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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1986 erschienen.

Systematik

Tarifpolitik 1986
THEMA LOHN = DIE GEWRKSCHAFTEN BIETEN LOHN AN

Strategie und Taktik für die Tarifrunde 1986 stehen fest. Die ÖTV macht den Vorreiter, bei der IG Metall wird noch gestritten, wie und wann man die "35-Stunden-Woche" wieder aufs Tapet bringt. Eins aber ist sicher: Diesmal ist "der Lohn wieder einmal an der Reihe" und nicht die anderen heiligen Gewerkschaftskühe wie "Arbeitszeitverkürzung" oder "Vorruhestand".

Christlich-liberale Wirtschafts- und Finanzpolitiker haben schon mitten in der Auseinandersetzung um die "35-Stunden-Woche" die Gewerkschaften aufgefordert, sich gefälligst auf den Lohn als Tarifrundenthema zu beschränken, anstatt sich in die wirtschafts- und sozialpolitischen Angelegenheiten einzumischen, für die Regierung und Unternehmer allein zuständig sind und bleiben wollen. Bloß um den Lohn sollen sie sich kümmern - das "bloß" dreißigmal unterstrichen, das "Lohn" ganz kleingeschrieben. Und wie das ausgehen wird, will der Sachverständigenrat wieder einmal vorher schon verbindlich wissen:

"In der Lohnrunde 1986 dürften Lohnerhöungen im Vordergrund stehen, Arbeitszeitverkürzungen werden eine geringe Rolle spielen. Angesichts der etwas günstigeren Wirtschaftslage und der weiter vorangekommenen Verbesserung der Unternehmenserträge dürfte der Anstieg der Tariflöhne etwas höher ausfallen als im laufenden Jahr. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die... dämpfend auf den Lohnanstieg wirkt, spricht gegen eine größere Beschleunigung des Lohnauftriebs."

Ob aus dem Sachverständigenwunsch Wahrheit und aus dem politischen Ordnungsruf Tarifpolitik wird, das hängt freilich immer noch davon ab, ob die Angesprochenen auch darauf hören und sich auf die Kunst verstehen wollen, den Lohn zum Thema von Lohnverhandlungen zu machen, ohne daß eine Lohnforderung daraus wird. Dieser Herausforderung zeigen sich die Arbeitervertreter nur allzu gewachsen und machen aus dem politischen Diktat ihre diesjährige Tarifstrategie. Eine "Lohnrunde" findet diesmal statt, heißt es - für gewerkschaftliche Tarifstrategen also keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Und statt ums Geld und die Erleichterung der Arbeit, kümmern sie sich um die entsprechenden Ideale aus dem Fundus der Gewerkschaftspolitik.

Erstens und vor allem Streit steht für die Lohnexperten aus den Gewerkschaftsetagen erst einmal unumstößlich fest, daß für die Überlegungen der Tarifkommissionen ein Maßstab jedenfalls ganz und gar nicht in Frage kommt: Was die Lohnabhängigen an Einkommen und Arbeitsbedingungen gebrauchen könnten.

Zum einen meinen sie nämlich mit ihrer Entscheidung für dieses Jahr Lohn statt und auf Kosten der Arbeitsumstände. Zum andern gilt für die gewerkschaftlichen Rechenkünstler die 3,5% Lohn"prognose" von Wirtschaftssachverständigen und Unternehmern als unumstößliche Lohnleitlinie, an der sie sich höchstens propagandistisch abzuarbeiten haben. Eine vier vor dem Komma, so heißt ihr Traumziel; also kaum ein Ausgleich für das, was Preissteigerungen längst aufgefressen haben und was die Erhöhung der Krankenversicherungs-Prozente allein auffressen wird. Von einer Wiedergutmachung für die vergangenen Lohnverluste erst recht keine Rede. Ein paar Zehntel Differenz zur anspruchsvollen Unternehmerpropaganda, ein bißchen über dem letztjährigen Billigstabschluß, damit die Glaubwürdigkeit der Unterhändler nicht Schaden leidet, das ist genug. So beweist man Tarifautonomie.

Zweitens ist das Feilschen oder gar Streiten um die richtigen Prozente für moderne Gewerkschaftspolitiker sowieso nicht der Witz. Sie denken viel lieber an "Gerechtigkeit", "Struktur", "Lohngestaltung". Solche Grundsätze entsprechen ihren Mitverwaltungsansprüchen viel besser als eine schlichte Lohnsumme, die - einmal festgelegt - gar keinen Mitbestimmungsauftrag mehr abgibt. Also erfinden sie alle ihren speziellen Dreh, unter dem sie die Tarifrunde laufen lassen - jeder darauf berechnet, Lohnopfer gewerkschaftspolitisch lohnend zu machen.

