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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1986 erschienen.

Systematik

Der ganz normale Nationalismus
VON DEN UNERSCHÖPFLICHEN CHANCEN, SICH ALS GUTER DEUTSCHER AUFZUFÜHREN

Das Selbstbewußtsein, Deutscher und als Deutscher einiges wert zu sein, ist schwer in Mode. Vom gestiegenen Ansehen deutscher Politiker bei den restlichen hohen Herren dieser Welt; von liebsamen und vor allem unliebsamen Ausländern; vom Respekt, den das andere Deutschland der Bundesrepublik einfach schuldig ist; von deutscher Art bei der Bewältigung sämtlicher Restrisiken des politischen Lebens; von deutschem Siegeswillen auf den Center Courts der freien Welt; von Lust und Leid des deutschen Fußballwesens, an dem die Welt immer nicht genesen kann: davon bekommt man täglich überreichlich Kunde. Von unten wie von oben wird ziemlich ungeniert und willkürlich an allem der immergleiche Gesichtspunkt geltend gemacht, ob und wieweit damit nationale Ehre eingelegt werde. Weniger denn je läßt sich übersehen, daß die früher nicht selten gepredigte Zurückhaltung in Sachen demonstrativer Nationalstolz die nur schweren Herzens ertragene Einschränkung eines elementaren Gemeinschaftsbedürfnisses war. Zwar gibt es sie weiterhin, die Fans einer selbstauferlegten schamvollen Bescheidenheit wegen Deutschlands unseliger Vergangenheit. Und es gehört unter kritischen Menschen zur guten Sitte, vor Nationalismus zu warnen. Daß aber für jeden zufällig in diesem Staatswesen Geborenen eine besondere Beziehung zu und Bindung an dieses Gemeinwesen selbstverständlich und quasi natürlich ist, davon sind noch die ärgsten Warner vor nationalistischen Umtrieben überzeugt. Ergreifen sie doch im Namen des deutschen Ansehens Partei für ein 'gesundes Nationalgefühl'. Insofern treffen sie isch mit denen, die - immer den 'vaterlandslosen Gesellen' auf der Spur - sich als Anwälte eines Rechts, ja einer Pflicht zu mehr Patriotismus aufspielen, die gegen die deutsche Sühnepose die "Gnade der späten Geburt" ins Feld führen und ihr Volk gar nicht stolz genug über "unsere" Stellung in der Welt sehen können.

Was da als elementare allerpersönlichste Einstellung mit dem denkbar unpersönlichsten Inhalt öffentlich beredet, allenthalben beschworen, zu mehr Mäßigung oder auch Betätigung aufgerufen, immer aber gebührend mit Material versorgt und angeleitet wird, ist freilich so natürlich und menschenursprünglich gar nicht. Wenn deutsch denken, wahrnehmen, fühlen die Form einer an allem Möglichen und Unmöglichen sich betätigenden selbstverständlichen Grundeinstellung hat, dann liegt das allein daran, daß ein mündiges Volk die notwendigen Übergänge zu einer solch selbstbewußt selbstlosen Betrachtungsweise immer schon hinter sich hat, wenn es unter kundiger Anleitung das tägliche Sich-Interessieren, Argumentieren, Denken und Fühlen anfängt. Das verbreitete Interesse an allgemein einsehbaren Erfolgen der Gemeinschaft, wie wenn sie jedermanns Sache wäre, der anerkannte Wahn, Deutscher zu sein sei kein Zwangsverhältnis, sondern eine Eigentümlichkeit, beruhen auf einem falschen Urteil, das jedem Bürger als Vor-Urteil in Fleisch und Blut übergegangen ist. Behauptet ist da nämlich jedesmal auf die eine oder andere Weise, daß die Sache der Nation mit den persönlichen Anliegen des Bürgers zusammenfällt, der ihr angehört oder doch zumindest zusammenfallen müßte, wenn diese Übereinstimmung vermißt wird.

Nationale Gesinnung - ein moralisches Grundsatzurteil

Bei der kollektiven Auffassung, die eigene Nation verdiene und kriege Unterstützung, weil in ihren Erfolgen die Interessen und Bedürfnisse des Bürgers zum Zuge kämen, handelt es sich um eine produktive Lüge. Diese Lüge läßt sich einerseits mit einem unvoreingenommenen Blick in den Alltag der politischen Großtaten, auf die Praxis der nationalen Reichtumsvermehrung in heimischen und ausländischen Betrieben, auf die vergangenen und gegenwärtigen Ansprüche der Volksvertreter nach innen und außen und die Mittel und Methoden ihrer Durchsetzung widerlegen. Andererseits ist dem verbreiteten Wahn damit überhaupt nicht beizukommen, beruht und beruft er sich doch auf eine Interpretation dieser allenthalben mit Händen zu greifenden Gegensätze zwischen Herren und Untertanen, in welcher die politische Gewalt mit ihren Ansprüchen an die Bürger in einem verständlichen und notwendigen Licht erscheint. Vorgestellt wird sich da nämlich die Gesellschaft samt ihrer gewaltsamen politischen Klammer als ein arbeitsteiliges Verhältnis von lauter Diensten an einer gemeinsamen Sache, zu der jeder seinen Teil beizutragen hat und in der jeder soweit auch seinen gebührenden und zufriedenstellenden Platz finden kann.

Nach der einen Seite hin sind es damit also nie und nimmermehr die schlichten materiellen und sonstigen Bedürfnisse, an denen da die Gemeinschaft gemessen wird. Sie sind ja verwandelt in den gerechten Lohn und angemessenen, Ertrag, den so ein mehr oder weniger gewöhnlicher und aufwendiger Beitrag zum großen Ganzen rechtfertigt. Und da bringt es die vorgegebene Arbeitsteilung in Verantwortliche und Betriebslenker auf der einen, Belegschaftsmitglieder sowie Steuerzahler auf der anderen Seite von Haus aus mit sich, daß hier die Ansprüche nicht in den Himmel wachsen. Sie richten sich nämlich nach den ideologischen Titeln, die Politik und Öffentlichkeit für die dem Volk im Unterschied zur Herrschaft zustehenden Lebensumstände erfunden haben. Mehr als ein sicherer Arbeitsplatz, ein bißchen Frieden, eine gefestigte Rente etc. wird da von Haus aus nicht ernsthaft für rechtmäßig angesehen.

Nach der anderen Seite geben aber auch nicht die wirklichen Leistungen der Politik den Maßstab für das Bild einer nationalen Gemeinschaft ab, in der man sich wie jeder andere irgendwie aufgehoben und eingeordnet fühlen soll. Auch hier sind es die politischen Ehrentitel des gelungenen gesamtgesellschaftlichen Zusammenspiels von verantwortlichem Einsatz und entsprechendem Anteil am nationalen Arbeitsertrag, an denen sich ein zivilisierter Staatsbürger orientiert: Das eigene kleine Glück hängt ganz von den Fortschritten und Notwendigkeiten des großen Ganzen ab, dem vom Tellerwäscher bis zum Kanzler jeder auf seine Weise dient. So kennt denn ein jeder von Haus aus auch den Unterschied zwischen der nationalen Sache, als deren Teilhaber er sich fühlt, und den legitimen Ansprüchen, die diese Teilhabe ihm eröffnet; er kennt und akzeptiert den Unterschied von oben und unten - und wird über der ständigen praktischen Widerlegung seiner Auffassung nicht einsichtig, sondern radikal. Schließlich ist es der eigene Dienstwille, der sich da selbstbewußt zum Richter über das gelungene Zusammenwirken der nationalen Kräfte aufwirft. Dem fällt deshalb auch nicht die Unwahrheit seines Urteils auf, sondern lauter Differenzen zwischen Anspruch und Verwirklichung. Er macht sich daher stark für den Fortschritt der Nation, damit es mit den Lebensprogrammen des Bürgers endlich vorangeht. Aufgrund der Abhängigkeit von den nationalen Erfolgen, denen sich so ein anerkanntes Staatsmitglied verpflichtet weiß - schließlich beurteilt es sie ja als sein Lebensmittel, auf daß es mit seinen nützlichen Anstrengungen legitimen Anspruch hat - besteht es auf dem Recht, daß allen nationalen Anstrengungen ungehindertes Gelingen beschieden sei.

