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Kapitalismus in China?
DIE MODERNISIERUNG DER VOLKSREPUBLIK
Die Kommunistische Partei der Volksrepublik China hat nach sechs Jahren mehr oder weniger weitgehender Experimente mit "marktwirtschaftlichen Instrumenten" zur Effektivierung der Wirtschaft beschlossen, nunmehr "den Markt" bzw. das, was sie dafür hält, zum Universalinstrument der wirtschaftlichen Modernisierung zu machen. Und sie geht dabei seit Ende 1984 zum Entzücken aller westlichen "Beobachter" konsequenter und radikaler vor als alles, was bislang in revisionistischen Staaten an "Wirtschaftsreformen" und "sozialistischer Marktwirtschaft" praktiziert wurde.
Daß die VR China seit einigen Jahren Entwicklungsland sein will und sich erfolgreich um die Anerkennung dieses ihres Status durch die UNO-Gremien, die Weltbank und den Entwicklungshilfeausschuß der OECD-Staaten bemüht hat, ist vor allem ein politisches Programm. Denn eines jener Objekte des Imperialismus, die als "Entwicklungsländer" die Staatenwelt bevölkern, ist China nicht. Mit dem souveränen Beschluß, sich als Entwicklungsland zu verstehen, verbindet es die Absicht, als Vorbild und Führungsmacht der "Dritten Welt" ausgerechnet das vom Imperialismus in die Welt gesetzte Ideal der Entwicklung selbst zu realisieren. Und für dieses Vorhaben besitzt die VR China etwas andere Voraussetzungen als die sonstigen Entwicklungsländer.
Sie betritt die Arena des imperialistischen Weltmarkts nicht mit einem Haufen ungehobener "Bodenschätze", einem unproduktiv vor sich hinhungernden Menschen-"Potential", um ihre Manövriermasse dem Kapital der imperialistischen Staaten zur freien Verwendung anzubieten. Für die VR China steht die eigene Entwicklung an erster Stelle. Entwickelt werden soll das, was an Ökonomie bisher schon vorhanden ist: eine Landwirtschaft, die die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und den wichtigsten agrarischen Rohstoffen gewährleistet, eine Industrie, die die nötigsten Produktionsmittel und Konsumgüter bereitstellt, Ölförderung, Kohle- und Erzbergbau sowie Elektrizitätsversorgung, die den Bedarf einigermaßen decken, und ein Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsnetz, das die Verteilung der produzierten Güter sicherstellt. Gerade diese vorhandene ökonomische Basis war für die Führung der VR China Grund zur Unzufriedenheit mit einer Ökonomie, die keine ausreichenden Überschüsse produziert, um dem Staat jene Handlungsfreiheit zu sichern, wie sie die Hauptmächte des westlichen Lagers, aber auch die Sowjetunion besitzen.
Resultat dieser Unzufriedenheit war eine, 1978 begonnene und nunmehr allgemein durchgesetzte, ziemlich grundsätzliche Systemkritik mit dem Inhalt: Unser bisheriges Planwirtschaftssystem hemmt die Entwicklung der Produktivkräfte. Von diesem Standpunkt - der Gedanke: "Bewundernswert, was unsere Volksmassen trotz der Behinderung durch das bisherige System zustandegebracht haben", wirkte da durchaus noch als Bestätigung - erschien der chinesischen Führung ihre Ökonomie als ein zwar "gewaltiges", aber bislang eben nur "Potential", die ganze Volksrepublik so recht als das neue Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Die Durchsetzung dieser System-Selbstkritik innerhalb der Partei hat einige Zeit gedauert. Denn selbstverständlich ist es nicht gerade für Mitglieder einer revisionistischen Partei an der Macht, daß ausgerechnet die Planung, für deren Durchführung zu sorgen, eine ihrer Hauptzuständigkeiten ist, daß dieses zentrale Instruiment der Beförderung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses im Interesse von Staat und Volksmassen, seinem eigenen Zweck als Haupthindernis im Wege stehen soll. Es bedurfte schon einiger ökonomischer Erfolgsmeldungen auf dem Felde der "Reform des Wirtschaftssystems", um eine Mehrheit der Parteikader auf allen Ebenen zum Mitmachen bei der neuen Linie zu bewegen: gestiegene Ernteerträge, eine bessere Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, höherer Lebensstandard auf dem Land dank Einführung des "Verantwortungssystems" in der Landwirtschaft, Aufblühen des städtischen Kleingewerbes dank der neuen Gewerbefreiheit für Einmann- und Familienbetriebe usw.
Was die interessierten Beobachter aus der Welt des Kapitals vor allem entdecken ließ, daß der natürliche Geschäftssinn der Chinesen auch 30 Jahre Maoismus zu überleben vermochte, das ist den chinesischen Kommunisten der Beweis für die Produktivkraft, die ihren Volksmassen innewohnt, wenn man den Ertrag ihres Arbeitseinsatzes nicht mehr den Planvorgaben, sondern dem "Leistungsprinzip" unterwirft. Und mit dem geglückten Beweis kann festgestellt werden:
"Gegenwärtig konsolidiert sich die politische Lage der Stabilität und Einheit in unserem Lande zunehmend."
Denn: "Die Volkswirtschaft wächst stetig, die Hauptziele des sechsten Fünfahresplans sind vorfristig erfüllt worden, die Finanzlage des Staates hat sich allmählich verbessert, die Genossen der ganzen Partei und die Volksmassen... haben größere Zuversicht in die sozialigtische Modernisierung und einen stärkeren Wunsch nach Beschleunigung der Reformen des Wirtschaftssystems." (Beschluß des ZK der KPCh über die Reform des Wirtschaftssystems vom 30.10.84, Beijing Rundschau Nr. 44/1984)
Vom Kapitalismus lernen
Der Standpunkt der systembedingt ungenügenden Produktivität der chinesischen Volksmassen führt so konsequent wie falsch zur Begutachtung des Angebots an sonstigen, der Produktivkraftentwicklung förderlichen "Systemen" auf dem Globus.