Die ÖTV

macht diesmal den "Vorreiter" und hat die unteren Lohngruppen als Objekt ihrer besonderen Fürsorge entdeckt. 6 Prozent, so hat sie hochgerechnet, soll die Lohn-"Steigerung" nur insgesamt betragen; und nur "im Volumen". Wer sowieso zu wenig hat, soll etwas besser wegkommen.

Diese Liebe zu den kleinsten unter den "kleinen Leuten" ist einerseits eine Heuchelei. Schließlich gibt es die unteren Lohngruppen ja nur, weil die Gewerkschaft selbst sie ahgesegnet hat. Sie findet es doch ganz in Ordnung, daß der Lohn sich nach sämtlichen Gesichtspunkten der Konkurrenz und des Neids differenziert, in -zig Untergruppen aufgeteilt gehört. Derselbe Lohn für alle: Die ÖTV wäre die erste, die das völlig ungerecht fände. Ihre Beschwerde über allzu geringe Bezahlung am unteren Ende genau der Lohnskala, die sie selbst mit eingerichtet hat, schmeckt also nur allzusehr nach Krokodilstränen.

Andererseits hat die ÖTV sich eins ganz im Ernst tatsächlich vorgenommen für diese Tarifrunde: Sie will einen Streit führen um nichts als das Ideal der ausgleichenden Gerechtigkeit. Als "Fall", an dem dieses edle Gefecht durchexerziert werden soll, hat sie sich die unteren Lohngruppen ausgeguckt. Denen wäre materiell mit einem Tausender pro Monat mehr zwar weit besser geholfen als mit einem Herumrechnen innerhalb eines 6-Prozent-"Volumens". Der Gewerkschaft geht es aber gar nicht darum, den "Arbeitgebern" einen besseren Lebensunterhalt für Arbeiter abzutrotzen, sondern mit einem gegebenen "Volumen" herumzuwirtschaften und dabei als Anwalt höherer sozialer Ideale statt schnöder Lohnprozente aufzutreten.

Wie sich die Wulff-Matthies mit der Sturmfrisur auf das Verrechnen von Billig-Angeboten der Gegenseite versteht, hat sie bei der Lufthansa exemplarisch vorgeführt, sowohl was die Bescheidenheit des materiellen Ertrags, wie was die Gerechtigkeit für die "kleinen Angestellten" angeht. Es ging darum, wie die Gewinnbeteiligung, die jährlich an die Beschäftigten ausgeschüttet wird, aufgeteilt werden soll - eine doppelte Gewerkschaftsidiotie. Erstens ist auch nicht einen Augenblick der Gedanke aufgekommen, es könnte irgendwie darum gehen, um Lohn und Leistung, also die Bedingungen des Arbeitens und des Verdienstes zu streiten und da der Gegenseite eine eigene Rechnung aufzumachen. Umgekehrt: Ein freiwilliges Zugeständnis von oben, eine Gratisgabe, die von nichts als vom flotten Geschäftsgang, also dem gelungenen unternehmerischen Einsatz der Arbeit abhängt und dafür gedacht ist, jeden Streit um Lohn zu erledigen, war der ÖTV gerade recht. Zweitens wollte sie an den zugestandenen 40 Millionen nicht rütteln, nicht eine Mark mehr hat sie gefordert. Nicht einmal die falsche Auffassung, der Lohn sei eine bloße Geldsumme, die man jährlich ein bißchen aufbessern müßte, hat da Pate gestfinden, geschweige denn das Bemühen um Kompensation für die Verschlechterung des Lohn-Leistungs-Verhältnisses. Streiken durften die ÖTVler dafür, daß alle, groß und klein, vom Lufthansa-Weihnachtsmann gleich bedacht werden. 40 DM von oben nach

unten umverteilt, das allein macht für eine moderne Arbeitervertretung Sinn und lohnt Streit und Streik - zumindest symbolisch. Vier Tage später nämlich, als nach dem Willen der Oberen alles vorbei sein sollte, erhielten die Mitglieder als Gratiszugabe noch die Lektion, daß ein Urabstimmungsergebnis gegen den Vorstand für den noch lange kein Grund ist, sich daran zu halten und seine Prinzipienreiterei selber zu ernst zu nehmen. So hat die ÖTV souverän den Übergang von der "bloßen Lohnforderung" zum sozialpolitischen Spleen geschafft. Der läßt sich mit Pfennigen befriedigen, gerecht verteilten nämlich.

