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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1985 erschienen.

Systematik


MIT HEBELN GEPLANT

1. Die sozialistische Ware

Wie überall präsentiert sich auch in den Gesellschaften des realen Sozialismus der Reichtum in Gestalt von Gebrauchswerten. Er besteht aus Arbeitsprodukten, die je nach ihren Eigenschaften Bedürfnisse in der Konsumtion oder Produktion befriedigen. Daß es mit diesem ebenso einfachen wie erfreulichen Sachverhalt nicht sein Bewenden hat, verrät der Preis, den das Zeug auch noch hat. Der sozialistische Staat, der die Produktion und Verteilung des Reichtums lenkt, bestimmt den Preis der Waren. Damit gebietet er Austauschrelationen zwischen den verschiedenen Warengattungen, die er für nützlich und gerecht hält.

a) In Sachen Gerechtigkeit wird dieser Staat aktiv, weil er als "die Wirtschaft lenkendes Subjekt" angetreten ist, um der arbeitenden Klasse das Recht widerfahren zu lassen, das ihr als Mittel des Kapitals vorenthalten wird. Er besteht darauf, daß diejenigen, die den Reichtum schaffen, bei der Bewältigung ihrer Lebensnotwendigkeiten nicht an einem Markt scheitern, auf dem die Verfügung über Geld und die geschäftstüchtige Preisgestaltung derer, die etwas zu verkaufen haben das Bestimmende sind. Dieser Staat ist Gegner der Privatmacht des Geldes, die die Welt des Privateigentums kennzeichnet - und Befürworter eines gesicherten Lebensunterhalts der Werktätigen, deren Lohnhöhe er ebenso zu einer Frage seiner Entscheidung macht wie, die Erschwinglichkeit der Gebrauchsartikel, die sie brauchen.

b) Daß es ihm überhaupt nützlich erscheint, den Resultaten der unter seiner Herrschaft vonstatten gehenden Produktion eine Preisform anzuhängen, ist freilich angesichts dieser Praxis seltsam. Die Lenker des Staates setzen einen Markt ins Werk, um ihn zu planen. Sie wissen von der Beschränkung, welche im Preis der Verfügung über den Genuß von Gebrauchswerten aufgemacht wird; sie kennen den Gegensatz von Interessen, der sich zwischen Käufer und Verkäufer allemal abspielt (das Bedürfnis nach Gebrauchswerten widerspricht dem nach der Anhäufung von möglichst viel Geld, dem Äquivalent für jede beliebige Sorte Reichtum) - und sie führen dennoch die Unterordnung des Gebrauchswerts unter den Tauschwert ein. Allerdings mit dem Vorbehalt, daß der Austausch Ware-Geld den staatlich erwünschten Verteilungsergebnissen entspricht. Insofern der sozialistische Staat einen Markt ohne Konkurrenz einrichtet - die Veränderung der Preise ist niemandem als sein ökonomisches Mittel gestattet - und zugleich alles dem Maßstab des Geldes unterwirft, den r setzt, monopolisiert r die Macht des Geldes.

c) Dieses Verfahren, das schließlich das ökonomische Programm einer nützlichen Herrschaft ankündigt, erklärt das Geld, das Maß des abstrakten Reichtums zum ausgezeichneten Mittel einer Planung. Diese Planung einer volksnützlichen Produktion und Verteilung des Reichtums soll dadurch bewerkstelligt werden, daß der Gebrauch des Geldes nur staatlichen Zielsetzungen gemäß funktioniert. Dieser Staat schafft sich mit seinem Gewaltmonopl ein eigenartiges ökonomisches Monopol, wenn er mit seinem "planmäßigen Preissystem " erwünschte Zirkulationsergebnisse praktisch definiert. r mißt so die Erfolge seiner "Wirtschaft" in Geld, um anhand von bilanzierten Geldgrößen m Staatshaushalt zu entscheiden, was auf seiten der Produzenten an Reichtum und Leistung fällig ist. Den Zweck der Geldvermehrung behält er allein sich vor, und von seinem Gelingen macht er die Teilhabe aller am stofflichen Reichtum abhängig. Um sich zur Durchführung seines sozialstaatlichen Programms zu befähigen, diktiert er seiner Gesellschaft monetäre Dienste.