"Um das die Entwicklung der Produktivkräfte fesselnde Wirtschaftssystem zu verändern, müssen wir die realen Verhältnisse und Entwicklungserfordernisse der Wirtschaft unseres Landes studieren und uns gleichzeitig die die Gesetze der modernen vergesellschaftlichten Produktion widerspiegelnden fortgeschrittenen Managementmethoden aller Länder der heutigen Welt einschließlich der entwickelten kapitalistischen Länder, aneignen und nutzen." (ZK-Beschluß vom 30.10.84)
Klar, daß die nun einmal fortgeschrittensten "Managementmethoden" in den kapitalistischen Ländern bei diesem Studium am besten abschneiden. Am Kapitalismus entdecken die chinesischen Kommunisten der guten alten revisionistischen "Dialektik" folgend, zwei Seiten: eine gute und eine schlechte. Die schlechte Seite, als da sind Ausbeutung, Verelendung der Massen etc., gilt es zu vermeiden, die gute auszunutzen. Und diese, die gute Seite, haben sie direkt aus den Lehrbüchern der bürgerlichen Nationalökonomie entnommen bzw. sich von den Ökonomen im Dienste der Weltbank und anderer westlicher Entwicklungs- und Beratungsinstitutionen vortragen lassen: Die segensreichen Wirkungen der "unsichtbaren Hand" des Marktes, wo gerade dadurch, daß jeder nur seinen Nutzen verfolgt, auch der Nutzen des großen Ganzen befördert wird. Dieser seit Adam Smith gültige Kerngedanke bürgerlicher Marktwirtschaftsideologie nebst seinen zahlreichen speziellen Unterabteilungen von "dem Markt" zugeschriebenen Leistungen ökonomischer Harmonie - "optimale Allokation der Produktionsfaktoren", Ausgleich zwischen "knappen Gütern" und "grenzenlosen Bedürfnissen" usw. - scheint für eine systemkritische revisionistische Staatsführung wie die chinesische einige Attraktion zu besitzen. Sie sieht darin ein wirksameres Mittel, den Einsatz der Volksmassen für den Fortschritt von Staat und Gesellschaft zu mobilisieren.
Die von der VR China nun systematisch in Angriff genommene Praktizierung der marktwirtschaftlichen Ideologie des Kapitalismus führt allerdings dazu, daß sich aus dem in Gang gesetzten inneren und äußeren Geschäftsleben laufend der "Sachzwang" für den Staat ergibt, Hemmnisse für das Geschäft in Gestalt eigener Vorbehalte und Ansprüche an die nationale Ökonomie auszuräumen.
Laßt tausend marktwirtschaftliche Blumen blühen
Mit der Ausdehnung der Wirtschaftsreform von Landwirtschaft und Kleingewerbe auf die chinesische Industrie steht das Plansystem als solches zur Disposition, ohne daß es prinzipiell aufgegeben werden soll. Da braucht's schon gewisse definitorische Kraftakte:
"Um das Plansystem zu reformieren, muß man sich vor allem von der traditionellen Vorstellung befreien, daß die Planwirtschaft im Gegensatz zur Warenwirtschaft steht, und klar erkennen, daß die sozialistische Planwirtschaft sich bewußt auf das Wertgesetz stützen und es anwenden muß, und eine auf dem Gemeineigentum basierende planmäßige Warenwirtschaft ist. Die volle Entwicklung der Warenwirtschaft stellt eine nicht zu überspringende Stufe der gesellschaftlichen Wirtschaftsentwicklung und die notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche Modernisierung unseres Landes dar." (ZK-Beschluß 20.10.84)
Das mache dreierlei erforderlich:
die "Errichtung eines rationalen Preissystems", die "Trennung der Funktionen der Regierung von denen der Unternehmen", die "gewissenhafte Befolgung des Prinzips der Verteilung nach Leistung".
Was die chinesischen Wirtschaftsreformer an dem "großen Durcheinander" des Preissystems stört, ist die "ungeheure Vergeudung der gesellschaftlichen Arbeit und starke Behinderung des Verteilungsprinzips 'Jedem nach seiner Leistung'". Über der marktwirtschaftsidealistischen Begeisterung für die Leistungen eines "rationalen Preissystems", das "den Warenwert und die Beziehungen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt widerspiegelt", ist ihnen allerdings keineswegs klar, wie das gehen soll. Wie auch, wenn sie sich von der Anwendung des Wertgesetzes" ausgerechnet die Beseitigung dessen erwarten, was sie gerade an dem sich in der kapitalistischen Konkurrenz durchsetzenden Wertgesetz noch allemal als Resultat beobachten könnten: eben die "ungeheure Vergeudung der gesellschaftlichen Arbeit und starke Behinderung des Verteilungsprinzips 'Jedem nach seiner Leistung'" - Maßstäbe, um die es im Kapitalismus wirklich nicht geht. Andererseits hegen die chinesischen Wirtschaftsplaner gewisse Befürchtungen bezüglich der Freiheiten, die sich manche auf Grundlage freigegebener Preise herausnehmen. Also warnt das ZK:
"Keiner Einheit und keinem Individuum ist es gestattet, die Reformen zur beliebigen Preiserhöhung zu mißbrauchen oder Stimmungsmache für Preissteigerung zu betreiben, um den sozialistischen Markt zu stören und den Interessen des Staates und der Verbraucher zu schaden." (ZK-Beschluß vom 20.10.84)
Die "Trennung von Regierungs- und Unternehmensfunktionen", auch als "Dezentralisierung" gehandelt, will heißen, daß die Regierung sich auf die Vorgabe der wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven und die Bereitstellung der allgemeinen Produktionsbedingungen zu beschränken und im übrigen mit den Instrumenten der "indirekten Leitung" Wirtschaftspolitik zu betreiben gedenkt. Die Betriebe haben nicht mehr als Unterabteilungen der Wirtschaftsverwaltung ihre Gewinne abzuführen, sondern werden als "selbständige Wirtschaftssubjekte" (ihre Konstituierung als vertragsfähige Rechtssubjekte ist dementsprechend Bestandteil des modernisierten Zivil- und Unternehmensrechts) einer allgemeinen Gewinnsteuer unterworfen. Für sie ist die "Konkurrenz" die Devise; und damit meint die KPCh nicht den "sozialistischen Wettbewerb" sowjetischen Stils, sondern durchaus eine Art gezähmter kapitalistischer Konkurrenz, wie folgende Idylle zu erkennen gibt:
"Für eine lange Zeit bezeichnete man Konkurrenz als eine dem Kapitalismus eigene Erscheinung. Tatsächlich aber besteht, wo es Warenproduktion gibt, auch Konkurrenz, allerdings sind die Zielsetzung, der Charakter und Umfang und die Mittel der Konkurrenz in den verschiedenen Gesellschaftssystemen unterschiedlich. Die Konkurrenz unter den sozialistischen Unternehmen unterscheidet sich grundsätzlich von dem Dschungelgesetz im Kapitalismus. Auf der Grundlage des Gemeineigentums, unter der Kontrolle durch die staatlichen Pläne und Gesetze und im Dienst der sozialistischen Modernisierung wird die Marktkonkurrenz zwischen den Unternehmen direkt von den Verbrauchern bewertet und überprüft. Schließlich werden die überlegenen Unternehmen siegen und die unterlegenen ausscheiden." (ZK-Beschluß, 20.10.84)
Daß die erwünschten Resultate dieses Treibens sich so ganz von selbst wohl doch nicht einstellen, vielmehr zusätzliche staatliche Anstrengungen insbesondere bei Aufbau, Propagierung und Vollzug der Rechtsordnung erfordern, wird nicht verheimlicht:
"Der Konkurrenzkampf macht es allerdings möglich, daß gewisse negative Erscheinungen und gesetzwidrige Aktivitäten auftreten. Daher müssen die zuständigen leitenden Organe verschiedener Ebenen einen klaren Kopf behalten, die Erziehung und Verwaltung verstärken und diesbezügliche Fragen angemessen lösen."