Die IG Chemie-Papier-Keramik

setzt dieses Jahr nicht auf die soziale, sondern genau umgekehrt auf die Leistungs- Gerechtigkeit. Sie verhandelt nämlich schon seit ein paar Jahren über einen "Entgeltrahmentarifvertrag", in dem sie für Arbeiter und Angestellte gleichermaßen 12 Entgeltgruppen nach Leistungskriterien niederlegen will. Den macht sie jetzt zum Tarifrundenthema. Auch sie findet es ganz selbstverständlich, daß sich der Lohn nicht an einem anständigen Leben bemessen darf, sondern am Dienst fürs Kapital. Auf den soll er jetzt noch einmal extra in aller tarifrechtlichen Form bezogen werden - als Leistungsbewertung nämlich, also so, daß er sich als Lohn blamiert: Die Differenzierung des Lohns nach den Prinzipien unternehmerischer Arbeitseinschätzung soll zum allgemeinverbindlichen Tarifvertragsgrundsatz werden - ausgerechnet mit Hinweis auf die moderne Technik. Als wüßte Rappe nichts von den Wirkungen der Technik in der Hand kostenbewußter Unternehmer. "Arbeitgeber" haben doch längst Büroangestellte per Bildschirm zu Billigstarbeitern gemacht, haben die moderne Technik in der Produktion zur fortschreitenden Bornierung der Arbeit benutzt und sie mit jeder "Vereinfachung" beschleunigt und verbilligt, weil für "einfache Arbeit" genügend Arbeitskräfte vorhanden sind, bei der gewaehsenen Reservearmee schon gleich. Dies kapitalistische Gesetz von Eingruppierung, Umgruppierung, Abgruppierung, diesen Grundsatz, daß die Arbeit in den modernen Betrieben immer nervtötender und kräfteraubender, weil bornierter, und im selben Maße schlechter bezahlt wird, will die fortschrittlich gesonnene IG Chemie nicht bestreiten, sondern perfektionieren. Das mitbestimmungshandliche und betriebsratsfreundliche Eingruppierungswesen und die feinen Lohnunterscheidungen nach "objektiven" Kriterien, über die es soviel zu verhandeln gibt, gefallen den Lohnstrategen der IG Chemie viel zu gut, als daß sie daraus nicht eine garantiert zukunftsweisendes Spektakel machen wollten; zumal sie darauf rechnen, daß Arbeiter und Angestellte längst gleich schlecht gestellt sind. Dieses Anliegen läßt Rappe sich - oder besser: die von ihm so wirtschaftskundig vertretenen Arbeiter und Angestellten - einiges an Lohn kosten. Das, was Unternehmer für gewinnbringende Leistung zahlen, die lohnenden Kosten für Arbeitskraft, hält nämlich auch er für einen unumstößlich begrenzten Topf und die Forderung nach mehr Lohndifferenzierung für alle für eine ungebührliche Strapazierung desselben. Deshalb rechnet er erst den Unternehmern Kosten aus, die sie gar nicht haben, und bietet sie dann zur "Verrechnung" an:

"...hat die IG-Chemie-Papier-Keramik von Anfang an vorgeschlagen, die neuen Tarifsätze gegen übertarifliche Lohn- und Gehnltsbestandteile anzurechnen. Auch sollen nach unserem Vorschlag bestehende innerbetriebliche Entlohnungssysteme, Akkord-, Prämien- und vergleichbare Leistungsentgelte zur Verrechnung herangezogen werden."

Von wegen "zur Verrechnung heranziehen", als handelte es sich bloß um eine kleine Operation mit dem Rechenschieber! Schließlich bieten hier die Lohnunterhändler der IG Chemie, weit entfernt davon, für ihre Klientel auch nur ein Prozent zu fordern, vorhandene Lohnteile, und zwar nicht zu knapp, den Unternehmern zur freien Disposition n. Die frühere Unternehmerforderung nach einer "Nullrunde" ist nichts dagegen! Aber so freigiebig sind Gewerkschaftsstrategen eben, die das Lebensmittel der Arbeiter als eine einzige Manövriermasse verstehen, um Unternehmer für die Lohnmitverwaltungsgesichtspunkte ihrer Betriebsräte aufnahmebereit zu stimmen. So hat die IG Chemie ganz souverän den Übergang von der "bloßen Lohnforderung" zum Spleen einer objektiven Lohndifferenzierung geschafft. Der kostet die Arbeiter allerdings mehr als nur Pfennige.

Die IG Metall

ist gleich mit Höherem beschäftigt. Sie hat ja die Federführung bei der öffentlichen Verteidigung des Rechts auf eine "Neue (Streik-)Beweglichkeit", die Unternehmern und Gewerkschaftskassen nicht weh, der gewerkschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit aber gut tut. Die Protestversammlungen und Demonstrationen für dieses garantiert bloß gewerkschaftseigene Anliegen ersparen glatt jeden auch nur Anschein einer vorausplanenden Befassung der Mitglieder mit so nebensächlichen Fragen wie ihren materiellen Belangen. Statt dessen dürfen sie schwarz-rot-gold antanzen und das gewerkschaftlich interpretierte Grundgesetz im Geiste verteidigen.