So ist die nationale Gesinnung zu einem moralischen Grundsatzurteil verfestigt, das sich einerseits an allem und jedem betätigt und andererseits freigemacht hat von der Überprüfung seines Ausgangspunktes. In der Form der Begutachtung und Beurteilung des in- und ausländischen Gemeinschaftslebens klagt diese Gesinnung das eigene Lebensprogramm nur noch als Dienst aller anderen an der gemeinsamen Sache ein. Und über dem Ausbleiben des für angemessen betrachteten Lohnes wird sie nicht radikal gegen die Zwangsgemeinschaft, sondern gegen die vernachlässigte Pflichterfüllung des Rests der Welt, auf die er als rechtschaffener Bürger und selbsternannter Anwalt der höheren Anliegen einen ordnungsgemäßen Anspruch hat. Diesen Anspruch interessieren also keine Gründe, sondern Schuldige und Verantwortliche für Ge- oder Mißlingen der höheren Vorhaben, so wie sie sich der brave Untertan mit seiner nationalistischen Lüge zurechtgedacht und mit entsprechender Anleitung eingebildet hat. Und in dieser, sein tägliches Treiben begleitenden Übung erfährt ein solcher Untertan von allen Seiten nur Bestätigung. Einerseits, weil in einem fortschrittlichen Staatswesen wirklich alles nach Maßgabe politischer Ansprüche eingerichtet und ständig durchgemustert wird. Andererseits, weil sich dabei ein

Jeder als Anwalt einer nationalen Sache

vorstellt und die anderen als Anwälte derselben Sache anspricht, um sie darauf, bzw. auf das, was er darunter verstehen möchte, festzulegen. Und die Erfahrung, daß privates Streben und nationales Trachten meist gegeneinanderstehen, widerlegt da, recht betrachtet, gar nichts. Im Gegenteil. Genauso, wie man sich selber nur zu gerne bloß scheinheilig auf die höheren Notwendigkeiten beruft, begegnet man allen anderen in ihrem geäußerten Diensteifer mit Mißtrauen, anerkennt also, daß man von ihnen genauso und nicht zu Unrecht beargwöhnt wird: Damit behandelt man die Anliegen der Nation wahrhaftig als etwas Vorgegebenes, vor dem private Ansprüche zurückzustehen haben, die anderer, aber auch die eigenen. Daraus folgt dann wieder ein gutes Recht auf nationales Gelingen.

Mit diesem zur natürlichen Gesinnung verfestigten Standpunkt mustert der aufgeklärte Demokrat ziemlich wahllos, aber zielstrebig die ganze Welt durch, ohne sich mit Prüfungen theoretischer Art groß aufzuhalten. Der Ertrag solchen Denkens besteht in lauter "Beweisen", daß die Scheidelinie in Recht und Unrecht, Gut und Böse mit den Anliegen der Nation nach innen und außen zusammenfällt, oder eben gerade nicht. Egal, wie dieses Urteil ausfällt, es ist damit bewiesen, was unterstellt war: Daß alles Deutsche letztlich in Ordnung geht, oder aber die Welt nicht in Ordnung ist, weil das nationale Gutachterwesen nicht wie verlangt fündig geworden ist. Zufriedenheit und Ärger sind also gleichermaßen garantiert. Und sie beziehen sich nicht auf ein zum Zuge gekommenes eigenes Interesse, klagen umgekehrt keinen materiellen Lohn ein. Verlangt und genossen oder vermißt wird der ideelle Lohn für den Eifer, mit dem man zur nationalen Sache steht: ihr Vorankommen.

Mit der beanspruchten Dienstbarkeit und dem entsprechend rechtschaffenen Selbstbewußtsein wächst einer erfolgreichen Nation daher auch eine entsprechend nationale Gesinnung zu. Mit jedem gefeierten Erfolg auf den Feldern der nationalen Ehre entwickeln sich die anspruchsvollen Maßstäbe für Stolz und neue Unzufriedenheit, die nach entschiedenem Handeln verlangt. So gedeihen mit den bundesrepublikanischen Staatsanliegen auch die Manieren, Deutschland über alles zu stellen und das Recht auf seinen Erfolg einzuklagen. Umso mehr, als ihre öffentliche Anstachelung und Betreuung mit dem Fortgang der nationalen Vorhaben ebenfalls gedeiht.

Nationalfeiern: Schwarz-rot-goldener Gefühlsanspruch

Die öffentliche Debatte über den Zapfenstreich ist vorbei: Er wird feierlich begangen und kundgemacht. Die Debatte um die ungeteilte Nationalhymne schreitet voran. Der Fernsehbürger geht mit schwarz-rot-gold und Einigkeit und Recht und Freiheit zu Bett, zwei Strophen im Sinn. Die Zeichen für die Rechtmäßigkeit der staatlichen Anliegen sind öffentlich gefragt und werden den aufrechten Demokraten öffentlich präsentiert. Das sind die Herzstunden des überzeugten Nationalisten, in denen ihm der Staat als gemeinschaftliches "Wir", das ihn einschließt und erhöht, zur unmittelbaren Anschauung gebracht wird.

Aufmarsch, buntes Tuch und kommandierter Gesang, die inhaltsleeren Bebilderungen können auf Erläuterungen und Begründungen verzichten. Sie sind schon das ganze Argument für das abstrakte Gefühl, welches mit ihnen erweckt wird. Erläuterungen und Begründungen können dem Schauder, den Liebhaber dieser Zeichen regelmäßig empfinden und empfinden sollen, nur abträglich sein, zumal sie nur dem einleuchten, der diese Feiern nationaler Einigkeit mit seinem Staat schon befürwortet.

Ohne diese Zeichen, außerhalb der feierlichen Momente stellt sich ja das schlichte Gefühl, man wäre in einer Interessengemeinschaft aufgehoben, kaum ein. Und umgekehrt braucht man schon den Idealismus des Gefühls "hier lebe ich, dazu gehöre ich", um während der hehren Augenblicke das Erlebnis der Gemeinsamkeit zu genießen, auf das man es anlegt und das man sonst so oft entbehren muß. Zu nichts anderem sind ja auch diese Zeichen erfunden.

Auf der anderen Seite bleiben diese nationalen Momente keineswegs der Lust und Laune mehr oder weniger überzeugter Liebhaber deutschen Singens und Spielens überlassen. Die Unmittelbarkeit ehrfürchtigen Stolzes wird nämlich nicht nur laufend inszeniert, sondern gegen Störungen tatkräftig verteidigt. Der Staat verlangt kategorisch Achtung und Ehrerbietung vor den Zeichen; das Zusammengehörigkeitsgefühl kommt als Imperativ daher, dem sich jeder anständige Mensch in diesem Lande natürlich zu unterwerfen hat. Die Feier selbst, schließlich nicht umsonst vor und für Soldaten am erhebendsten und beeindruckendsten, symbolisiert den staatlichen Anspruch, für die Gemeinschaft, in der man sich aufgehoben fühlen soll, das alltägliche Berechnen und private Treiben im Ernstfall auch völlig hintanzustellen und ihr total zur Verfügung zu stehen: Die Lüge vom lohnenden Sterben wird wahrgemacht, indem dem Dienst bis zum letzten der ideelle Lohn nationaler Ehrbezeugung zuteil wird.