Natürlich soll die Konkurrenz nach dem Willen der chinesischen Reformer auch innerhalb der Betriebe ihre segensreichen Wirkungen entfalten. Unter dem Titel "Das Verantwortungsbewußtsein der Arbeiter und Angestellten erhöhen und ihre Initiative, Aktivität und Schöpferkraft voll entfalten!" ist der Kampf gegen die "Gesinnung der Gleichmacherei" zum Programm erhoben worden. Das bedeutet: Der Lohn wird als das Instrument zur Steigerung der Arbeitsleistung entdeckt - "Innerhalb der Betriebe sollen die Lohndifferenzen vergrößert und die Lohnskala erweitert werden, damit Fleißige ausgezeichnet und Faule bestraft werden." Die jeweilige Bedeutung unterschiedlicher Arbeiten für Wachstum und Modernisierung soll den entsprechenden Lohnausdruck erhalten, nach dem "Prinzip, daß die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten mit ihrem Grad der Verantwortung und ihrer Arbeitsleistung eng verbunden sein sollen". Beseitigt werden soll nämlich das "gleichmacherische Mißverständnis in der Frage der Konsumtionsmittelverteilung", ein "schweres Hindernis" für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Dagegen wird die Devise ausgegeben: "Werdet reich!" Denn Reichtum ist keine "negative Erscheinung", sondern wesentlicher Bestandteil des "sozialistischen Entwicklungsgesetzes" hin zum allgemeinen Volks- sprich: Staatswohlstand.
"Nur dadurch, daß man zuläßt und fördert, daß ein Teil der Gebiete, ein Teil der Betriebe und einige Menschen, gestützt auf ihre emsige Arbeit, zuerst reich werden, kann eine starke Anziehungskraft und ermutigender Einfluß auf die Massen ausgeübt werden und können immer mehr Menschen stetig zum Wohlstand gelangen."
- nachdem die Rechnung des Staates aufgegangen ist, versteht sich:
"Unter der Voraussetzung, daß die Wirtschaftseffizienz erhöht, die Finanzeinnahmen des Staates stabil gesteigert und die Beziehungen zwischen Akkumulation und Konsumtion richtig behandelt werden, werden wir allmählich... das Konsumniveau des Volkes steigern."
Wenn es auch immer noch die Idealismen realsozialistischen Volkswirtschaftens sind (ohne das "Recht auf Arbeit" allerdings, bezeichnenderweise), in die das Reformprogramm der KPCh vom Oktober 1984 verpackt ist: In den praktischen Maßnahmen, für deren Begründung sie stehen, geht die VR China über das in den sozialistischen Staaten Übliche weit hinaus.
Vorwärts zum sozialistischen Pachtsystem
Die Fortschritte ihrer Reformpolitik und der damit beförderten "Entwicklung" des Landes läßt die Führung der VR China seit 1981 von einem ständigen Arbeitsstab der Weltbank in Beijing begutachten. Dessen Feststellungen, konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge für die Entwicklung Chinas bis zum Jahre 2000, von der Regierung 1984 in Auftrag gegeben, wurden im Herbst 1985 abgeliefert. Der Generalnenner der Weltbankbeurteilung: China ist aufdem richtigen Weg, den es jedoch dort, wo Störungen und unerwünschte Entwicklungen das Resultat der Wirtschaftsreformen sind, noch konsequenter gehen sollte, ist doch deren Ursache allemal darin zu suchen, daß der Marktmechanismus sich noch nicht ungehindert genug betätigen kann.
Von diesem Standpunkt aus, den die chinesische Regierung - da sie ja auf das Prinzip "Markt" als das Instrument der nationalen Entwicklung gesetzt hat - sich voll zu eigen gemacht hat, lassen sich in der Tat jede Menge Störungen auffinden.
In der Landwirtschaft hat das "Verantwortungsprinzip", d.h. das Recht der Kollektive zur freien Vermarktung der über die abzuliefernde Kontraktmenge hinausgehenden Produktion, schon seit ein paar Jahren die "wirtschaftliche Aktivität belebt". Unter dem Anreiz möglicher Einkommenssteigerungen ist von den Bauernfamilien darüber hinaus einiges an Mehrarbeit aufgebracht worden zur intensiveren Nutzung der ihnen überlassenen Privatparzellen. So werden aus den früheren Gärten für den Eigenbedarf Produktionsstätten für den Markt. Diese werden per politischen Beschluß zu Lasten des kollektiv bewirtschafteten Bodens ausgedehnt. Die achtstündigen Fahrradfahrten mit zweihundert Kohlköpfen zum Markt der nächsten Großstadt sind ebenso Ausdruck des kleinbäuerlichen Geschäftssinns, wie die Tatsache, daß das revolutionäre Recht auf Bildung heute vom Staat mittels eines Schulpflichtgesetzes erzwungen werden muß. Schließlich wird jede Arbeitskraft der Familie für die neue Erwerbsfreiheit gebraucht. Eine Reihe Bauern hat auf diese Weise gute Geschäfte gemacht, ein paar Tausend Juan auf die Seite gelegt - und damit ihre alten Elendsbuden durch zweistöckige Steinhäuser ersetzt. Wohlstand auf dem Dorfe? Ja, aber, meinen Weltbank und Regierung. Denn der ländliche Bauboom hat zum einen die Baustoffindustrie so strapaziert, daß des öfteren der Zement für größere Bauvorhaben des Staates und der Industrie knapp wird. Zum anderen sollten schließlich die erwirtschafteten Gewinne nicht alle in den Privatkonsum fließen, sondern volkswirtschaftlich nützlich verausgabt, d.h. zur Bodenverbesserung, zur Beschaffung von Produktionsmitteln etc., kurz: zur Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft verwendet werden. Denn die planmäßige Zuweisung von Produktionsmitteln an die Landwirtschaft auf staatliche Rechnung war mit der Modernisierung zu einem Feld staatlicher Haushaltsersparnis erklärt worden. Die Gründe für dieses bäuerliche Fehlverhalten, die konzedierten Gewinne zur Bedürfnisbefriedigung zu nutzen, statt sie zu investieren, liegen für den Logiker der Marktwirtschaft, für den Kapitalakkumulation bekanntlich dem unternehmerischen Konsumverzicht entspringt, klar auf der Hand: Weil den Bauern der Boden nicht gehört, sondern nur für jeweils drei Jahre von der Brigade, der Dorfgemeinde überlassen wird, lohnt sich für sie eine langfristige Investition nicht.
