Info

Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1986 erschienen.


PARTEIEN

Die großartige Errungenschaft des demokratischen Staates besteht darin, daß er Gewalt ausübt über Land und Leute mit Zustimmung einer Bürger. Dieses irre Konstrukt - Bürger bejahen ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, weil sie in der Verfolgung ihrer divergierenden und gegensätzlichen Interessen auf eine ordnende Gewalt angewiesen sind - will gepflegt sein; schließlich ist der Gegensatz von Staat und Bürgern nicht aus der Welt, wenn letztere ihn befürworten dürfen und sollen. Die demokratische Herrschaft versichert sich in regelmäßigen Abständen der Zustimmung ihrer Untertanen. Auf der anderen Seite wird, damit das Ja der Bürger zu ihrem Staat nicht gar zu abstrakt ausfällt, diesen alle paar Jahre die Gelegenheit geboten, das Personal an den Schalthebeln der Macht wahlweise zu bestätigen oder auszuwechseln. Dieses Verfahren ist erheblich komplizierter als zum Beispiel dazumal die Einrichtung eines Monarchen, der gar nicht erst behauptete, von Volkes Gnaden zu sein. Denn die nicht wegzuleugnende Tatsache, daß Volkes Stimme die Herrscherfiguren wählt, macht aus dem Bürger keinen Souverän, ändert nichts an den Sachnotwendigkeiten des politischen Gewaltapparats und hebt den Gegensatz zwischen Bürgerinteresse und Staatsgewalt nicht auf. Wegen dieses harten Knackpunkts - freie Bürger stimmen der obersten Gewalt zu, indem sie das Personal der Macht wählen - fällt den politischen Parteien ihre Aufgabe im demokratischen Gemeinwesen zu. Sie haben das unmögliche Geschäft zu erledigen, zwischen dem Interesse der Bürger und dem Interesse der staatlichen Gewalt zu vermitteln. Jedoch, fortschrittlich, wie sie sind, bewältigen sie den unauflösbaren demokratischen Widerspruch, zu vermitteln, was nicht zu vermitteln geht, grandios:

"...die Parteien konkurrieren durch politische Willensbildung um die Stimmen der Wähler und damit um die Führung der Staatsgeschäfte." (MARXISTISCHE GRUPPE, Resultate 3, Der bürgerliche Staat, Paragr. 9)

I. Volksparteien

Einparteiensysteme oder Staaten mit einer Einheitspartei gelten demokratischen Gemütern als furchtbare Entgleisung und als totalitär, zumal wenn sie im Osten liegen; bei Negern hat man dafür Verständnis, weil die noch nicht ganz ausgereift sein sollen. Nun ist zwar der Unterschied nicht gerade meilenweit, ob 99% der Bürger Personen einer Einheitsliste ins Amt wählen oder ob 47 von 89% einer Partei von vieren zur Mehrheit und damit zur Regierungsgewalt verhelfen; der Zweck der Veranstaltung, die Zustimmung zur Herrschaft, wird ja in beiden Fällen massiv erreicht. Dennoch hält man hierzulande unbedingt daran fest, daß das Mehrparteiensystem ein wesentliches Gütesiegel für Freiheit bedeutet, weil hier der Bürger zwischen mehreren Parteien auswählen kann, wenn er seine Herrschaft ermächtigt, über ihn zu regieren. Dieser vielgepriesene Vorzug der demokratischen Parteienlandschaft ist aber nicht nur in der Hinsicht bodenlos, daß die Wahl einer Staatspartei und die Wahl aus dreieinhalb staatstragenden Parteien beide zu demselben angestrebten Ergebnis führen, zu einer Staatsführung eben, der das Volk seine Zustimmung gegeben hat. Die Alternativen, an denen der demokratische Bürger seine Wahlfreiheit austoben darf, weisen bekanntlich keine grundlegenden Unterschiede auf, den Staat und das Gemeinwesen betreffend, so daß die Wahl der einen oder anderen parteilichen Richtung auch nichts bewegt. Sobald so etwas droht, ist es natürlich auch schon vorbei mit der demokratischen Freiheit. Zum einen fällt hier unter grundgesetzliches Verbot, was man dem undemokratischen Osten so sehnlichst wünscht: daß dort Parteien zugelassen werden und wählbar sein sollen, die das Staatswesen zum Teufel jagen oder umkrempeln wollen. Überraschenderweise sind auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung alle antikommunistischen Parteien erlaubt. Auf jeden Fall sind derart grundsätzliche Alternativen, die Zweifel an den Vorzügen (= Grundzügen) der Staatsgewalt praktisch werden lassen wollen, in der Parteienlandschaft nicht vorgesehen und als Alternative nicht wählbar. Aber auch von minder großen Unterschieden im Vertretungsangebot an die wählenden Bürger haben sich die modernen staatstragenden Parteien längst emanzipiert. Das Eintreten für die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder für eine besondere Weltanschauung ist von der heutigen Parteienlandschaft praktisch zu den Kinderkrankheiten des demokratischen Staats erklärt und für überholt befunden worden.