Am demonstrativen soldatischen Feierwesen ist manchem kritischen Menschen ein ungutes Gefühl gekommen angesichts der letzten Konsequenz, die die nationalistische Lüge einschließt. Nicht, daß sie die Lüge durchschaut und widerlegt hätten. Sie halten die Kriegsfeiern für einen Widerspruch gegen die guten Dienste und friedlichen Leistungen, zu denen die hohe Politik dem deutschen Volk gegenüber verpflichtet sei. Die Güte der Nation wollen sie in den segensreichen Zwecken guter Politik hochleben lassen. Und damit liegen sie gar nicht so gegensätzlich zu den überzeugten Zapfenstreichlern. Die "begründen" ihr selbstloses Hurra schließlich auch mit den nützlichen Leistungen, zu denen das Gemeinwesen sich seinen Mitgliedern gegenüber verpflichtet hätte und die es zu verteidigen lohne, auch wenn dann von ihnen nichts übrig bleibt.

Die volkstümlichen Leistungen der Nation Arbeitsplätze und andere knappe Güter

Bei seinen Erwartungen an die Nation greifen Politik und Öffentlichkeit dem Bürger hilfreich unter die Arme und buchstabieren ihm konjunkturgerecht vor, wie seine Ansprüche gelagert sein müssen, damit sie zumindest theoretisch vor den Verwaltern der Gemeinschaft als sein Recht Anerkennung finden. Zum Beispiel das Recht auf einen "Arbeitsplatz", dem heutigen Inbegriff dafür, wie nationalistische Forderungen nach Volkswohlfahrt gehen.

Das allgemeine Anspruchswesen hat, wo es sich zu Wort meldet, das Lohnabhängigkeitsverhältnis längst in ein komplementäres Verhältnis gesellschaftlicher Rechte und Pflichten verwandelt. Der behauptete soziale Beruf von Unternehmern ist es, als "Arbeitgeber" Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Der Beruf "Arbeitnehmer" ist es, für Lohn Profitables zu leisten. Der Beruf der Politik ist die tatkräftige Unterstützung von beidem. Umso mehr, je mehr Volksmitglieder nicht beschäftigt sind. Die Wahrheit, daß Produktivitätssteigerung und nationales Kapitalwachstum Arbeitskräfte überflüssig machen und außer Brot setzen, sieht sich, so betrachtet, genau umgekehrt an: Arbeitsplätze sind ein zunehmend knapperes und deshalb zunehmend wertvolleres Gut, dessen Besitz ein Glück und eine feine Gemeinschaftsleistung ist, dessen Fehlen aber der ganzen Nation zu schaffen macht und einen jeden zur Verdoppelung seiner spezifischen Anstrengungen verpflichtet.

So gern die sozialen Marktwirtschaftspolitiker die Anwendung der Ausbeutungsobjekte unter dem Titel "Arbeitsplätze durch Wirtschaftsaufschwung" ihrem nationalen Pflichteifer zuguteschreiben und als ihre ureigenste Leistung reklamieren, so wenig lassen sie sich andererseits daran messen und weisen die Schuld für das Arbeitslosenheer entschieden von sich. Aus der dialektischen Anwendung dieser Logik durch Regierung und Opposition ergibt sich für gebildete und ungebildete Nationalgemüter ziemlich zwanglos ein Übergang zu einem weitergehenden Anspruch an nationale Politik. Aus der Differenz zwischen dem allseits gepflegten Recht des Volks auf produktive Benützung und seiner Realität in Gestalt eines umfangreichen Arbeitslosenheeres schließen Arbeitsplatzfans nämlich nicht, daß sie sich selbst mit solch bescheidenen Lebensperspektiven in der Nation ziemlich getäuscht haben. Lieber schließen sie darauf, daß - alle Versäumnisse einmal abgerechnet, die man dieser oder jener Partei gerne ankreidet, die zum Arbeitsplatzschaffen berufen sei - dann wohl letztlich einfach nicht mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stünden, man also mit den vorhandenen haushalten müsse. Das Vertrauen in die Bemühungen der eigenen Führungsmannschaft verlagert sich deshalb auf die Überprüfung, ob es denn mit der Verteilung dieses knappen Guts auch seine Richtigkeit hat, und wo sonst die Schuldigen dafür zu suchen sind, daß mehr nicht zu verteilen ist. Fündig zu werden fällt da nicht schwer: Das Ausland ist schuld - und zwar in Gestalt konkurrierender fremder Kapitalisten und in Gestalt von Fremdarbeitern. Mit gewerkschaftlichen Vorrednern wird vor den Japanern und anderen gewarnt, die unseren Markt kaputtmachen und unsere Betriebe aufkaufen, also unsere Arbeitsplätze vernichten. Auf der anderen Seite zählt dasselbe Gebaren von Seiten deutscher Unternehmer ebenfalls unter die ausländischen Anschläge: Allzuviele Türken besetzen unsere Arbeitsplätze. Jeder könnte natürlich merken, daß Türken wie er deutsche Wertarbeit leisten, weil die Anwender bei billiger Arbeitskraft keine Nationalität kennen. Auch ist ziemlich unübersehbar, daß deutsches Kapital in Japan und anderswo mit der und gegen die Konkurrenz für alle Märkte der Welt produziert und auf allen Märkten der Welt verkauft. Bloß schert sich der volkstümliche Inter-Nationalismus darum wenig. Brave Arbeitnehmer, die sich auf ihre Rechtschaffenheit und ihren Respekt vor Vorgesetzten viel zugutehalten, werden darüber nicht selten radikal - in Gedanken auch mal gegen den fremden Kapitalisten, und gegen die ausländischen Mitarbeiter sowieso.

Umgekehrt reden gewiefte Gewerkschaftler und Parteipolitiker den Beschäftigten und Entlassenen auch ein, es läge an der mangelnden Pflichterfüllung der heimischen Anwender von Arbeitskraft, deren Miß-Management, wenn ihr Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz wieder mal nicht zu verwirklichen geht. Oder sie stellen ihnen die ausländischen "Kollegen" als eine lobenswerte opferbereite Dienstmannschaft vor, ohne die deutsches Wirtschaften doch gar nicht mehr auskommen könne. Das gilt bei kritischen Menschen schon als Gipfel der Völkerfreundschaft und des Kampfes gegen Ausländerfeindschaft - gegenwärtig mehr denn je. Augenblicklich wird nämlich in Politik und Öffentlichkeit die Auffassung gefördert, die knappen Güter vom Arbeitsplatz bis zu den Sozialhilfekassen müßten für deutsche Bürger reserviert bleiben und dieses Land sei noch für den erbärmlichsten Sozialfall ein Privileg, das ihm erhalten werden muß und soll.

Die Asylanten: Untragbare Anspruchsdenker

Seitdem die Elendsfiguren aus den Hunger- und Kriegsgebieten der Welt als Asylantenflut vorgestellt wurde, die aus dem Bildschirm quoll - so wurde ein politischer Beschluß nämlich fürs Volk ins Bild gesetzt -, gibt es sie eigenartigerweise wieder, die verständliche Angst vor Überfremdung, mit der Politiker unbedingt verantwortlich umzugehen haben und über die sie sich nie wie über andere unliebsame Meinungen hinwegsetzen können. Seitdem die Verantwortlichen beschlossen haben, die vielen lästigen und die wenigen politisch erwünschten Asylanten wieder strenger zu trennen, haben sie außerdem entdeckt, daß Deutschland zwar ein Asylrecht hat, aber kein "Einwanderungsland" ist, "das Boot" BRD zum Untergehen "voll" und jeder Asylant einer "zu viel" ist.