Die Heilmittel sind damit auch schon bezeichnet und treiben die Wirtschaftsreform auf dem Land zügig voran: wesentliche Verlängerung der Überlassungsdauer des Bodens an die Einzelhaushalte auf 15 Jahre und mehr, Ausweitung der privat zu bewirtschaftenden Flächen auf Kosten der für das Kollektiv bebauten, Ablösung der Kontraktablieferungsmengen der Bauern durch feste Geldzahlungen, im Klartext also: Übergang zum reinen Pachtsystem. Reich werden dabei nicht so sehr viele: die geschäftstüchtigsten Bauern mit den fruchtbarsten Böden - in Ostchina - und den besten Vermarktungsmöglichkeiten für ihre Produkte im Umkreis der großen Städte und Häfen. Durchaus erwünschtes Resultat der Mobilisierung von Mehrarbeit in der Landwirtschaft und der Anwendung des "Prinzips der Entlohnung nach Leistung" ist es, daß ein großer Teil der Landbevölkerung als bäuerliche Arbeitskraft überflüssig wird und so für den weiteren Aufund Ausbau der Industrie zur Verfügung steht.
Ansonsten geht die "Wirtschaftsbelebung" in der Landwirtschaft an diversen "marktfernen" und weniger fruchtbaren Provinzen des chinesischen Mittelwestens und Westens ziemlich vorbei, deren Bauern denn auch wenig unternehmerische Begeisterung an den Tag legen und mit der bisherigen kollektiven Selbstversorgungswirtschaft und dem so gewährleisteten Auskommen in Armut zufrieden wären wenn nicht der Übergang zur indirekten Planung dazu führen würde, daß sie an notwendige Produktionsmittel noch weniger herankommen als bislang durch die Planzuweisungen.
Für die Führung der KPCh war die Sache mit den regionalen Entwicklungsunterschieden allerdings so nicht gemeint, daß ganze Landstriche bei der "Modernisierung" der Landwirtschaft nicht mitmachen. Daß die Anreizwirkung der regionalen Unterschiede ausbleibt, ist für sie ein Versagen der regionalen Parteikader. Eine größere Überzeugungskampagne zur Durchsetzung der Reformkurslinie innerhalb der Partei in den ländlichen Gebieten wurde deshalb jüngst angesagt.
Den sozialistischen Unternehmer machen lassen
Die Trennung von Eigentum und Unternehmerfunktion, in der Landwirtschaft als Pachtsystem eingerichtet, die die chinesischen Kommunisten dem entwickelten Kapitalismus als Trick abgeschaut haben, wie das Prinzip des öffentlichen Eigentums an den Produktionsmitteln mit deren gewinnträchtigem Einsatz durch privates Geschäftsinteresse verbunden werden kann, ist in der Industrie zum Schlüssel der ganzen Politik der "Wirtschaftsbelebung" geworden. So bleiben zwar die industriellen Großbetriebe im Eigentum des Staates, der Provinzen und Kreise; für die ländliche Industrie firmieren die Kollektive auf Kommune-, Brigade-, Dorfebene als Eigentümer, und nur kleinere Betriebe mit 5-10 bezahlten Arbeitskräften dürfen als Privateigentum aufgezogen werden. Aufführen sollen sich aber alle Betriebe als selbständige Unternehmen, denen es in ihrer Beschaffung, ihrem Produktionsprozeß, ihrem Absatz jenseits gewisser noch verbliebener Planvorgaben allein darauf ankommt, in Konkurrenz zu den anderen Gewinne zu machen.
Und damit sie auch wissen, woran sich diese Gewinne zu bemessen haben, sind nicht nur Buchhaltung über das laufende Geschäft und Bilanzierung der eingesetzten Produktionsmittel nach ihrem "Wert", als "Kapital", fällig. Die Beschaffung zusätzlicher Produktionsmittel, die Errichtung neuer Gebäude werden nicht mehr bestritten über Zuweisungen aus zentralen Investitionsfonds. Vielmehr hat die VR China in den letzten Jahren, von der Weltbank fachmännisch beraten, ihren Banken, bislang im wesentlichen Verrechnungsstellen für die diversen Fonds von Betrieben und staatlichen Stellen, eine ganz neue Aufgabe zugewiesen Für diesen Zweck beträchtlich erweitert, hat der chinesische "Bankenapparat" ein regelrechtes inneres Kreditsystem aufzuziehen, von dem sich die Reformpolitiker sowohl kräftige zusätzliche Anreize für marktgemäßes Verhalten der Unternehmer wie auch eine wirksamere "indirekte Lenkung" ihrer Ökonomie versprechen. Wollen Kollektive oder einzelne neue Unternehmen aufmachen, wollen bestehende Unternehmen Investitionen vornehmen, die über ihre dafür vorhandenen Fonds hinausgehen, dann können sie Kredite aufnehmen, deren Zins als zusätzlicher Anreiz dienen soll, sich um die Rentabilität der betreffenden Investition sorgen. Und die Banken, so das Ideal, haben nicht mehr zu prüfen, ob die von ihnen finanzierten Investitionen den Planvorgaben entsprechen, sondern sollen sich - ebenfalls selbständig gewinnmaximierend darum kümmern, ob Kreditnehmer und Investitionsvorhaben eine rentable Verwendung des Kredits erwarten lassen.
Der dahinterstehende Gedanke aus den Lehrbüchern der bürgerlichen Nationalökonomie, durch die Einrichtung von so viel Marktmechanismus werde sich die volkswirtschaftlich "optimale Allokation der Produktionsfaktoren" ganz von selbst, im Vollzug des unternehmerischen Geschäftsinteresses einstellen, will freilich nicht so recht Realität werden. Die Trennung von Eigentum und Management hat so wenig wie die Verleihung des "Ehrentitels Unternehmer" an erfolgreiche Betriebsführer oder die offizielle Verwandlung der diversen Fonds in "Kredit" etwas daran geändert, daß in der chinesischen Ökonomie die Unternehmensführung eben gerade keine Funktion des Eigentums ist. Schließlich gibt es in der VR China kein Privateigentum an Produktionsmitteln und deshalb auch nicht den durchgesetzten Standpunkt der Vermehrung dieses (kapitalistischen) Reichtums. Die öffentliche Begeisterung über das freigesetzte Wetteifern aller möglichen "Manager" und "Unternehmer" um den schnellen Renminbi hat sich denn auch angesichts der bislang zu verzeichnenden Resultate mittlerweile wieder etwas gelegt. Die Betriebe haben nämlich ihre neüe gewinnorientierte Selbständigkeit in der Regel erst einmal für das Nächstliegende genutzt und die Preise ihrer Produkte innerhalb, nicht selten aber auch unter souveränem Ignorieren der staatlich festgelegten Steigerungsgrenzen kräftig angehoben. Dank der flotten Kreditierung aller betrieblichen Investitionswünsche durch die Banken gab es dafür genügend zahlungsfähige Nachfrage. Eine kräftige Inflation in allen Bereichen freigegebener Preise ist die Folge, die die Zunahme der wertmäßigen Industrieproduktion um 23% im ersten Halbjahr 1985 einigermaßen relativiert.