Die aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hervorgegangene 100jährige Partei der Sozialdemokraten hat es mit dem Kampf um die Anerkennung der Proletenklasse als brave Staatsbürger, der Hinaussäuberung von kommunistischen Elementen und entschiedenem Eintreten fürs deutsche Vaterland längst zu einer veritablen Staatspartei gebracht. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik ist sie in der ersten deutschen Demokratie an die Macht gelangt, wo sie ja nur hinwollte. Und heute ist sie nach allen Seiten offen, wie alle anderen Parteien auch. Die letzten, nach Klassenkampf riechenden Zöpfe wurden 1959 in Godesberg abgeschnitten.

Die Liberalen, die sich früher einmal mit dem Aufkommen kapitalistischen Geschäftssinns für die Konkurrenzfreiheiten der Manchesterkapitalisten stark machten, sind wider alle noch umlaufenden Gerüchte keine Mittelstandspartei, sondern die Partei für alle hellen Köpfe, die eine dritte Kraft als Korrektiv für die beiden großen Parteien für furchtbar notwendig erachten. Nach dem Krieg ist der BHE (Bund der Heimat Entrechteten) untergegangen, obwohl die Flüchtlinge noch immer da waren, weil eine partikulare Interessenpartei keine Chancen hat, wenn es ums Ganze, um die Führung der Staatsmacht geht. Deshalb ging auch das Verbot des Splitterparteiwesens durch die Adenauer-Regierung selbstverständlich in Ordnung. Die Bayernpartei wurde von der CSU fertiggemacht, weil letztere erkannte, daß eine Partei in ihrer Ausstrahlung nicht auf einen Freistaat beschränkt bleiben darf. CSU und CDU haben mit der allgemeinen Christlichkeit im Namen das Katholische Zentrum in sich aufgesogen, lassen sich aber wegen ihres hohen C's noch lange nicht von der EKD oder vom Höffner alles sagen, was ihnen nicht paßt. Von den Grünen wurde zunächst der Eindruck erweckt, sie seien die Partei der Öko-Fritzen und Körnerfresser, also die Interessenpartei aller bescheidenen guten Menschen. Inzwischen weiß man, daß sie die Vokabel "breites Wählerspektrum" und "Koalitionsfähigkeit" schon gelernt haben.

Die modernen Parteien, die um Wählerstimmen konkurrieren, um an die Macht zu gelangen, nützen eben allen Interessengruppen im Staate, also keiner (sieht man einmal von der Minderheit der Kapitalisten ab) - das bringt das Ringen um Wählermehrheiten logischerweise mit sich. Sie treten alle für so allumfassende Weltanschauungen ein wie freiheitliche Werte, demokratische Ordnung, nationales Wirtschaftswachstum und deutsches Vaterland, so daß sich wirklich keine Mischehe aus Niedersachsen oder anderswo politisch in zwei Lager zu spalten braucht.