Damit sind gute Deutsche völlig ausreichend informiert und voll bei der Sache, ohne sich um die Spitzfindigkeiten der Parteien, wie man den Zustrom der unerwünschten Asylanten am besten verhindert und sie am effektivsten abschiebt, noch groß zu kümmern. Man hat ja mitgeteilt gekriegt, wer im Augenblick für die Politik untragbar ist, also sind das auch entsprechende Typen. Als wäre die Bescheidenheit, auf die der Dienst an den nationalen Aufgaben verpflichtet, eine von deutschen Bürgern erfundene Zier und an den Elendsgestalten aus der "Dritten Welt" vorn und hinten nicht zu entdecken, machen die Leute im Lande an den Figuren, die ihr Staat nicht mehr will, eine untragbare Anspruchshaltung aus. Dafür halten sie an den Reden ihrer Politiker einfach all das fest, was die behaupten, daß die Asylanten natürlich nicht alle wären, aber...

Weil die Asylanten mit Arbeitsverbot belegt werden, um den unerwünschten Grenzgängern eine auch noch so mickrige Existenz gleich unmöglich zu machen, handelt es sich zweifelsfrei um "Schmarotzer", "Drückeberger" und "Nichtsnutze". Weil sie nicht als freiheitsliebende Arbeitsplatzsuchende aus dem Unrechtsregime mit den leeren Regalen über die Mauer geflüchtet, sondern über Berlin Schönefeld ausgeflogen worden sind, haben sie es als "Wirtschaftsasylanten" auf "unsere Arbeitsplätze" abgesehen und auf "unseren Reichtum". Weil sie mit Care-Paketen und Taschengeld in Sammelunterkünften gehalten werden, leben sie auf "unsere Steuerzahlerkosten" in Saus und Braus, jedenfalls immer zu gut. Und da es sich nun einmal nicht um afghanische "Freiheitskämpfer" handelt, ist auch hier alles klar: "Politische Flüchtlinge"? Warum sind die denn von zu Hause abgehauen? Doch wohl, weil sie keine normalen Bürger sind, die schauen, daß und wie sie mit gegebenen Bedingungen zurechtkommen.

Man kennt sich also prinzipiell aus, wenn auch das Unterscheiden nicht immer ganz leicht ist, man des öfteren mal die eine mit der anderen Mannschaft verwechselt und im Falle eines so dringlich vorgestellten nationalen Problems überhaupt leicht genereller wird, als es die Politik gerade vorexerziert und vorsortiert. So anspruchsvoll sind Nationalisten: Alles, was sie einzustecken haben, klagen sie als Glücksfall ein, den ihr Staat vor mißbräuchlicher Benützung zu schützen hat. Wozu sie der Neid, zielstrebig aufgestachelt, anstachelt, ist das fordernde Bekenntnis zur eigenen Genügsamkeit und Folgsamkeit. So liefern Bürger, die auch schon einmal eine Brandbombe in eine Sammelunterkunft werfen, ein einziges Lebensbekenntnis ab, worin ihr Lebensanspruch im Grunde besteht: daß mit ihnen ein starker Staat gemacht wird, der sich gegen Ansprüche durchsetzt. Deswegen ist es der Staat, der durch die Asylanten in Gefahr gerät - dann nämlich, wenn er seine Absicht kundtut, sich ihrer zu entledigen, soweit sie ihm nicht ins Konzept passen.

Bessere Deutsche wittern im so bestätigten Ausländerhaß einen Volksanspruch, vor dem sie unbedingt die Politiker warnen müssen. Im Verein mit Gottesmännern sehen sie das deutsche Ansehen in Gefahr - was ihnen offenbar auch das Wichtigste ist - und geben zu bedenken, daß die "deutsche Wohlfahrtsgesellschaft" jetzt doch noch einige angespülte Opfer verkraften können muß. Da wird weder die von oben ausgemalte Gefahr dementiert, noch der Ausländerhaß, der aus der erzwungenen Anspruchslosigkeit sein bestes Gütesiegel macht; und schon gleich nicht werden Recht und Pflicht der Politiker bestritten, mit diesem Angebot von unten erfolgreich umzuspringen.

So ist das "Asylantenproblem" wieder da, wo es in die Welt gesetzt wurde: bei den Politikern. Erstens erscheint gegen die Volksstimmung, die sie erzeugt, aufgestachelt und mit entsprechender Orientierung versehen haben, der praktische Umgang der Politiker mit den Asylanten von vornherein als maßvoll. Zweitens ist diese Stimmung die passende Berufungsinstanz für jede politische Alternative in Sachen Asylantenrechtsregelung. Gegenseitig ermahnen sich die Parteien, die Asylanten nicht zum Wahlkampfthema zu machen - womit es eins ist -, die Zuständigkeit, die sie haben, nicht aus der Hand zu geben (weil sonst droht ein "Flächenbrand, der nicht mehr zu löschen geht"). Jede solche "Bremsung" der "irrationalen Stimmung" im Volk bringt diese wieder ein Stück voran und bekräftigt den Anspruch, daß Deutsche ein staatlich verbrieftes Recht auf die Betätigung ihrer Tugenden unter Ausschluß anderer haben und ihre Politiker alles tun, daß sich in das Einheitswerk keine Unberechtigten einschmuggeln. Und dafür wird ja längst gesorgt.

Umgekehrt geben die Politiker diesen Auftrag prompt an ihr Volk zurück und klagen das "Recht auf Leben" ein, weil sonst die Deutschen "auszusterben" drohen. Der Staat braucht nun einmal eigenes Material. Unter diesem abstrakten Gesichtspunkt wird über gemeinschaftsschädliches Anspruchsdenken geklagt, weil sich nicht jeder jedes Kind leisten will. Vereint mit Kirchenmännern entdecken Christenpolitiker im Foetus den Inbegriff der Achtung vor dem Leben, aus dem man keinesfalls aussteigen darf, und beklagen einen untragbaren Sittenverfall bei der Volksproduktion, die dem Staat naturgemäß zusteht. Versprochen wird dem Nachwuchs oder den EItern deswegen noch lange nichts. Also heißt es Abstand nehmen vom normalen Alltag der Moral und dem dazugehörigen Berechnungswesen, zumindest theoretisch. Kinder werden nun einmal nicht als Deutsche ins Leben gesetzt, sondern meistens, weil zwischen Laken und Bettdecke und auch überhaupt die Überlegung öfter aussetzt, womit der Staat ein Gutteil seiner Sorge ja schon los ist, ihm könnte das Volk ausgehen. Dennoch. Kaum gesagt, wird der Anspruch auf deutsches Leben auch schoon als berechtigter zur Kenntnis genommen und diskutiert. Zumindest an den vielen Ausländern kann noch jeder sehen, daß die Deutschen ziemlich wenig sind.