Steigende Gewinne schließlich wurden getreu dem neuen Leistungsprinzip auch zu höheren Zahlungen an Arbeiter und Management und zur Dotierung der diversen betrieblichen Sozialfonds verwendet, wie die Weltbank moniert: "Beträchtliche Zunahme der Vergünstigungen für die Beschäftigten, aber kaum Steigerungen der wirtschaftlichen Effizienz."
Daß der ziemlich ungeschäftsmäßige Blick auf das "große Geld" als den endlich ein wenig greifbaren Schlüssel zu den zahlreichen Gegenständen der Bedürfnisse daneben auch noch ganz andere ungeschäftsmäßige Aktivitäten, Korruption, Unterschlagung, Diebstahl etc. zu beträchtlicher Blüte brachte, versteht sich von selbst - und führt zu wachsenden volkserzieherischen Aufgaben der Öffentlichkeitsorgane. Für die steht derzeit, im Winter 1985/86, wieder einmal die moralische Verurteilung der ungebremsten "Konsumlust" und der "mißbräuchlichen Ausnutzung der neuen Freiheiten" für die "vulgäre Jagd nach dem großen Geld" (Volkszeitung) auf der Tagesordnung.
Insgesamt jedenfalls ist die chinesische Führung mit dem Resultat der von ihr inganggesetzten Wirtschaftsbelebung nur bedingt zufrieden, ganz abgesehen davon, daß die ganze Geschäftigkeit nicht nur zur Zementknappheit wegen der bäuerlichen Baulust, sondern auch zu Engpässen in der Elektrizitäts- und Kohleversorgung geführt hat.
Die Worte der Weltbank schöpferisch anwenden
Kritik wie die des Politbüromitglieds Chen Yun, der auf der Parteikonferenz Ende September 1985 forderte, am Primat der Planwirtschaft gegenüber dem Markt festzuhalten und gegen "ungesunde Tendenzen in der Wirtschaft" entschlossen vorzugehen, darf zwar als Beleg für die Ablösung des "Kampfs der Linien" durch die "offene Diskussion verschiedener Meinungen" - geäußert werden, ist aber unerwünscht.
Sehr erwünscht und inzwischen bereits fast vollständig berücksichtigt im Entwurf des 7. Fünfjahresplans für 1986-1990 ist dagegen die konstruktive Kritik der Weltbank, die in der Tat erkannt hat, was das Wachstum von Wirtschaft und Staatseinnahmen behindert: Den Massen geht's zu gut, und die Betriebe behandeln ihre Arbeiter nicht konsequent als Kostenfaktor. Während die chinesischen Wirtschaftsplaner den Kapitalismus als ein brauchbares Methodenarsenal für die Entwicklung der eigenen Wirtschaft betrachten, entdeckt die Weltbank, daß alle diese Methoden so lange nicht greifen, wie das entscheidende noch fehlt: der Kapitalismus. Und der geht bekanntlich nicht ohne reichtumsfördernde Anwendung der Massen und deren damit einhergehende Verarmung.
Dementsprechend auch die Verbesserungsvorschläge: Befreiung der Betriebe von ihren sozialen Aufgaben wie Bildung, Kranken- und Altersfürsorge, Versorgung mit Wohnungen etc.; Verkauf der Wohnungen an die Mieter bzw. kräftige Anhebung der Mieten; Anhebung der Preise für Grundnahrungsmittel und Kohle auf ein kostendeckendes Niveau. Die daraus resultierenden zusätzlichen Ausgaben, so die Weltbank, könnten "durch eine einmalige Lohnanhebung kompensiert werden. Eine weitergehende automatische Inflationsanpassung der Löhne ist jedoch nicht ratsam."
Den Unternehmen sollte zudem gestattet werden, Arbeiter nach Bedarf einzustellen und zu entlassen - Entlassungen also nicht nur für die "Faulein und Nachlässigen" wie bislang, sondern auch aus "betrieblichen Gründen".
"Das würde zwar unvermeidbar offene Arbeitslosigkeit zur folge haben, aber die Vergeudung der Arbeitslosigkeit sollte abgewogen werden gegen die Verschwendung menschlicher Ressourcen unter dem gegenwärtigen Beichäftigungssystem, das die Arbeitslosigkeit von den Straßen in die Betriebe verlagert und die Manager daran hindert, das volle Potential ihrer Arbeiter zu realisieren."
Das erfordert allerdings laut Weltbank auch eine Organisation der Unternehmen, die sicherstellt, daß die Manager sich nicht den Arbeitern, sondern den Eigentümern - repräsentiert am besten in einer Art Aufsichtsrat - verpflichtet fühlen.
Es geht also - so die zutreffende Diagnose der Weltbank - darum, das durchzusetzen, was in der Tat in China noch fehlt bzw. unterentwickelt ist: den Standpunkt des Gegensatzes von wirtschaftlicher Effizienz bzw. Rentabilität der Unternehmen einerseits und dem Lebensunterhalt der Arbeiter andererseits.
Daß dieser Standpunkt sich entwickelt, dafür bestehen gute Chancen im Zuge der "Reform des Preissystems", einer der Prioritäten des 7. Fünfjahresplans. Die schrittweise Freigabe der Preise für Konsumgüter wie Produktionsmittel, hofft die Führung der KPCh, werde das "gewaltige Potential" mobilisieren, welches sie gerade in der Rückständigkeit ihrer Wirtschaft entdeckt hat:
"Die schlechte Qualität der Produkte und der hohe Materialverbrauch in der Produktion sind bedrohliche Schwächen unserer Wirtschaft, gerade darin liegt aber auch ein gewaltiges Potential für die zukünftige Entwicklung."
Und das stellt man sich u.a. so vor:
"Der Anstieg der Selbstkosten der Betriebe durch die Verteuerung wichtiger Produktionsmittel muß nach besten Möglichkeiten durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Senkung des Verbrauchs und die Ausschöpfung der Reserven von den Unternehmen ausgeglichen werden."
- eine Aufgabe, bei der ihnen die Arbeiter mit ihrer durch die gestiegenen Konsumtionsmittelpreise beflügelten Leistungbereitschaft tatkräftig helfen sollen.