So bleibt von den Alternativen, für die sich die Demokratie schwer lobt - weil ,eins' Unfreiheit bedeutet, während Wählen zwischen 'eins bis vier' grenzenlose Freiheit einschließt -, nur die eine öde Nivellierung übrig: Alle Parteien sind und wollen Volksparteien sein. Sie kümmern sich einen Dreck um die Belange und Sorgen dieser und jener Bürger, gehen ungerührt über die divergierenden Weltanschauungen zwischen Mann und Frau, Jugend und Altertum, Putzfrau und Oberförster hinweg und versprechen dem in Klassen, Schichten, Gruppen und Familien, sowie in Optimisten und Pessimisten schwer differenzierten ganzen Volkskörper nur eins: Sie wollen seine Stimme, insbesondere ganz viele davon. Die in allen Sozialkundebüchern, so sie über die demokratischen Parteien belehren, unvermeidlich auftauchende Klammer ("Partei ist von pars = Teil abgeleitet") erweist sich demnach doch als richtiger Einschub. Die Parteien unterscheiden sich nämlich vor allem und letztlich nur dadurch, daß sie alle in den Genuß der Führung der Staatsgeschäfts kommen wollen. Nicht weil die eine pars etwas anderes vorhätte als die anderen partes, kommen diese Teile des Staatsparteientums auf so himmelweite Unterschiede wie "Erst den Wald retten und dann die Atomkraftwerke oder umgekehrt!" Weil die Parteien uneigennützig das Gleiche anstreben, die Schalthebel der Macht, kommt es ihnen sehr auf die Fiktion von Unterschieden an. Schließlich sieht der "demokratische Umweg" der Ermächtigung vor, daß dafür Mehrheiten aus Bürgerstimmen vonnöten sind. Wer um die konkurriert, muß dem Wähler das erhebende Gefühl vermitteln, er hätte wirklich noch irgendwas auszuwählen. Die Parteien hantieren deshalb mit Alternativen der Wählergewinnung. Taktiken des Einseifens der Wähler sind die eigentlichen Parteiprogramme - und sie bleiben auch Taktiken, wenn die Parteien an ihren traditionellen Gütezeichen festhalten; die sollen es ja gerade bringen. Dieser Einsatz der Wahlkampfmaschinerie der Parteien ist im bundesdeutschen Grundgesetz als "politische Willensbildung" zum Auftrag der Parteien erklärt. Gar nicht mal so daneben, diese Definition. Um das Aktivieren des mündigen Staatsbürgerwillens, also um die Sammlung von Wahlkreuzen für die eine oder andere Partei geht es ja schon.

II. Programme

Parteiprogramme, die ab und an den, wie es heißt, "veränderten Bedingungen" angepaßt werden und mit denen die politischen Alternativen im Lande ihre unverwechselbare Richtung (für die Zukunft) angeben, stellen gleich in dreifacher Hinsicht einen Betrug der umworbenen Menschheit dar. Erstens in der Vortäuschung, daß die ideologische Masche, auf die eine Partei setzt, sich umgemein von den Werten unterscheiden würde, die andere Parteien gepachtet haben wollen. Zweitens steht von vorneherein fest, daß die Verwirklichung der programmatischen Ober- und Unterideale, so man die Regierungsmacht erreichen sollte, an allen möglichen Hindernissen in Gesellschaft und Staat scheitert, also nur annäherungsweise gelingt und eine langfristige ewige Aufgabe bleibt. Drittens handelt es sich um Staatsideale, die den Gegensatz von Staat und Bürgern in eine große Gemeinschaft umdichten und die unübersehbaren, für die Klassen sehr verschiedenen, Wirkungen der Staatstätigkeit zu "unser aller Nutzen" verhimmeln.

Aus den paar hohen Ideologien, die sich nur mehr durch den Schein mehr oder weniger großer Bürgernähe unterscheiden, haben sich die C-Parteien die hehren Prinzipien von Recht und Ordnung ausgewählt. Für deren Sicherung oder Rettung kann der Staat gar nicht stark genug sein, weil sonst die christlichen Werte zuschanden gehen und die persönliche Freiheit des Einzelnen nicht mehr gewährleistet ist. Die Liberalen wiederholen sich auch ständig, wenn sie, ohne rot zu werden, beteuern, daß von der Freiheit und persönlichen Würde des Bürgers das ganze Staatswesen abhängt, und so tun, als kämpften sie für einen Staat, der weniger ins Individuum hineinregiert, als er hineinregiert. Für die Sozialdemokraten mangelt es - um so mehr, wenn sie in der Opposition sitzen dauernd an sozialer Gerechtigkeit und Freiheit der mündigen Bürger. So ein Mißstand untergräbt nämlich das Vertrauen in den Staat und zerstört den nationalen Konsens. Gern pflegt diese Partei den trotzdem nicht auszurottenden Ruf, sie würde sich mehr als die anderen Parteien um die Armen und Unterdrückten kümmern - was sie nicht einmal verspricht - und irgendwie doch eine Heimstatt für das bißchen Opposition im Lande sein. Die Grünen sind mit den neuen Werten Ökologie und Natur sowie saubere Politik und Basisnähe angetreten und haben daran ihre Wählbarkeit entdeckt. Da sie sich nun aber doch im Parlament und in Regierungsverantwortung die Finger schmutzig machen und einsehen, daß eine Partei vor allem Wähler braucht, blättert der Schein des ganz anderen konsequent ab. Das Feld der Ideologien und Taktiken der größen etablierten Parteien haben sie längst betreten, weil ihnen der Vorwurf der Regierungsunfähigkeit doch sehr nahegegangen ist. Bornierte grüne Extra-Vorhaben werden zunehmend ausgemerzt, weil sie potentielle Wählergruppen oder -schichten abschrecken könnten. Natürlich darf darüber das unverwechselbare Alternativgesicht nicht verlorengehen.