Die Tarifplaner streiten sich derweil hinter verschlossenen Türen darum, wie man die Tairifrunde unter dem Tenor "Schwerpunkt Erhöhung der Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen" stattfinden lassen soll. Die Baden-Württemberger Eisenmänner denken da genauso taktisch wie die Hamburger und Hessener Rosenthals - die einen mehr an Glaubwürdigkeit gegenüber den Streikenden, die anderen mehr an Glaubwürdigkeit gegenüber dem großen Streikthema "Beschäftigung" vom letzten Jahr:

"Opfer, die sie schon für die 38,5-Stunden-Woche gebracht haben. Deshalb ist darstellbare, nachvollziehbare und spürbare Einkommenserhöhung eine wesentliche Voraussetzung für die Kraft, die für die weitere Arbeitszeitverkürzung notwendig ist."

"Und jetzt soll ich mich hinstellen und sagen, die Begründungen stimmen nicht mehr, wir wollen nur mehr Lohn, und das bei 2,2 Millionen Arbeitslosen?"

Die Mitglieder kann man nicht schon wieder streiken und aussperren lassen, so rechnen die einen zynisch vor, weil der letzte "Arbeitskampf" die Betroffenen 1500 DM und mehr gekostet hat. Aber ausgerechnet "Lohn", das ist gar kein richtiges Propagandathema fürs SPD-nahe Kämpfer-Image der IG Metall, meinen die anderen. So trifft sich die regionale Gewerkschaftstaktik genau mit ihrer jeweiligen Einschätzung der angeblich so unterschiedlichen Wirtschaftslage der Betriebe, auf die vernünftige Gewerkschafter eben allemal jede Rücksicht nehmen. Im Süden lieber ein paar Zehntel von florierenden Unternehmen; "darstellbar", das ist schließlich für vergleichsgewohnte und ziemlich streikopfermüde Mitglieder eine relative Sache. Im Norden aber, da sieht die Beschäftigungslage und die Hoffnung auf betriebliche Zusatzpfennige ziemlich düster aus, also lieber "Beschäftigung" verlangen. Auch für die IG Metall gilt bei diesem Streit unverbrüchlich der Glaubenssatz, daß Unternehmer nur das eine oder das andere vertragen: ein bißchen mehr Lohn oder ein bißchen mehr Arbeitszeitflexibilisierung. Und noch etwas gilt unbestritten: daß die Tarifrunde eigentlich erst durch höhere, politische Themen so richtig interessant wird und der Lohn dagegen eine ganz fade Sache ist. Deshalb streitet man um die beste Weise und den Zeitpunkt, wie und wann nach einer "Lohn"-Zwischen-Runde das große wirtschaftspolitische IG-Metall-Thema "Beschäftigung durch Arbeitszeitverkürzung" wieder auf die Tagesordnung kommt. Auf jeden Fall rechtzeitig vor der Bundestagswahl. So souverän hat die IG Metall den Übergang von der "bloßen Lohnforderung" zur parteipolitischen Jahrhundertsache immer im Auge. Das kostet die Metaller mehr als nur die 1500 DM Streikopfer.

Der Ertrag der Tarifstrategie

ist ein Lohn, dessen Niveau sich nach den taktischen Spielchen einer politisierten Gewerkschaft richtet. Und für diese Taktik ist ein wirtschaftsgerechter Lohn eine vorausliegende Selbstverständlichkeit, über die es nichts zu streiten gibt. Genau diese Tatsache wird diesmal zum offiziellen Thema gemacht: Lohnsenkungen, ohne großes Aufhebens. Mit einer solchen Strategie wird die Reservearmee auch bei prächtig wachsenden Gewinnen zu einem absolut sicheren Lohnsenkungsmittel; die Gewerkschaften machen die Erpressung mit den mehr als zwei Millionen ja überflüssig, weil sie die selber zum unumstößlichen Argument bei ihrer tarifpolitischein Alternative "Lohn oder Arbeitszeit" gemacht haben. Weil die deutsche Einheitsgewerkschaft den Lohn für die langweiligste Nebensache der Welt hält, ist es für Unternehmer ein Leichtes, den Lohn in absolut genehmen Grenzen zu halten. Deshalb hetzen auch die Christenpolitiker dagegen, daß die Arbeitervertretung für diese Leistung immer noch einen politischen Propagandalohn fordert.