Die Verarmung der Massen als Bedingung der Wirtschaftsentwicklung, ihr weitgehender Ausschluß von dem zu produzierenden wachsenden gesellschaftlichen Reichtum, ist mit dem neuen Reformkurs, wenn auch natürlich nur als Zwischenstufe auf dem Wege zum allgemeinen Volkswohlstand, akzeptierte Sache. Den damit auf den Staat zukommenden neuen Aufgaben trägt der kommende Fünfjahresplan in Befolgung der Weltbank-Ratschläge folgerichtig Rechnung. Jetzt geht es nämlich darum, "die Bevölkerung vor Entlassungen und Arbeitslosigkeit, vor steigenden Preisen und denn Wegfall bisheriger kollektiver und betrieblicher Sozialleistungen durch die Schaffung eines Sozialversicherungssystems zu schützen", das ihnen einen "Mindestlebensstandard" sichert, der aber die "wirtschaftlichen Möglichkeiten Chinas als eines ärmeren Landes" nicht überfordert, so die Weltbank. China auf dem Weg zum "modernen Sozialstaat": Es sieht so aus, und selten bekommt man so methodisch vorgeführt, daß diese Einrichtung die beständig gesellschaftlich produzierte Verarmung beträchtlicher Teile der Bevölkerung unterstellt und ihrer Verwaltung dient, ohne sie hingegen absolut überflüssig ist.
Methodisch heißt hier: Die Bedingungen kapitalistischer Reichtumsproduktion, die sonst immer als ungewollte Begleiterscheinungen uon lauter menschheitsbeglückenden Absichten verhandelt werden, tauchen hier ganz unverhüllt als erwünschte und beabsichtigte Voraussetzungen der Tauglichkeit für den kapitalistischen Weltmarkt auf.
Die VR China hat hier schon noch eine ziemliche Strecke Wegs zurückzulegen. Und die Führung der KPCh hat noch längst nicht alle Parteimitglieder davon überzeugt, daß das jetzt der Weg zum chinesischen Sozialismus ist. Die inzwischen installierten Außenwirtschaftsbeziehungen - Produktion für den Weltmarkt, vermehrter Zugang kapitalistisch produzierter Waren aus Importen und ausländischen Direktinvestitionen auf den chinesischen Markt - entwickeln sich jedoch zur immer wirksameren Triebkraft in dieser Richtung.
Den Westwind ins Land lassen
Daß die eigene Ökonomie zwar mehr Arbeit als bislang zu mobilisieren vermag, es aber nicht schafft, eine ausreichend schnelle Akkumulation und Steigerung der Produktivität der Arbeit zustandezubringen, dieses Urteil stand für die chinesische Führung am Anfang aller Wirtschaftsreform. Es führte zu dem Beschluß, daß für die schnelle Kapitalzufuhr in Form von modernen Produktionsmitteln, die eine dem westlichen Niveau entsprechende Arbeitsproduktivität ermöglichen, das kapitalistische Ausland zu bemühen sei. Für die 1984 beschlossene Beschleunigung der Reform in der Industrie erhielten Außenhandel und Auslandskapital als Triebkräfte der Modernisierung folglich noch einmal verstärkte Bedeutung. Und das, obwohl die bisherigen Erfahrungen der VR China mit ihren Wirtschaftsbeziehungen zu den kapitalistischen Staaten sich in keiner Weise auf die 'guten Seiten' des Kapitalismus beschränken ließen. Die diversen fatalen Konsequenzen der 'weltwirtschaftlichen Vcrflechtung' Chinas wurden entschlossen als vorübergehende Störungen auf dem richtigen Weg betrachtet, auf die allenfalls kurzfristig mit gewissen Beschränkungen zu reagieren, deren wirkliche Lösung aber allemal die weitere Öffnung der 'offenen Tür' sei. Und ihre als verständnisheischende Selbstkritik vorgetragene - Begründung ist die gleiche, mit der auch hierzulande allzu drastisches Verfehlen des 'magischen Vierecks' bzw. Unternehmensverluste und -pleiten kritisiert werden: Versagen der Wirtschaftspolitik bzw. Managementfehler etc., nur mit dem Zusatzargument "wegen noch fehlender wirtschaftspolitischer bzw. Managementerfahrung".
Als ihre Hauptschwierigkeit bei der Aneignung der fortgeschrittenen Produktionstechnik sowie der perfektionierten Ausbeutungs- und Geschäftsmethoden des Kapitalismus, Managementtechniken genannt, gilt der VR China das 'Devisenproblem'. Da man nicht genug weltmarktfähige Warem produziert, fehlt es auch an der Zahlungsfähigkeit, um auf dem Weltmarkt im gewünschten Umfang als Nachfrager nach Modernisierungsmitteln aufzutreten. In unangenehmer Erinnerung ist schließlich noch die Situation nach dem ersten Öffnungsbeschluß 1978, als alle möglichen europäischen und japanischen Großunternehmen sich zwar gerne chinesische Milliardenaufträge an Land zogen, dann aber geschäftsmäßig deren Finanzierung sichergestellt sehen wollten und damit der VR China vorführten, daß sie die Grenzen ihrer Zahlungsfähigkeit und ihrer Kreditwürdigkeit überschritten hatte.
Die chinesische Führung zog aus der mangelnden Attraktivität ihrer Ökonomie für Handelsgeschäfte damals die Konsequenz, unmittelbar ihre ökonomischen Grundlagen, Land und Leute, dem Kapital zur Benutzung anzubieten. In konsequenter Anwendung ihres Prinzips "Vom Kapitalismus lernen, wie Wirtschaftswachstum geht" sollte das Kapital in "Sonderwirtschaftszonen" (SWZ), ganz sich selbst und seinen Gesetzmäßigkeiten überlassen, seine segensreichen Wirkungen - Produktivitätssteigerung und modernes Management - entfalten und auf die ganze chinesische Wirtschaft ausstrahlen, während seine kapitalistischen Auswüchse schön räumlich begrenzt unter Kontrolle blieben.
Vor allem sollten in den SWZ die Devisen durch Export verdient werden, die für nötig gehalten wurden, um auch dem Rest der Industrie westliche Technik und Produktivität zuteilwerden zu lassen. Kaum verheimlichtes Vorbild für die chinesischen SWZ ist jene "Sonderzone", die nun schon seit 140 Jahren Hort eines blühenden kapitalistischen Geschäftslebens auf chinesischem Boden ist: Hongkong. Die Tatsache, daß bislang der über Hongkong laufende Handel Chinas Devisenquelle Nr. 1 ist, muß die chinesischen Reform- und Öffnungspolitiker auf so etwas wie die heimliche Devise "Schafft zwei, drei, viele Hongkong" gebracht haben. Ihre mit Abstand erfolgreichste SWZ, auf die bis Ende 1984 70% der Auslandsinvestitionen aller SWZ entfielen, ist folgerichtig die Zone "Shenzen". Denn sie ist nicht nur geographisch das Hinterland Hongkongs, sondern wurde auch ökonomisch ziemlich offen als eine Art Erweiterung Hongkongs konzipiert: mit dem Angebot billigerer Bodenpreise und Arbeitskosten als in Hongkong und zusätzlicher Naherholungsmöglichkeiten für dessen Bevölkerung.