Warum die eine Partei konservativ, die, andere liberal, die dritte fortschrittlich-reformatorisch und die vierte vor allem grün sein soll, ist heutzutage nicht mehr so einfach zu entscheiden. Als Wahlkampfmaschinen möchten alle Parteien etwas von allen diesen ideologischen Richtungsvarianten für sich beanspruchen - selbst die grüne Ideologie nehmen die drei alten Parteien in ihr Programm mit auf, weil sie diese neue Partei einfach nicht mögen; sie stört die gewohnte Parteienkonkurrenz. Natürlich wird, wenn es zum Zwecke der Wählergewinnung opportun erscheint, "konservativ" weiterhin in das Schimpfwort reaktionär ("rückschrittlich") umgemünzt, fortschrittlich-liberal bewußt mit sozialistisch-umstürzlerisch und Freigeistertum verwechselt oder grün als chaotisch denunziert. Mehr steckt aber auch nicht dahinter.

Die Programmatiken, ebenso die aktuellen Versprechungen für die nächste Legislaturperiode, die man in der Opposition gut machen kann und keineswegs einhalten muß, wenn einem die Regierungsverantwortung zufällt, stellen zwar für die Konkurrenz der Parteien um den Wähler ein notwendiges Mittel dar - ein Parteiprogramm, ein Wahlprogramm muß schon sein, mit festen Konturen und zündenden Sachinhalten und so. Aber die Zweifelhaftigkeit ihrer unterscheidenden und gewinnenden Wirkung ist den Parteien durchaus bekannt. Der Betrug ist ja offensichtlich; er wird vom Volk und in aller Öffentlichkeit mit der blöden Weisheit "Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!" vorurteilslos festgestellt. Der Irrwitz, daß sich die Parteien mit glaubwürdig(er)en Lügen auszeichnen wollen, bestätigt diesen Sachverhalt. Für schlagkräftiger wird daher das Programm gehalten, sich dem Heimatvolk als die besseren Deutschen anzuempfehlen, die sich von den Russen schon gar nicht, von den Amis aber auch nicht etwas sagen lassen, und den Konkurrenzparteien einen Ausverkauf deutscher Interessen vorzuwerfen, was die andere Partei genauso zurückgeben kann. Weiter beliebt bleibt auch der inhaltslose Angriff der Opposition auf die Regierungsparteien, sie hätten, weil schon so lange im Amt, endgültig abgewirtschaftet sich "verbraucht" -, während die Regierung allen Ernstes davor warnt, daß die Opposition an der Regierung das Land in ein furchtbares Chaos stürzen werde, obwohl die doch gerade mit ihrer unverbrauchten Ordnungskraft angegeben hat. Endgültig verabschiedet man sich aber davon, den Wähler mit idealen Entwürfen, mittelfristigen Richtlinien und kleineren Rentenopfern - also den sogenannten Sachaussagen - zu betören, wenn die Rolle der Persönlichkeit im Wahlkampfprogramm der Parteien zu ihrem Recht kommt.