Das Ausland: Lauter "Probleme" für unsere Nation

An Tschernobyl war die Nicht-Einhaltung der bundesdeutschen Sicherheitsstandards für AKWs schuld. Das hat Zimmermann gleich gewußt. Als Hinweis, daß hier die gleichen sicherheitsheischenden Atommeiler stehen, von denen dieselben staatlich inszenierten Lebensrisiken für die Bevölkerung ausgehen, war das nicht gemeint. Einleuchten sollte dem mit Becquerel-Dosen vertraut gemachten Bürgern etwas anderes: Unsere Tschernobyls gehen in Ordnung und sind gefahrlos, weil sie unter deutscher Obhut stehen, während unsere Wallmanns für eine gute Absicht ausländischer Regierungen nicht garantieren können. An Cattenom entdecken deutsche Politiker, die den Atomstrom für unverzichtbar für "unsere" Wirtschaft halten, lauter lebensbedrohliche Gefahren, die Land und Leuten drohen; so als wäre die deutsche Grenze ein Schutzwall, der die nützliche und lebensnotwendige Atomenergie hier von der Strahlengefahr dort trennt. Die Störfälle und Sicherheitsmängel im französischen Kraftwerk lassen sie nicht ruhen - und nebenbei werden die gleichen Stör- und Unfälle aus deutschen Kernkraftwerken vermeldet. Der Verdacht wird erhoben, daß Paris sich nicht einmal in die Unterlagen gucken läßt, wenn deutsche Politiker sie dazu auffordern, um sie mit den guten deutschen Normen und Auflagen zu vergleichen. Wenn aber Österreich sich anmaßt, gegen Wackersdorf zu protestieren, dann ist das eine unverschämte "Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik". Daß unsere Politiker die Pflicht haben, sich wegen der Sorge um die Nation überall einzumischen, sich selbst aber nichts bieten zu lassen, wird dem Bürger an den verschiedenen Fällen als selbstverständlicher Anspruch seiner verantwortlichen Politiker mitgeteilt. Und nahegelegt wird ihm, dies damit zu verwechseln, daß er es in seiner Heimat - samt herumstehenden AKWs - gut getroffen hat.

So sehen Inter-Nationalisten mit deutschem Paß dann auch das Problem: "Wir und die anderen." Vom besonderen Anlaß, bei dem Bundesbürger eine Zeitlang richtig Angst gehabt haben wollten und Zimmermann Verharmlosung vorgeworfen haben, bleibt da nur noch ein Anspruch der abstraktesten, also härtesten Art: Wird deutschen Interessen auch auswärts genügt und nachgekommen? - samt dem Verdacht, daß unsere Politiker sich nicht entschieden genug bei den befreundeten Partnern wie bei den erklärten Feinden durchsetzen würden. So brauchen sie auch über nichts in der Welt eine Ahnung zu haben. Ihr sicherer Nationalstolz legt an alle Ereignisse, die in der internationalen Staatenwelt vorkommen immer die gleiche Meßlatte an: Erfolg (unserer) und Scheitern (welche unnationale Absicht steckt dahinter?). Herauskommt eine zielstrebige Willkür, bei der das national gesinnte Gemüt darauf angewiesen ist, von seinen Politikern zu erfahren, welche Gefahr jetzt gerade von welchem Ausland droht und wie sie genau einzuschätzen ist.

Wallmann hat Cattenom geprüft und für gut befunden, die Anlage entspricht deutschen Anforderungen: ein Grund zur Zufriedenheit! Die SPD moniert, daß die französische Politik trotz unserer "ernsten Einwände" Cattenom nicht einfach abschaltet: Das kann nicht in Ordnung sein! Österreicher an der bayerischen Grenze aufgehalten: richtig oder falsch?

Der Wille, das Treiben der eigenen Politiker auf internationalem Parkett nach Erfolg und Scheitern zu sortieren, damit der zufriedene Beweis und der unzufriedene Anspruch, daß man so richtig liegt, erhalten bleibt, ist aus sich heraus eben nicht einmal fähig, sich Belege zu finden. Die müssen seine Politiker ihm schon noch vorgeben, richtig verdolmetschen und verständlich machen. Die Mitteilungen, worauf wir in aller Welt aufzupassen haben, die fälligen Differenzen und Unterschiede zwischen den Herren aller Länder, die Betonung des "Machbaren" beweisen dann die Verantwortung der für die Achtung alles Deutschen im Ausland zuständigen Herren und unterscheidet sie von einem im Volk vorhandenen undifferenzierten nationalen Fanatismus. Der wird dadurch bekräftigt - ja, der Bürger liegt mit ihm grundsätzlich goldrichtig und sein Nationalstolz ist bei der außenpolitischen Mannschaft gut aufgehoben -; andererseits auch immer enttäuscht. Die aufgezählten Erfolge und der dringlich angemeldete Nachholbedarf bei diversen Versäumnissen, die andere sich haben zuschulden kommen lassen, sind als Belege nie Antwort auf die ganz grundsätzlich gestellte Frage: Hört die Welt auf die deutsche Stimme?

Auch in dieser Hinsicht wird nationale Gesinnung von den Politikern bedient. Von gestiegenem Ansehen der BRD in aller Welt, selbst bei den Russen, weiß die Regierung zu berichten, während die SPD beklagt, daß unser Kohl so manche Gelegenheit, andere Nationen entschieden auf deutsche Interessen festzulegen "versäumt" und von ihr auf diesem Gebiet errungene Erfolge "verspielt" worden seien. Ja, deutsche Parteien sind jenseits des politischen Tagesgeschehens zuallererst ganz grundsätzlich mit dem Ansehen der BRD in der Welt beschäftigt.

Wie sehr sie dabei Erfolg haben, darf der Untertan an den Mienen seiner Amtsträger ablesen. Daß sie zufrieden mit sich selbst sind,

wenn sie nach einem Auslandsbesuch aus dem Flugzeug klettern -"Präsident R. und ich hatten ein gutes Gespräch" -, ist gerechterweise das Anschauungsmaterial, in dem sich der Wille auf ein nationales Lebensrecht von unten und oben trifft. Und mehr geht deutsche Weltbürger das Treiben ihrer Politiker und Geschäftsleute auf dem internationalen Parkett auch nicht an - sie sind ja dafür.

Unsere Herren: anerkannt vertrauenswürdig

Da nun einmal feststeht, daß an den Staatsnotwendigkeiten kaum zu rütteln ist, und sich bei denen außer den Machern sowieso keiner so richtig auskennt - wozu auch, wenn man ja doch die einschlägigen Ergebnisse samt den eingängigen Interpretationen frei Haus geliefert kriegt -, kümmert sich ein mündiges Volk lieber darum, ob sie auch erledigt werden. Auch diese Wertschätzung "ordentlichen" Regierens bemißt sich freilich nicht an den Mitteln und Zielen der Politik, sondern an dem Katalog von Regierungskunst, den noch ein jeder im meinungsbildenden Umgang mit 'Bild' und anderen Blättern lernt und anwendet. Es geht um die Feststellung, b Bonn seine Sache gut macht. Welche und wie, das ist dem Wunsch nach grundlosem Vertrauen in die Politik entfallen und unter 'Das wissen die am besten' abgehakt.

Da die Sache, also die Leistungen der politischen Gewalt nach innen und außen, nicht mehr zählt, ist der immer am Gelingen seiner Herrschaft interessierte Mensch darauf verwiesen, die Qualitäten seiner politischen Vorgesetzten an dem politischen Anstand zu messen, den er in seiner eigenen Person verkörpert. Denn daß sie für ihn regieren, ihn also zufriedenstellen sollen, steht ja nun einmal fest. "Entspricht mir mein Herr?" "Ist er vertrauenserweckend?" "Macht er Eindruck auf andere?" "Ist er seines Amtes würdig?" lauten die Prüfungsaufgaben, denen das politische Personal unterzogen wird.

Ab sofort gelten damit die Herrschaften, die ihren Bürgern lauter Staatsnotwendigkeiten aufbrummen, als eine Mannschaft, die ihre eigentliche Bestimmung darin hat, das Vertrauen und die Anerkennung ihrer selbsternannten Begutachter zu finden. Insofern haben sie schon von Haus aus und vor jeder Prüfung Respekt verdient, weil der Glaubwürdigkeitstester sie ja als seine Vertreter unterstellt.