Und entsprechend sieht die wirtschaftliche Bilanz aus. Die Investitionen entfallen zum großen Teil auf Wohnungsbau und Tourismus. Was daneben an Produktionsbetrieben errichtet wird, sind Erweiterungen der Industrie Hongkongs: Manufaktur- und Montagebetriebe der Textil-, Konsumelektronik- und sonstigen Leichtindustrie, bei denen es darauf ankommt, mit minimalem Investitionsaufwand und maximaler Ausnutzung billiger Arbeitskräfte einen schnellen Umschlag und eineri Rückfluß des eingesetzten Kapitals innerhalb von höchstens zwei bis drei Jahren zu erreichen.
Weil in Hongkong der Dollar rollt und Devisen winken, ist das Geschäft dort mit Handel, Banken, Kredit und Bodenspekulation für die chinesischen Kommunisten Grund genug, es als "Modell Hongkong" zu kopieren. Die Muster-Sonderzone Shenzen hat bislang zum Import von Ausrüstungen und Vorprodukten für Bau-, Tourismus- und Verarbeitungsindustrie, von Konsumgütern sowie für den Transfer der ersten schnellen Profite einiges mehr an Devisen beansprucht als erwirtschaftet, und zwar unter anderem auch deshalb, weil legal wie illegal über Schmuggel und Schwarzmarktgeschäfte zwei Drittel statt der geplanten 10% der Shenzener Industrieproduktion in China selbst verkauft statt exportiert werden.
Nicht nur der blühende Schmuggel aus Shenzen, sondern auch der Zuzugsandrang in die Sonderzone haben schließlich zu einer sehr handfesten Abgrenzung der SWZ Shenzen gegenüber dem Binnenland geführt: mittels Zaun und Grenzkontrollen, einem "zweiten Bambusvorhang".
Daß überhaupt in Shenzen und den drei anderen SWZ ein Geschäftsleben mit ausländischem Kapital in Gang gekommen ist, daß etwas exportiert wird, ist den chinesischen Wirtschaftsreformern gleichwohl Grund genug gewesen, vor einem Jahr das Sonderzonenmodell auf 14 weitere Küstenstädte und das inländische Industriezentrum Chongqing auszuweiten, mit den entsprechenden Konditionen: Steuerbefreiungen bzw. -ermäßigungen auf die Gewinne, Zollfreiheit auf die Importe der mit Auslandskapital eingerichteten Unternehmen, Vertragsfreiheit bei der Anstellung und Bezahlung von Arbeitern etc. Damit wurde der Beschwerde potentieller Interessenten entsprochen, für eine Kapitalanlage fehle der frei zugängliche Binnenmarkt. Dennoch will die Investitionswelle noch nicht im gewünschten Umfang und vor allem nicht in der gewünschten Beschaffenheit - als moderne Industrieproduktion für den Weltmarkt - anrollen. Die Vorstellungen der chinesischen Kommunisten decken sich nämlich nicht so ganz mit dem Geschäftskalkül der kapitalistischen Unternehmen. Für letztere ist die VR China vor allem unter zwei Gesichtspunkten für Investitionen attraktiv: als der sagenhafte "Markt von 1 Milliarde Verbrauchern", zu dem es sich Zutritt zu verschaffen gilt, und als Land mit jeder Menge ungehobener Bodenschätze, insbesondere Erdölreserven, deren Weltmarktgängigkeit außer Frage steht. Für die Versorgung des Weltmarktes mit Industrieprodukten dagegen hält man sich doch lieber an gesicherte Regionen der Welt des Imperialismus als Produktionsstandorte.
Dementsprechend sehen bislang die Joint ventures und sonstigen Investitionen aus: Hotels und Luxusapartmentanlagen für ausländische Touristen, Geschäftsleute, Diplomaten - das bringt dem Staat Deviseneinnahmen und den Investoren in China verdientes Geld; Ölkonzessionen - da gibt es eine mittlere Drängelei des Kapitals; Betriebe mit zumindest erheblichen Absatzmöglichkeiten auf dem chinesischen Binnenmarkt (wie das VW-Joint venture in Shanghai, das die Volksrepublik auf zunächst 25 Jahre mit der zeitlosen Eleganz der Santanas versorgen soll) - das kostet zwar auf die Dauer nur Devisen, soll aber massenhaft "Know how" bringen. Letzteres wird sich allerdings im günstigsten Fall auf die Fähigkeit beschränken, eine Autofabrik mit dem technischen Stand der 70er Jahre zu managen bzw. als Arbeiter sich reibungslos in ihren Produktionsablauf einzufügen, jedenfalls nicht die Fähigkeit, in den 90er Jahren Autos oder sonstige Industrieprodukte gewinnbringend auf dem Weltmarkt zu verkaufen, es sei denn, VW oder sonst ein Investor sieht das zu jenem Zeitpunkt dann für sich als gewinnbringend an.
Die Modernisierung vorantreiben: Devisen beschaffen
Die Entdeckung, daß die Einrichtung von Sonderzonen erst einmal einiges kostet, bei ziemlich unsicheren Chancen, jemals etwas abzuwerfen, hat die Begeisterung für deren "Pionierrolle" innerhalb der KPCh mittlerweile wieder ein wenig abklingen lassen. Von den 14 Küstenstädten erhalten nur vier die erforderlichen Mittel, um die Erschließungsarbeiten für ausländische Investitionen vorzunehmen. Der Rest wird mit dem Auftrag versehen, sich durch Joint ventures mit internationalen Interessenten selbst die Devisen zu beschaffen, damit es zu einer produktiven Sonderentwicklung kommt. Dafür dürfen sie mit der vorhandenen "Infrastruktur" und Arbeitskräften als Vorzugsangebot untereinander konkurrieren. Gleichzeitig wurden die bestehenden Zonen vom "Modell" zum "Experiment" heruntergestuft.
Auf der anderen Seite werden für das Programm der Devisenbeschaffung die Exportbemühungen der chinesischen Industrie forciert. Und zwar ganz auf der Linie des Reformbeschlusses vom 20.10.84, durch Dezentralisierung und Freisetzung von jeder Menge Eigeninitiative der Unternehmen.
