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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1986 erschienen.


EIGENTUM UND RECHT UND FREIHEIT

"Bild Kommentar

Und doch: Freiheit bricht Mauern

Von Deutschland nach Deutschland, über elektronische Sperren, durch Mauerluken: Die Fluchtfälle häufen sich. Junge Menschen, ganze Familien riskieren ihr Leben. (Seite 1)

2418 allein in diesem Jahr. Obwohl sie wissen, daß Honecker schießen läßt. Obwohl sie wissen, was ihnen blüht, wenn's schiefgeht - das Zuchthaus!

Und wenn wir es zum tausendsten Mals sagen (müssen): Nichts hat sich geändert. Die Menschen wollen raus, weil sie reisen möchten, weil sie kaufen möchten, was sie sich leisten können. Weil sie einfach endlich wie erwachsene Menschen behandelt werden wollen, nicht wie unartige Kinder, die man einsperrt!

Wann wird Honecker das begreifen?"

1.

So und so ähnlich haben Springer und andere Hetzer unzähligen Bürgern der DDR die Hucke voll gelogen, warum sie unbedingt in den Westen rübermachen sollen. Systematisch verschwiegen wird den armen Opfern westlicher Bauernfängerei, daß die Freiheit auch was kostet, und das nicht zu knapp. Wohin das führt, meldete die FAZ am 19. Juli:

"Ladendiebstähle von DDR-Besuchern kommen in Berlin täglich vor...

Das langgesuchte Objekt vor Augen, aber nicht genügend Geld in der Tasche - da kann es schnell zu Kurzschlußhandlungen kommen." (FAZ, 19.7.)

Und bei Geschäftsleuten gibt es null Verständnis für ein zahlungsunfähiges Bedürfnis, auch wenn es von den Brüdern und Schwestern von drüben kommt:

"In der Regel wird von den Geschäftsleuten Anzeige gegen ertappte Ladendiebe erstattet, auch wenn sie aus der DDR sind."

Solche Verfahren wurden bislang noch bisweilen eingestellt

"unter Berücksichtigung der besonderen psychologischen Situation der Täter, die hier einem anderen Warenangebot ausgesetzt seien".

Wohl eher einem räuberischen Wechselkurs von 1:5 für ihre ostdeutsche Mark! Inzwischen wird denn auch knallhart strafverfolgt: Die Erwischten werden bei ihrem "Unrechtssystem" von der Westberliner Staatsanwaltschaft denunziert, die plötzlich e jure 2 deutsche Staaten kennt und alles Vertrauen in DDR-Gerichte setzt:

"Dazu hat der Berliner Justizsenator Scholz gesagt, es lägen keinerlei Erkenntnisse oder Anhaltspunkte dafür vor, daß den Beschuldigten durch die Abgabe des Verfahrens an die Strafverfolgungsbehörden der DDR Nachteile erwüchsen, die im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen."

So kriegen biedere DDR-Rentner, die sich im Goldenen Westen vergriffen haben, neben einer Lektion über die Grenzen der Freiheit auch noch eine über sozialistische Justiz: die schützt per Rechtshilfe in der DDR das kapitalistische Privateigentum in Westberlin.

2.

Noch tragischer der Fall des DDR-Bürgers Wilfried R. (31), der zur Zeit eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren in Westdeutschland verbüßt. Dabei fing alles ganz harmlos an. Wilfried R. hatte ein Ausreisevisum zum Besuch seiner Gromutter in Essen bekommen:

"Wenige Tage vor der Abfahrt hat ein Bekannter ihm einen Genex-Katalog mitgebracht. Genex heißt der staatliche Geschenkdienst der DDR, über den Verwandte und freunde im Westen ihren Lieben im Osten nahezu alle Errungenschaften kapitalistischen Konsums zukommen lassen können."

Da hat es bei Wilfried R. "klick gemacht": Ba, Ba, Ba, Ba, Banküberfall! Heute bedauert er:

"Der Gedanke habe sich rasch zur fixen Idee verfestigt, zumal er so was schon mal gesehen habe in einem Krimi im Fernsehen (West). 'Man sollte vielleicht weniger Fernsehen gucken', sagt er nun traurig."

Oder nur das Fernsehen (Ost). Er wurde ohnehin bei seinem Überfall auf eine Bottroper Bank Opfer der einseitigen Indoktrination des ostdeutsch-kommunistischen Schulsystems:

"Das Bankwesen hierzulande wie die örtlichen Verhältnisse in Bottrop konnte der Bankräuber nicht kennen, denn Wilfried. R. stammt aus der kleinen Kreisstadt Staßfurt im DDR-Bezirk Magdeburg."

Immerhin schaffte er es, mit Knetmasse und Drähten eine Bombenattrappe zu basteln, damit drei Angestellte der "Volksbank" (kein unbewußter Reflex volkseigener Erziehung, sondern: "kleine Filiale" und "kein Betrieb") hereinzulegen und mit DM 3.000,- den Ausgang zu erreichen. Wurde aber wegen seiner "ziellosen Panik" von einem Bankangestellten eingeholt, gestellt und dingfest gemacht. Vor Gericht gab er Erschütterndes über Armut n der DDR zu Protokoll:

"Zusammen mit Frau und Tochter wohnt er in einem eigenen Einfamilienhaus in der Staßfurter Freiheitsstraße. 'Wie kommt man denn da ran?! fragt Richter Wäller überrascht. Ach, das sei gar nicht so schwierig, meint Wilfried R., nur 17000 Mark mit Grundstück habe es gekostet. Mit 1100 netto verdient er für DDR-Verhältnisse nicht schlecht. 'Bahnleiter' war er zuletzt, das heißt, er beaufsichtigte das werkseigene Eisenbahnnetz eines Industriebetriebs."

Der Mann hatte also auch keine Ahnung von demokratischer Klassenjustiz: Weil er's ja gar nicht nötig hatte, mußte

"das Strafmaß deutlich machen, daß man das so nicht machen darf... Drei Jahre wegen räuberischer Erpressung." (Alle Zitate aus "Die Zeit", 18.7.)

Die Freiheit ahndet Vergehen gegen das Eigentum, noch dazu gegen das besonders förderungswürdige des Bankkapitals, als "ein Stück aus der Hochkriminalität" (Urteilsbegründung gegen Wilfried R.), wofür auch bei einem geknechteten DDR-Untertanen nur "niedrige Motive" in Anschlag gebracht werden können. Man muß schon als Vopo oder Volksarmist beim Wechsel in die BRD einen Kollegen erschießen, damit man verständnisvolle Richter findet, die per Freispruch oder "mildes Urteil" bestätigen, daß man für die Freiheit das so machen darf.