Die nähere Prüfung des Personals gestaltet sich gemäß der Dialektik von Amt und Amtsinhaber, Volks- und Staatsvertreter ebenso demokratisch wie schematisch. Demokratisch, weil ein jeder Politiker von jedem Bürger mit den mannigfachen positiven Eigenschaften verglichen wird, die letzterer von ersterem geboten bekommt: Eigenschaften guten Regierens nämlich, die den gelungenen Bezug des Überprüften auf sein schweres Amt und seinen Bezug auf diejenigen widerspiegeln, die er in seiner Amtsausübung repräsentiert. Nach unten hin lautet das Gebot: 'Volkstümlich, aber dabei ganz Herr.' Gegenüber der Macht, die er ausübt: 'Erfolg' oder besser 'Verantwortung', wobei kein 'wofür' mehr gefragt ist, wenn es um die persönlichen Qualitäten geht. Andererseits gebietet die Verantwortung gegen die vielen Ansprüche Durchsetzungsfähigkeit, also Rücksichtslosigkeit; die enge Bindung ans Amt verlangt Selbstlosigkeit, das entschiedene Auftreten aber auch hoheitliches Selbstbewußtsein. Kurz: Die methodischen Tugenden guter Führung sind zahlreich, wenn es um die Ausmalung des immergleichen Charakterbildes für das Urteil "Meine Herren" geht.

Weil die verschiedenen Machtinhaber und -anwärter mit diesem Bild verglichen werden, kann Kritik des öfteren nicht ausbleiben: Mangelnder Erfolg und (=) mangelnder Anstand gebieten es. So kommt es sogar zu regelrechten Skandalen, die das Volk aus der Presse erfährt und die sich immer dahin auflösen, daß irgendeine dieser Figuren durch normale Amtshandlungen diesen Katalog empfindlich mit Füßen getreten hat - meist hat es an der rechten überparteilichen Durchsetzungsfähigkeit gefehlt, d.h. der Verdacht ist aufgekommen, ein Politiker habe sich nicht entschieden genug für das Regieren eingesetzt, sondern für andere Interessen. Wo Skandale den politischen Hauptgesprächsstoff bilden, da lebt also der Wunsch nach sauberer Führung auf - und wird gut bedient. Denn die Auffassung, daß ein politisches Amt eine hohe Aufgabe ist, deren Gelingen von den guten Eigenschaften und dem Anstand seines Inhabers abhängt, wird ja aufjeden Fall mit jedem Fall bestätigt.

Es ist zwar extra unsinnig, sich die politischen Leistungen, die auf der allgemeinen Gewalt beruhen, ganz persönlich vorzustellen - schließlich taugt jeder Politiker auf jedem Platz und besitzt dann auch schon Sachverstand. Aber so dumm ist der Demokrat auch nicht, daß er das nicht längst wüßte und zum zweiten grundsätzlichen Gütesiegel der Person machen täte. Wer ein Amt hat, ist eben schon von Amts wegen eine Persönlichkeit. Kein Kanzler kann sich vor dem "Kanzlerbonus", keine Regierungsmannschaft vor dem Urteil retten, weil sie regiert hat, müsse sie auch eine Menge politischer Persönlichkeiten zu bieten haben. So heften sich die Erfolgseigenschaften konsequent mit Vorliebe an die in der Parteienkonkurrenz Erfolgreichen. Und so bewundert das demokratische Volk sinnigerweise am meisten die, die es aufgrund seiner Verehrung für die erfolgreiche Persönlichkeit per Wahl mit Erfolg gekrönt hat.

In dieser alltäglichen Begutachtung und Sortierung der diversen Regierungs- und Oppositionsmannschaften erhalten Demokraten jede Unterstützung. Die Medien inszenieren die Politikbegutachtung wie eine tagtägliche Stiftung Persönlichkeitstest, und die Politiker stilisieren sich entsprechend für die Öffentlichkeit als fähige Figuren. Mit Umfragen und Barometern wird diese Inszenierung von oben und ihr Erfolg als das Werk der Kontrolle von unten lebendig gemacht - und gerechterweise erhalten diejenigen, die all diese Prüfungen besonders glänzend bestehen, weil sie ein hohes Amt besonders ausdauernd bekleidet haben, nicht den Titel Volksmann, sondern Staatsmann.

So blüht in allen demokratischen Ehren das Naturrecht des guten Volkes auf Führung - und seine Entsprechung: der Personenkult. Für den ist in den Bonner Amtsstuben ein eigener Geschäftsbereich eingerichtet. Ein Weizsäcker kann es gar nicht verfehlen, sein Metier überzeugend zu gestalten. Erstens vertritt er qua Amt alle Deutschen ganz überparteilich. So kommt der letzte demokratische Verdacht braver Untertanen gegen ihre Politiker vom Tisch: Sie könnten mit ihren Parteiungen die Einheit stören. Zweitens ist er der lebende Beweis für die Verantwortungslogik: Gewaltausübung ist Geist, weil alles, wofür Bürger von ihren Herren herangezogen werden, das Werk einer Führungskunst ist, die in der Verantwortungsethik ihrer Macher wurzelt. An der Besinnungsaufsatzlogik Weizsäckerscher Festreden kann es nicht allein liegen, wenn sich hier ausnahmsweise mal das ganze Volk geschlossen wie eine große Gemeinde aufführt. Alles Anhänger des Evangeliums: Deutschland hat eine feine Obrigkeit.

Die Kulturnation: Deutschland als Gesamtkunstwerk

Bei allen guten Geistern dieser Republik fällt die Verwechslung von Geist und Politik auf fruchtbaren Boden. Sie nehmen das Angebot an ihren professionellen Verantwortungssinn ernst und stellen sich das Verhältnis wahrhaftig genau umgekehrt vor: In den Niederungen der alltäglichen nationalen Verwaltung waltet der Sinn der gemeinschaftlichen Sache nur beschränkt und höchstens so weit, wie diese Sphäre sich den Ideen und Werten verpflichtet weiß, aus denen und in denen angeblich die Gemeinschaft wirklich lebt. So werden sie lässig mit dem leidigen Widerspruch fertig, daß sie ehrenwerte Verantwortung - bei allem Respekt - politisch praktiziert den ideellen Glanz und originellen Reiz nicht bietet, der es feinsinnigen Menschen so angetan hat. Wie wenn sie ein Bewußtsein davon hätten, daß in den Gegenwartsgeschäften gute Gründe für ein heimeliges Gemeinschaftsgefühl gar nicht zu finden sind, vertreten Intellektuelle, Künstler, Lehrer - freilich nicht zuletzt Politiker und Wirtschaftsmenschen selber - die Auffassung, die verehrungswürdige Nation sei eigentlich mehr als eine Art Gesamtkunstwerk und Wertehimmel sowie eine - schwer alte - Idee zu verstehen und jeder - Dichter, Denker, Künstler an vorderster Front - sei ein hekennender Teil von ihr. Damit retten sie den Verantwortungsschein für die Politik und das Geistesleben vor den stillosen parteipolitischen Umtrieben: Die wahre deutsche Größe ruht in Gedichten und Bildern, philosophischen Traktaten und Symphonien und anderen Werken.