Statt der bisherigen 16 zentralen Außenhandelsorganisationen gibt es inzwischen deren hunderte auf Provinz- und Kreisebene. Größeren Betrieben und Kollektiven wurde gestattet, ihre Außenhandelsgeschäfte in eigener Regie zu betreiben und einen beträchtlichen Teil ihrer Devisenerlöse für Unternehmenszwecke zu behalten. Und da die Produktion schließlich auf Weltmarktniveau gebracht werden für den Export und dazu die entsprechenden Produktionsmittel und Vorprodukte erst aus dem Ausland importiert werden müssen, wurde - dies die bislang weitestgehende "Liberalisierung" - ein vereinfachtes quasi automatisches Verfahren der Devisenbewilligung durch die zuständigen Banken eingeführt, d.h. auf die Prüfung der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit, betrieblichen Rentabilität oder gar Plankonformität der Importe, für die die Betriebe Devisen anforderten, verzichtet. Der so freigesetzte sozialistische Wettbewerb im Außenhandel hat im Sommer 1985 eine handfeste Zahlungsbilanzkrise der VR China herbeigeführt.
Die Aufforderung an die Betriebe, die eigene Produktion dem auf dem Weltmarkt üblichen Qualitätsniveau anzupassen und dafür nötigenfalls ausländische Produktionsmittel zu kaufen, um sich exportfähig zu machen, wurde von den Betrieben so oder dahingehend umgekehrt, die Verfügung über importierte Produktionsmittel als die notwendige und hinreichende Bedingung für den Export anzusehen. Folgerichtig wird das "auf importierten Anlagen produziert" von den chinesischen Unternehmen als selbständiges Qualitätsmerkmal aufgefaßt und unabhängig von dem angebotenen Produkt zu einem Werbeargument in den Anzeigen der internationalen Geschäftsblätter.
Aber auch ganz unabhängig von Exportmöglichkeiten wurden in diversen Provinzen mit importierten Produktionsmitteln Betriebe für die Produktion der meistgewünschten Konsumgüter, Farbfernsehapparate, Kühlschränke, Waschmaschinen etc. aufgezogen, die erst einmal weit über die gegenwärtige zahlungsfähige Nachfrage hinausgehen und zudem großenteils mangels entsprechender innerchinesischer Zulieferungen für ihre Funktionsfähigkeit auf laufende Vorproduktsimporte angewiesen sind.
Der Export selbst hat ein fröhliches Konkurrieren der Betriebe untereinander und gegen die staatlichen Handelsorganisationen in Gang gesetzt, ausgetragen natürlich mit dem Mittel des (Schleuder-)Preises, denn Devisen locken als Entgelt, und mit denen läßt sich nun mal mehr anfangen als mit Renminbis. Sie eröffnen den Zugriff auf die Fülle der westlichen Warenwelt. So gab es namentlich für japanische Unterhaltungselektronik-, Motorrad- und Autohersteller im ersten Halbjahr 1985 einen unerwarteten Absatzboom in China.
Die neuen Möglichkeiten, die Dezentralisierung und Liberalisierung des Geschäftsverkehrs mit dem Ausland der individuellen Bereicherung bieten, werden verstärkt genutzt.
Und da größere Geschäfte dieser Art in China nach wie vor kaum ohne Billigung der örtlichen Parteikader laufen, lassen etliche von ihnen sich großzügig an den Erträgen beteiligen sofern sie nicht, wie es ebenfalls recht verbreitet ist, ihre eigenen Unternehmungen gründen, um auch in der Ausführung der Devise "Werdet reich!" den Volksmassen als Vorbild voranzugehen.
Daß die Handelsbilanz innerhalb weniger Monate nach Inkrafttreten der neuen Reformbeschlüsse total aus dem Lot geriet, die Verschuldung der VR China dadurch um 5 Mrd. Dollar zunahm, hat seine Ursache allerdings nicht nur in den flott in Gang gekommenen Importen, sondern auch darin, daß die chinesischen Exporte mittlerweile voll an die eng gezogenen Grenzen der Importkontingente der imperialistischen Abnehmerländer für Textilien und andere Industrieprodukte stoßen. Auch China darf sich deshalb inzwischen den freundschaftlichen und oft gegebenen Rat westlicher Staatsbesucher anhören, seine Exportstruktur doch zu diversifizieren, statt ausgerechnet in den Bereichen zu exportieren, in denen man leider zu einem gewissen Protektionismus gezwungen ist.
Die Situation im Herbst 1985 sieht damit schon recht entwicklungslandmäßig aus: Drastische Importrestriktionen und inhaltliche Prüfung jedes Antrags, statt des bisherigen einfachen Devisenbewilligungsverfahrens setzen nicht nur von der Außenwirtschaftsseite her das schon im Innern angesagte "Ende des Konsumrauschs" durch. Sie werden auch einige Kalkulationen von chinesischen Unternehmen infolge ausbleibender ausländischer Lieferungen gegenstandslos machen und Investitionsruinen entstehen lassen, wo die betreffenden Importe jetzt als unnötig eingestuft werden.
"Es ist jetzt schwierig für chinesische Beamte, irgendwelche Importe außer den allernötigsten zu veranlassen, ohne Gefahr zu laufen, der Devisenverschwendung bezichtigt zu werden." (Financial Times, 9.12.85)
Auf der anderen Seite werden Illusionen bezüglich der Absatzmöglichkeiten der chinesischen Industrie auf dem Weltmarkt sowie der Fähigkeit Chinas, handelspolitische Zugeständnisse zu erreichen, zurückgeschraubt und stattdessen diejenigen Exporte forciert, die auch nach den Empfehlungen der Weltbank jenseits aller Handelsbeschränkungen allezeit ihre Käufer finden, wenn sie nur billig genug angeboten werden - Rohstoffe: Erdöl, Kohle, Gold und andere Metalle. In ihre Förderung und die dafür nötige Infrastruktur fließt schon bislang ein großer Teil der langfristigen Kredite der Weltbank und internationaler Bankenkonsortien in Höhe von mittlerweile über 15 Mrd. Dollar. Auch der Landwirtschaft stehen neuerdings verstärkt Auslandskredite zur Verfügung für die Ausweitung des Anbaus und die Vermarktung von "Cash crops", Baumwolle, Soya, Tee etc. Beim Getreide stehen unterdessen wieder größere Importerfordernisse an, da durch die Kombination einer schlechten Ernte 1985 mit der aus Rentabilitätsgründen zugunsten anderer Produkte verringerten Anbaufläche die Selbstversorgung Chinas wieder fraglich geworden ist.
Die Früchte der Modernisierung sind also nicht zu übersehen. Die Integration der chinesischen Ökonomie in den Weltmarkt als Schuldner, als Billiglohnstandort, Rohstofflieferant und Absatzmarkt macht Fortschritte.