III. Personen

In den Parteien haben die Personen, die für wert befunden werden, als sogenannte "Zugpferde" die Wähler zu betören, einen langen und schwierigen Weg hinter sich. Der selbstlose Einsatz für die unantastbaren Ideale der Partei und deren Wohl, damit Schaden vom deutschen Volk abgewendet wird, beginnt schon bei der schweren Frage, welche Partei so etwas wie eine halbwegs gesicherte Karriere verspricht (sollte sich später herausstellen, daß nichts daraus wird, bleibt einem die Möglichkeit, gradlinig und mit einer furchtbar tiefen Begründung in ein anderes Lager überzuwechseln). Parteikarriere verlangt dem Mitglied, das nach oben will, einige menschliche Qualitäten ab: Heuchelei an der richtigen Stelle; Einsatz für die Partei, der oben bemerkt wird; opportunistische Zielstrebigkeit, die es sich in dem pluralistischen Parteimischmasch mit niemandem verdirbt, solange man sich noch nicht genug Förderer zusammengeschleimt hat mit dem Versprechen, sie zu fördern; entschiedenes Auftreten, wenn es darum geht, einen Konkurrenten ohne Fortune und Hausmacht auszubooten; gutes Gespür dafür, welche Figur in der Partei Zukunft hat, damit man sich an sie anhängen kann; Jovialität (aber auch mal Strenge!) nach unten, Anbiederei nach oben; kalkulierter Einsatz des vermeintlichen eigenen Charakters... Also all der Charakterlosigkeiten, die ein Politiker in Amt und Würden so dringend benötigt, hat sich der aufstrebende Parteikarrierist zu befleißigen, damit er erst höherer Funktionär wird, dann irgendeinen kommunalen Posten bekommt oder sofort in den Landtag einzieht; schließlich in den Bundestag. Erwischt die Partei die Regierungsverantwortung, werden darüber eine Menge Posten für Parteifunktionäre freigemacht und Arbeitsplätze geschaffen. Wie weit es der Parteikarrierist bringt, hängt letztendlich nur vom Erfolg in der Partei, also vom Erfolg bei den Wählern ab. Nach diesem Gesichtspunkt werden ein paar Menschen von der Spitze der Partei (wenn sie noch nicht ganz in der Spitze waren, kommen sie dann selbstverständlich sofort rein) zu Zugpferden im Wahlkampfrennen gekürt. Am Ende bleibt jeweils einer übrig, der Kanzler der Regierungspartei (die FDP nimmt einen Minister; die CSU hat Strauß), der Kanzlerkandidat der Opposition (die Grünen weisen bisher nur so basisnahe Mannschaften wie Otto Schily und Petra Kelly auf).

Diese auserkorenen Wahlkampfmatadore werden von der Partei so ausgestopft - "aufgebaut" heißt das in diesen Kreisen -, verkauft und in Szene gesetzt, wie es die Umfrage, was Wähler mögen, positiv auflistet. Und offensichtlich finden die Kandidaten die Schönheitskorrekturen am eigenen Leib und Charakter auch nicht zum Kotzen, sondern für parteipolitisch notwegdig - sie grinsen flockig in die Kamera, um dann ohne Übergang höllisch ernst zu werden. Da müssen die Wahlkampfstrategen der Partei genau aufpassen: Führungsqualitäten dürfen nicht in herrschaftliche Abgehobenheit ausarten. "Sachverstand" muß Mann/Frau vortäuschen können, aber auch Gefühl zeigen. Vaterfigur mit Frau und frischem Kind macht sich nicht schlecht, zumal wenn sie sich zum Landesvater ausbauen läßt. Jovialität ist gut, aber ungut, wenn der vorgestellte zukünftige Führer niveaulos im gemeinen Volk versumpft. Humor muß unbedingt sein. Wer lacht schon nicht gern, wenn einer aus der Bibel vorliest? Und wem zieht es nicht bei der Zwerchfellbeanspruchung die Socken aus, wenn der Kanzlerbonus einen hellwachen Scherz bereitet? Begriffslos ist deshalb die ganze Angelegenheit noch lange nicht: Die Parteidisziplin gebietet, daß die personelle Verkörperung des Parteizwecks - wir wollen die Mehrheit - dem Kandidaten bis in die Visage und Gestik hineingeprägt wird. Und der Charakter, so er einen besitzt, hat sich dem eines mitreißenden Zugpferds anzunähern.