Freilich, übermäßig geistvoll und einfallsreich ist es nicht, sich die Nation so zurechtzulegen, daß sie dem eigenen Selbstgefühl anheimelnd erscheint, und umgekehrt sich die Welt des schönen moralischen Scheins ganz staatsbürgerlich umzuinterpretieren. Daß der politische Zwangszusammenhang letztlich nichts als eine schöngeistige Veranstaltung seelenverwandter Geister sei, darauf kann nur verfallen, wer vorab gleich von zweierlei überzeugt ist oder sich überzeugt geben will: Erstens, daß der Nation von Haus aus Achtung gebührt; zweitens, daß das Schöne-Gute-Wahre die Welt im Innersten zusammenhält und deshalb selbstverständlich wertvoll und schwer bedeutsam ist. Nur so jemand, also zuallererst der Kreis der Werteanwälte selbst, sieht in künstlerischer und wissenschaftlicher Erbauung und Belehrung die echten Repräsentanten der gemeinschaftlichen Ehrensache. Die Behauptung, daß die Deutschen das Volk der Dichter und Denker seien, ist durch Isenheimer Altar, West-östlichen Diwan, Beethovens Neunte und das Kunstwerk der deutschen Sprache - elaborierter Code natürlich - nicht zu beweisen. Auch nicht durch die Tatsache, daß zumindest heutigen Denkern und Dichtern von Böll bis Golo Mann, Augstein bis Diwald, Grass bis Reich-Ranitzky die Worte "deutsch", "Verantwortung für Deutschland", "Kultur in Deutschland", "Leiden an Deutschland", "deutsche Einheit" locker aus der Feder fließen. Die künstlerische Tätigkeit ist nämlich erst einmal kein Produkt des Vaterlandes, sondern der auf ihre bedeutsamen Gefühle ausgerichteten Individualität, was beileibe kein Gütesiegel, sondern ein nicht wegzuleugnendes Faktum ist. Außerdem werden in anderen Nationen auch Verse geschmiedet und geistige Botschaften ausposaunt wie der Teufel - und hinterher genau wie bei uns interpretiert: Unsere Kultur ist Hänschen Rosenthal! Ferner macht der Genuß dieses Treibens, so man ihn empfindet, vor den Landesgrenzen beileibe nicht halt und wüßte nicht einmal zwischen Purcell und Händel, Schmidt und Miller, Kandinsky und Klee zu unterscheiden, wenn ihm nicht die Interpretationskünstler einordnend zur Hand gehen würden. Und überhaupt, wo wirklich nur das nackte Nationalgefühl Worte und Töne findet, da ist die "zarte Lyrik" auch nicht gerade von der feinsten Art.

Aber ausgerechnet in einem Gemeinwesen, wo alles gleich in der Form des Privateigentums daherkommt, sollen ausgerechnet Produkte, die zum Individuellsten vom Individuellen gezählt werden, kollektives Eigentum sein. Und ausgerechnet die national sortierte Welt des Privateigentums soll dadurch veredelt sein, da in ihr die Feiern der Subjektivität und Moral erst so richtig aufgekommen sind. Dabei sind weder die Kulturleistungen und vor allem die darin gefeierten moralischen Ansprüche so schöngeistig, noch ist die Bedienung aus dem Fundus so rein persönlich, wie versprochen wird. Schließlich schmücken vor allem die beinharten Manager und Verwalter der Nation ihr Amt mit dem Glorienschein der Kultur. Für ihresgleichen, für die öffentliche Repräsentation von Luxus und zur Inszenierung von Massenfeiern bringen sie mit ihrem privatwirtschaftlichen und öffentlichen Mäzenatentum wirklich ein nationales Kulturleben in Gang.

Deswegen bekommen die freien Staatskulturschaffenden noch lange keine Bedenken, sondern fühlen sich im Prinzip anerkannt als die wahren Vertreter deutschen Treibens, als welche sie sich selber verstehen. Das beflügelt sie, an sich selber die Gleichung von Subjektivität und Verantwortung zu Ende zu denken. Kaum machen sie den Mund auf, schon sinnen und schreiben sie konjunkturgerecht kritisch über die Menschheit, das Leben, die Politik, die Kultur - eben die Gemeinschaft im großen und ganzen. Sie führen sich auf, wie es Fans der politischen Ehrentitel in den Sinn kommen muß, wenn sie sich zur Stellungnahme aufgerufen fühlen. Seine nationale Offenbarung erfährt diese Einstellung regelmäßig, wenn sich Repräsentanten ihres deutschen Standes treffen und untereinander oder mit Politgrößen über den Auftrag der Kultur und ihre Bewahrung in diesem unseren Lande streiten. Die gefährdete Freiheit und Einheit der Kultur ist das wenigste, was ihnen einfällt, noch bevor sie sich darüber zerstreiten, ob die Kultur sich nun partei-, allgemein- oder überhaupt nicht unmittelbar politisch engagieren müsse, um so richtig bedeutsam zu sein.

In der historischen Kulturabteilung wird die Idee mit der deutschen Idee auf die Politik zurückreflektiert. Aus der Tatsache, daß dieses Gemeinwesen nicht aus dem Nichts kommt, sondern mit Gewalt entstanden ist, wird gefolgert, daß unser Staat nur der vorläufig letzte Ausdruck einer seit ziemlichen Urzeiten wesenden Idee ist. Ausgerechnet unter dem Gesichtspunkt der Vergänglichkeit erscheint das Gebilde Bundesrepublik als Dauerauftrag und rechtfertigt einiges an Problematisierung unter den abstrakten Gesichtspunkten stabiler und wirkungsvoller Herrschaft. Mit Begeisterung und historischer Weitsicht debattiert ein Gutteil der Zunft, was Bonn an Verantwortung aus den Lehren der Geschichte zuwächst - natürlich sind es schon wieder Fragen der nationalen Identität als Volk und Raum in Europa. Leute, die partout Hitlers Ver-Führungskünste und Kriegs-Treiberei nicht recht verstehen und schon gar nicht billigen zu können vorgeben, konstatieren im Namen der deutschen Vergangenheit die Zukunftslosigkeit der gegenwärtigen Grenzen, entdecken die Tragik des mitteleuropäischen Machtverfalls, aber auch Hochzeiten deutscher Führung in Europa, oder warnen vor einem einseitigen Anspruch auf Grenzrevision - kaum erforscht, schon geflügeltes Wort im Munde Bonner Geistesriesen, kaum gehört, schon in Archiven quellenbelegt. Sogar die Ehre einer selbständigen historischen Größe, natürlich nach vorne offen, wird der Bundesrepublik zunehmend bändefüllender zuteil. Und pünktlich zum Feiertag wirft man an einem Alten Fritz Krieg und Kultur, Herrschaft und Philosophie, Pflicht und Neigung, Land und Leute in einen preußisch-deutschen Topf. Klar, daß kritische Köpfe engagiert mit dabei sind. So schmückt der Kulturbetrieb und beflügelt die politische Selbstdarstellung mit Subjektivität und Objektivität.

Mit solchen Spiegelfechtereien bereitet sich die Elite Vergnügen und Anerkennung; deswegen gelten sie als vornehm und interessant und werden gewöhnlich aufmerksamer verfolgt als so banale Ereignisse wie Lohnkürzungen, Raketen und Terroristengesetze. Kritische Kulturbewahrer beherrschen außerdem locker den Übergang von der Auffassung, alles Ungemütliche sei ein Stilbruch in der politischen Kultur, zu der Beschwerde, der Umgang mit der Kultur sei der eigentliche Verstoß der Politik. So geht einer Sänger- und Schreiber-, Filmer- und Denkermafia heutzutage alles genauso gründlich durcheinander, wie umgekehrt die parteipolitischen Ansprüche an den freien Geist zu Herzen genommen werden.

