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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1986 erschienen.


BRÜDER, ZUR SONNE, ZUR FREIHEIT

"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,

Brüder, zum Lichte empor.

Hell aus dem dunklen Vergangnen

leuchtet die Zukunft hervor!

Seht, wie der Zug von Millionen

endlos aus Nächtigem quillt,

bis euer Sehnsucht Verlangen

Himmel und Nacht überschwillt.

Brüder, in eins nun die Hände, Brüder, das Sterben verlacht:

Ewig der Sklav'rei ein Ende,

heilig die letzte Schlacht!"

Versuch einer Würdigung

Wenn diese "Brüder" anfangen zu singen; am Ende ihrer Tagungen, dann wird ihnen ganz warm ums Herz. Nicht nur, weil sie sich da die Hände reichen und sich jeweils zu Beginn jeder Strophe als Brüder gleich zweifach ins Gewissen singen, sondern vor allem wegen der gelungenen agitatorischen Leistwng, die Sehnsucht der Massen nach kostenlosen Werten "Sonne" und "Licht" - zu wecken und im selben Atemzug auch zufriedenzustellen. Der, den die Konkurrenten von der Glaubensfront dafür als Schöpfer verantwortlich machen, muß vor Neid erblassen vor der wundersamen Leistung, Millionen sattzumachen; für die hatte r sich seinerzeit noch der materialistischen Tour bedienen und sich den Trick mit der Brotvermehrung und den Weinschwindel ausdenken müssen. Sonne und Licht einfach bloß als Wärmespender zu nehmen, hieße allerdings den Gehalt der dichterischen Aussage verkennen, wenn nicht ins Gegenteil zu verkehren. Die Sonne mitsamt ihrem Licht steht hier nicht einfach als naturgegebenes Wasserstoffusionskraftwerk. Dann genügte es ja, wenn sie den Brüdern aufs Haupt schiene. Der Genosse Dichter verlangt aber, daß sie sich zu ihr 'empor' arbeiten. Sonne ist nämlich nicht nur ein Wort, sondern verkörpert als unfaßliches Ding-Symbol den höheren Wert, den sie als Sonne und Licht pleonastisch umkränzt. Die zart anklingende Dialektik - die Brüder da unten, die Freiheit da oben - findet dann in einem qualitativen Sprung zu sich selbst, indem gleichzeitig die natürliche um die historische Dimension ergänzt wird, ohne daß erstere völlig abklingt. Mit der Verknüpfung von Licht und Zeit - "helle Zukunft" contra "dunkle Vergangenheit" - ahnt der Dichter nicht nur Einsteins Formel voraus - es gelingt ihm, den sozialistischen Inbegriff der ewigen Hoffnung ins Bild zu setzen. Genial, wie er dabei die Kräfte der Finsternis - das "dunkle Vergangene" - durch die Heere des Guten -"hell... leuchtet die Zukunft" - syntaktisch umzingeln läßt und die Dreidimensionalität der Zeit beseitigt und bewahrt zugleich, indem er Vergangenheit und Zukunft durch das präsentische Leuchten in dauernde Gegenwart aufhebt.

In der zweiten Strophe wird der abstrakten Prophetie konkrete Gewißheit verliehen; die Qualität des Versprechens erhält gewissermaßen seine quantitative Bestimmtheit, indem der Dichter die Massen in die Zeilen zitiert. Als "Zug von Millionen" vermittelt er ihnen sogar noch einen Hauch organisatorischer Disziplin - ein etwas riskantes Unterfangen angesichts dessen, daß sie wiederum unbestimmt ("endlos") "hervorquellen". Vermutlich möchte er damit ihre Übermächtigkeit betonen, gegenüber "dem Mächtigen" - eine formell neue und inhaltlich doch schon vertraute Konkretion der Kräfte der Reaktion, die einem die Assoziation der Mächtigen geradezu aufdrängt. Es ist die Frage, ob im folgenden der Pleonasmus ("Sehnsucht Verlangen") das Hendiadyoin ("Himmel und Nacht") herausfordert oder umgekehrt. Auf jeden Fall ist es nicht der Reim, sondern die immense Dichte der lyrischen Aussage, die das Prädikat "überschwellen" kategoiisch gebietet.

Das Leitmotiv der Solidarität, in der ersten Strophe lediglich als kämpferischer Appell an den Beginn gestellt, wird in der dritten Strophe formal wieder aufgenommen und inhaltlich vertieft. Der praktische Zusammenhalt des Arbeiterchors - man erinnere sich des erhebenden Rituals sozialistischer Abschlußveranstaltungen! - wird hier lyrisch verklärt: "in eins nun die Hände!" Die schwer zu vermittelnde Botschaft, daß die Arbeiter als Brüder nichts zu lachen haben, weil Solidarität nicht mit Geld zu bezahlen ist, bringt das Lied in einer sprachlichen Meisterleistung rüber, indem es "das Sterben verlacht", sich souverän über das Widerspiel von Tod und Sinnenfreude hinwegsetzt und so die Banalität des Kampfs ums tägliche Brot ins Metaphysische transponiert. Zudem läßt die metaphorische Verfremdung des Lohnarbeitsverhältnisses in ein archaisches Eigentumsverhältnis - "Sklaverei" - gar nicht erst den abwegigen Gedanken aufkommen, als ginge es um dessen Beseitigung beim Sterben und Kämpfen. In einer furiosen Hyperbel wird dann im Finale der Tod gar durch eine gewagte Usurpation der Theologie negiert: Durch die Kanonisation der "letzten Schlacht" wird dieser quasi zum ewigen Leben verholfen und so das tägliche Ringen um die kleine Reform mit einer höheren Weihe versehen. Moderne Sozialdemokraten sollten sich deshalb schämen, sich der dritten Strophe zu schämen - als habe sie den revolutionären Teufel im Leib! - und nach der zweiten Strophe zur Tagesordnung überzugehen, ohne ihr die musikalische Ehre zu erweisen!