Auf Parteitagen, auf denen das Wahlprogramm zügig verabschiedet wird, wo kontroverse Themen nach harten Kontroversen geschlossen beendet werden und die heiße Frage der Frauenquoten dem Vorstand zur weiteren Bearbeitung überantwortet wird, weiß die Partei die Büttenreden des Kandidaten so einzurichten, daß in seinen Pausen auch wirklich geklatscht wird und das Fernsehen nicht verpaßt, wenn der Kanzler oder der Kandidat zum siebtenmal beteuert, daß er nicht ohne sie und sie nicht ohne ihn, also beide nur ganz zusammen den Sieg schaffen können. Das kämpferische Getue, wenn der Kandidat laut wird, die Wahlen, die demonstrieren sollen, daß die Delegierten hinter ihrem Mann stehen, haben nichts mit dem 'inneren Zustand' der Partei zu tun, sondern sind für die Medien und die Öffentlichkeit in Szene gesetzte Bilder. Dafür strahlt der Kandidat Siegesgewißheit aus oder den festen Glauben an den Erfolg, indem er nur häufig genug wiederholt, daß "wir es schaffen".

IV. Erfolg

So kommt die Politische Willensbildung notwendig zu ihrem begrifflichen Endpunkt, wie er in seiner Begriffslosigkeit der Funktion der Partei als Wahlkampfmaschine voll und ganz entspricht. Die Partei, der Kandidat, die Wahlkampftaktik müssen Erfolg haben, weil der der sicherste Garant für den Erfolg ist. Daß einer der Kanzler ist, eine haushoch gewonnene Wahl in einem Bundesland, eine abgewehrte Niederlage in einem anderen, das beeindruckt den politisch ausgebildeten Willen der Wähler sehr, weil so sein Wille beweisen kann, wie gebildet er geworden ist. Deshalb, wegen des Erfolgs, lassen Parteien Programmatiken fallen, die sie gestern noch zu zukunftsweisenden Säulen ihrer politischen Richtung erklärt haben, und erfinden neue. Deshalb sägen sie einen vorher in den politischen Himmel hochgelobten Kandidaten ab und küren mit lautem Getöse einen neuen, den sie zwar für etwas blöd. halten, der aber nun mal einen unübergehbaren Wahlerfolg vorzuweisen hat, während sich der alte Kandidat durch seine Niederlage verschlissen hat. Die Parteien erfinden deshalb Wahlkampfstrategien, lassen in Meinungsumfragen testen, ob der blöde Bürger darauf abfährt oder nicht, und ändern "Zukunft" in "vorn" oder auch nicht; je nachdem, was der abfragbare Erfolg nahelegt. Da die Meinungsumfrage den praktischen Erfolg theoretisch vorwegnimmt, ist sie selbstverständlich ein passendes Mittel des Wahlkampfs der Parteien.

Denn die Glaubwürdigkeit, mit der sich die Parteien beim Wähler beliebt machen, unterstellt den Betrug und macht das allgemeine Wissen darüber zum Mittel seines Gelingens. Programme, Personen und Wahlstrategien ziehen nur, wenn man sie ins rechte Licht zu rücken versteht. Sie müssen als Bemühung vorgestellt werden, dem Wähler das Bild eine wählbaren Partei zu präsentieren. Daß der ganze Zirkus für den Wähler veranstaltet wird, auf ihn aber auch nicht mehr als mit eben diesem Zirkus Rücksicht genommen wird - das ist das letzte und schlagendste Argument einer demokratischen Partei.

Parteien sind Vereinigungen der Prinzipienlosigkeit, des Betrugs und des Zynismus, Ansammlungen von prinzipienlosen, heuchelnden und zynischen Politikern und Postenjägern hochkarätigster Sorte. Aber das ist keine demokratische Verirrung, sondern von der demokratischen Grundordnung ausdrücklich vorgesehen: Parteien konkurrieren um die Macht und buhlen deshalb um die Wahlkreuze derer, über die sie regieren wollen. Für diesen Zweck liegen die Parteien so, wie sie sind, und in dem, was sie tun, völlig richtig. Auch damit, daß sie den Bürger beschimpfen, wenn er nicht so gewählt hat, wie sie es wollen, stehen sie fest auf dem Boden der demokratischen Grundordnung.