlich, daß der Ami den Russen über den Tisch zieht und nicht umgekehrt. Deswegen schreiben wir vorher gewichtige Briefe, und nachher gehört sich die Schuldfrage breitgetreten, an wem - wieder einmal - alles gescheitert ist.
Der Kanzler wetzt eine Woche lang seinen Arsch auf dem Sessel zur Betonung, daß er als erster - ! - nach Washington darf, damit ihn sein guter Freund Ronald "informiert". Das Telefon tut's da nicht; dafür muß ein Staatsakt mit Hochglanzfotos sein.
Bloß - der Musterknabe der Truppe zu sein und als solcher das Recht auf gute Vertretung und Information anzumelden, ist für Nationalisten deutscher Machart auch eine peinliche, eine Bettlerhaltung. Ein Stück ideelles Dabeisein und Mitmischen muß auch sein. Wenn die Österreicher bei jedem internationalen Sporttreffen mindestens einen österreichischen Schiri auftun, die Bundesregierung schafft es bei jedem Gipfel, dessen Zustandekommen als ihr höchstpersönliches Verdienst zu verbuchen.
Und wenn sich die Großen treffen und nichts außer dem Haupt- und Weltgegensatz zwischen ihnen ansteht, dann muß, koste es, was es wolle, ein deutsches Interesse gefunden werden, das nach Reykjavik gehört. Kurzstreckenraketen! Wenn im Gipfelvorfeld so getan wird, als stünde der gesamte größere Raketenpark zur Disposition, dann muß sich die Bundesregierung unbedingt einschalten und so tun, als ob der dritte Weltkrieg mit den Kurzen gewonnen würde. Wäre es andersrum gewesen, dann wären eben die anderen das größte deutsche Problem gewesen.
Nach dem Gipfel waren die Kurzen dann erstmal wieder ganz schnell vergessen. Da mußten die Weltfriedens- und -abrüstungspolitiker aus Bonn nämlich erstmal wieder die Sowjetunion in die Pflicht nehmen, um ihr ihre Bereitschaft zu endlosem Weiterverhandeln vorzubeten. Da mußten sie, gegen sämtliche Erklärungen und Dementis aus Moskau, mit dem Erfolg von Reykjavik, mit der Scheißtür, die immer keiner zumacht, und dem Mittelstreckenraketenbeschluß hausieren gehen. Wie hochgradig Hörgeschädigte gaben sie tagelang bekannt, von einem Junktim hätten die Russen nichts gesagt! Um dann den Vorwurf zu landen, die in Moskau sollten sich erstmal einig werden, was sie eigentlich wollen, dann erst konnte man mit ihnen vernünftig reden.
Im Sinne von Frieden und Abrüstung ist die Tatkraft deutscher Führer ganz unerschöpflich. Der Kanzler hatte sich extra eine Idee für Washington ausgedacht, wie das Verhandeln prächtig weitergehen können soll: eine Interpretation des ABM-Vertrags, die den USA SDI erlaubt und den Russen, dagegen zu sein. Damit ist er zwar bei Ronald nicht gelandet. Der hält den Vertrag überhaupt für "überholungsbedürftig", weil er ihm nicht paßt. Das hat der Kanzler dann auch wieder eingesehen.
Aber der Vermittlungs- und Versöhnungsquark ist den deutschen Frontstaatführern ohnehin schon um einiges zu matt - außer als pflichtschuldige Zurechtweisung an die Adresse der Sowjetunion. Während die eine Hälfte der Regierung noch die Russen anplärrte, sie müßten in Europa Mittelstreckenraketen abrüsten, das seien sie uns schuldig, und eine Verknüpfung mit SDI wäre völlig aus der Luft gegriffen und ein billiger Vorwand, hatte die andere Hälfte schon entdeckt, daß uns die Amis mit eben dieser Mittelstreckenabrüstung in Reykjavik fast verraten und verkauft hätten, weil wir diese Dinger unbedingt für unsere Vorwärtsverteidigung brauchen. 'Überhaupt gar nicht gescheit informiert und konsultiert', gingen die Beschwerden los; in ein paar Tagen aufgebaut zu: 'Unsere Sicherheit fast vergeigt.' Wörner mußte extra mit nach Washington und seinen Unterrühl die Einsatzpläne für die fraglichen Raketen unterzeichnen lassen.
Die in kürzester Zeit nebeneinander aufgetischten Forderungen und Beschwerden deutscher Politik widersprechen sich dermaßen, daß man es im Kopf nicht aushält; und es werden auch sicher wieder einige Koalitionsintrigen zwischen Genscheristen und Stahlhelmern darüber abgewickelt, wer welches deutsche Lebensinteresse verraten hat. Bloß, es ergänzt sicn doch alles so prächtig als Standpunkt der deutschen Raketenrepublik.
Die Sowjetunion wird mit der Mittelstreckenraketenabrüstung zur erwünschten diplomatischen Gefügigkeit aufgefordert; gleichzeitig wird das gute Recht der BRD verteidigt, die abzurüstenden Raketen zu behalten; drittens wird mit der Lüge, daß sie demnächst verschwinden würden, ein "Nach"rüstungsbedarf in der nächstunteren Kategorie aufgemacht, jetzt sind die Kurzen wieder Thema, eine Lücke auf unserer Seite von 1:10; dann werden die wieder ideell abgerüstet, um wieder einmal auf die erdrückende konuentionelle Überlegenheit der Sowjetunion zu sprechen zu kommen, die ihrerseits einen ziemlichen "Nach"rüstungsbedarf aufwirft. Gemäß dieser Logik wird die Sowjetunion irgendwann einmal ihre Leute verschrotten müssen, weil wir zu denen im Verhältnis 1:? stehen.
In nur zwei Wochen haben die Bonner Häuptlinge die ganze Palette von enttäuschten zu hoffnungsvollen zu realistischen, fast betrogenen Abrüstern und vorsorglichen Aufrüstern durchgearbeitet, die Gipfelbewältigung in eine neue Rüstungskampagne überführt und die deutsche Öffentlichkeit mit einem nationalen Verteidigungsbedarf bekanntgemacht, der mehr denn je das Ideal heraushängen läßt, die Sowjetunion von deutschem Boden aus zu schlagen. Ob man das Programm mehr antiamerikanisch oder als treue Partnerschaft oder als energische Abrüstung sehen will, das darf man sich nach Belieben selbst aussuchen.