Massenkultur: Wir lassen uns das Singen nicht verbieten

Wenn das Volk dieselben Übergänge macht und finanziert bekommt, gilt das als ziemlich profan und niveaulos. Dabei macht das Volk auch nichts anderes, als seine anerkannte Einstellung auf dem Feld der Erbauung und des sportlichen Treibens zu genießen. Außerdem steht ja andererseits fest, daß so etwas natürlich in einer Kulturnation auch sein muß. Schließlich muß doch der kleine Mann seiner Liebe zum Vaterland dort frönen dürfen, wo er etwas davon versteht, wo es ihm gefällt und wo er garantiert nichts ernstlich falsch machen kann. Da soll und darf er sich seine Identifikationsfiguren suchen und ganz Kulturimperialist sein. Vom Singen bis zum friedlichen Wettkampf, nichts, was nicht als Nationalmannschaftsvergleich interpretiert und betreut wird. Hier darf sich das Fanwesen freien Lauf lassen und das Volk bestätigen, endlich einmal völlig Recht zu haben, wenn es Siege feiert und Niederlagen einsteckt. Also fühlt sich jeder als privater Anwalt öffentlicher Rechte und führt sich entsprechend begeistert oder auch enttäuscht und gehässig auf, wenn irgend jemand die Dienste hat vermissen lassen, die aus Riesenbabies im Handumdrehen Tennismillionäre und Vorbilder für die deutsche Jugend machen. Auch der Naivling aus Leimen hat prompt gelernt, daß hier mehr verlangt ist als bloß bornierter Tennisfanatismus.

Da es eigentlich Zufall ist, was aus deutschen und anderen Landen an Sportskanonen und Sängerknaben frisch in die Arenen kommt und schmettert, wird auch hier politisch nachgeholfen. Dem Volksgesundheitsertüchtigungswesen wird ein ordentliches Staatsprofiwesen als Krönung aufgepropft, so daß sich wirklich lauter Spezialisten bilden, die den entsprechenden Geist im entsprechenden Körper mitbringen. So bekommt auch hier das Nationalgefühl recht: Siege sind keine natürliche Sache. Der Dialektik von Sport und Politik wird die Synthese aufgesetzt, wenn sich die Volksvertreter des Staates mit den Volksheroen treffen und nicht gemein machen. Auf dem Feld des niederen Vergnügens lassen die hohen Herren den Massen Anerkennung widerfahren und tun so, als verbürgten Sport und Politik arbeitsteilig Erfolge, auf die wir alle stolz sein können. Um auch ja dem Vergnügen den nationalen Sinn überdeutlich anzuheften und dem Kulturvergnügen noch das Gütesiegel der organisierten Mitmenschlichkeit zu verpassen, werden heutzutage im Vorbildwesen alle Grenzen zwischen Sport, Wohltätigkeit, Politik und moralischer Aufrüstung durcheinandergebracht. Boris, Otto, Uwe und Blacky, die Bild-Zeitung als Sponsor, vor den Augen der Politiker, im Rahmen der nationalen Meisterschaft, im Dienste von Unicef - was für ein Heidenspaß! Von so einem Politsport können die Staatsamateure drüben nur träumen.

Der deutsche Volkscharakter: Wie ein Mann...

Wo jeder beansprucht, daß in den unwichtigsten und persönlichsten Dingen nationale Anliegen zu ihrem Recht kommen, da kommt auch das deutsche Volk laufend wie eine Persönlichkeit daher, die in allem Möglichen und Unmöglichen ihre heimatliche Entfaltung findet. Das ist so selbstverständlich, daß es schon gar nicht mehr auffällt und nicht selten mit dem Adjektiv 'deutsch' auskommt, um die Verhältnisse volkstümlich auf dem Kopf zu stellen. Die "deutsche" Jugend darf über ihren Gesinnungs- und Gemütszustand sowie ihr individuelles Treiben Auskunft geben. In "deutschen" Frauen, "deutschen" Männern, der "deutschen" Familie darf sich das Staatsvolk selber in seiner unverwechselbaren Eigenheit repräsentieren. Ob die Deutschen nun am meisten schlucken - Bier und Tabletten! -; ob ihnen nach dem Urteil anspruchsvoller Gemüter der so überaus gewinnende Charakterzug des Humors abgeht, oder ob sie doch wahrhaftig warme Tage in Bad und Biergarten zu verbringen verstehen - es ist schon eine eigentümliche Mannschaft und noch in ihren alleralltäglichsten Verrichtungen und gewöhnlichsten Einstellungen ein ganz besonderes "Wir", welches sich da Ausdruck gibt.

Freilich, wo sich das Volk seine eigene Subjektivität zu Gemüte führen darf, kommt so übermäßig viel auch wieder nicht dabei heraus. Bestenfalls noch die Tatsache, daß die alltäglichen Lebensumstände halt so sind, wic sie in einer (mit)führenden Weltmacht nun einmal sind, und daß bis in die letzten Schlafzimmerecken das staatsbürgerliche Handeln und Meinen ganz gewöhnlich ist. Selbst wenn das als nationale Charakterkunde daherkommt, ergibt das selten mehr als eine willkürliche Auswahl aus dem eintönigen Tugendkatalog, mit dem eine anerkennenswerte und anständige Bürgernatur bebildert wird: Zärtlich und etwas pedantisch, locker und fleißiger oder fauler als sein guter/schlechter Ruf, schwer männlich und fraulich - und vor allem mit einer mehr oder weniger positiven Einstellung zu seinem Staat. Die muß man immer wieder mal abfragen, da das Volk ein Recht zu erfahren hat, daß es jenseits seiner täglichen Verrichtungen auch noch entsprechend völkisch eingestellt sein soll, natürlich seiner eigenen Meinung nach. Der Volk läßt sich das schon längst nicht zweimal sagen und verzichtet auf intellektuelle Verzierungen seiner Identitätskontrolle: Türk nix gut, Franzosen olala, Kanaken, natürlich mit manchen Ausnahmen und manchmal sogar anerkennend - Frauen gibt's in Thailand! -: so kennt sich das Kollektiv im eigenen und fremden Wesen aus. Die Identität liegt nämlich, die völkerverbindenden Sprachregelungen moderner Rassisten mal auf den Punkt gebracht, immer noch in der Überzeugung, daß "wir" die Besseren und eine geschlossene Mannschaft gegen andere sind. Im Krieg kommt diese volkstümliche Logik wieder aufden puren Staatsbegriff: Der Iwan... samt der Logik der Ausnahmen, die dieses Urteil so unerschütterlich macht. Nationalismus, Nationalgefühl, Patriotismus, oder wie man es nennen will, ist eben das Gegenteil von Klassenbewußtsein - nicht nur nach innen und im Frieden.

Eine Eigentümlichkeit bringen wir Deutschen ja wirklich mit, die wir nicht mit allen anderen zivilisierten Völkern teilen und die unseren Staat positiv von seinen europäischen Partnern abhebt. Das natürliche Recht unserer Nation auf Gewalt gegen seine Feinde läuft hier als leibhaftige Volks-Eigentümlichkeit herum. Ein nicht geringer Teil der deutschen Kulturnation sind ewige Landsmannschaftler, die ganz persönlich das Leiden der Teilung repräsentieren. Natürlich treibt die Politik nicht der Auftrag, noch dem letzten Banater Schwaben seine Heimatsehnsucht zu verwirklichen - da müßte der ja auch bloß wieder hin und unter seiner realsozialistischen Obrigkeit volkstümeln. Aber das organisierte vaterländische Anspruchswesen ist doch ein lebendiger Titel für Staatsansprüche, die über die Oder-Neiße genauso hinausreichen wie über die historische Mission, irgendein Machtvakuum in Europa wieder mit uns zu füllen und Unrecht am Re deutscher Nation wiedergutzumachen.