d) Die Etablierung einer solch eigenartigen "Ware-Geld-Beziehung", die dann als Hebel ausgenutzt wird - da haben die Liebhaber des "Systems der Planung und Leitung" recht -, ist mit Kapitalismus nicht zu verwechseln. Das Kunststück, das sie von ihren "Kommandohöhen der Wirtschaft" aus bewerkstelligen wollen, besteht ja nicht in der schlichten Unterwerfung des Gebrauchswerts unter den Wert, der Erzeugung und Verteilung des stofflichen Reichtums unter, den Zweck der Geldakkumulation. Für sie ist die "Rechnungsführung", die mit Größen abstrakten Reichtums operiert, ein ausgezeichnetes Mittel, um die Produktion und Verteilung des wirklichen Reichtums zu "stimulieren" und zu "kontrollieren". Eines allerdings kann ihnen hier schon gesagt werden: Um eine Planung der Produktion handelt es sich bei dieser umständlichen Befehlsform nicht. Ob eine Produktion den Fortschritten der staatlich definierten Wertgrößen dient oder mehr stofflichen Reichtum schafft, sind nämlich ganz verschiedene Dinge - was die verschiedensten Kommissionen und Wissenschaftler auch bemerken, wenn sie die Schwierigkeiten bei der e-wertung beklagen und einem objektiven "Wert(gesetz) im Sozialismus" ewig auf die Spur kommen wollen.

e) Eine andere Wabrheit läßt sich dem Widerspruch eines "geplanten Marktes" auch schon entnehmen. So sehr sich die maßgeblichen Anwälte der Arbeiter scheuen, die Arbeit nach Maßgabe der natürlichen Bedingungen und zum Nutzen der Produzenten zu planen (dazu wären technologische Kenntnisse wichtiger als das Rätsel der "Vergleichbarkeit" von Arbeitern etc.), so ausgeprägt ist ihr Bedürfnis, "Sachzwänge" einzurichten, denen sich so leicht niemand entziehen kann. Einen begründeten Imperativ der zweckmäßigen Produktion meiden sie - "Gesetze des Sozialismus" setzen sie aber schon in Kraft.

2. Der sozialistische Gewinn

Für den erwünschten effektiven Gebrauch von Material und Arbeitsmittel in den Betrieben hält der sozialistische Staat einen Maßstab bereit. Dieser stammt nicht aus der Eigenart der jeweiligen Produktion, sondern aus dem Beschluß, den für sämtliche gute Werke erforderlichen Reichtum erstens dem Staat zur Verfügung zu stellen und dies zweitens in Farm von Geldgrößen zu tun, die drittens zunehmen. Dieser Maßstab heißt Gewinn und stellt als ökonomische Kennziffer die Vorschrift dar, einen möglichst großen Überschuß über die Kosten der Produktion zu erzielen. Da die Einkaufspreise wie die Verkaufspreise "geplant" sind, stellt sich die praktische Frage, wie diese Kennziffer aus dem traurigen Dasein einer schlichten Rechnung zum Status einer im Interesse des Betriebes liegenden Berechnung gelangt. Und den Widerspruch der Frage tragen dann auch die "Antworten" in sich. Der Hebel, der die Fortschritte in der Produktion des Reichtums bewirken soll, "stimuliert" eine ganze Palette von Unarten, über deren Resultate dann die Parteigänger der kapitalistischen Ausbeutung sich so hämisch verbreiten können.

a) Der Verdacht, die Planer und Leiter könnten sich bei der Einführung ihrer Kennziffer am Kapitalismus ein Beispiel genommen haben, ist abwegig. Geschäftsleute machen Gewinne, die ihr Vermögen vergrößern, und ihr ganzes Trachten im Umgang mit den "Produktionsfaktoren" gilt diesem Zweck, für den der Markt das passende Mittel abgibt. Volkseigene Betriebe erlösen nach getaner Arbeit einen Überschuß, der in Geld beziffert ist, nur dann, wenn die Relation zwischen staatlich dekretierten Ein- und Verkaufspreisen es gestattet. Die Techniken der Konkurrenz gegenüber Ver- und Einkäufem stehen ihnen nicht offen, das erwirtschaftete Geld steht ihnen nicht als materialisierte Privatmacht zur Verfügung, sondern bildet das Material für staatliche Entscheidungen. Somit entfällt für eine Betriebsleitung erst einmal jedes Motiv, die Produktion so zu gestalten, daß sie sich als Mittel für auf dem Markt zu realisierende Geschäftserfolge bewährt. Und genau deshalb erscheint die Optimierung des Verhältnisses Kosten : Überschuß als eine von Staats wegen fällige "Stimulierung der Betriebe" zur beflissenen Nutzung der Produktivkräfte. Die Bezeichnung "Hauptkennziffer der Planung" trifft die Sache also nicht besser.

b) Die Initiative", die der Staat ins Leben ruft kommt aus den genannten Gründen nur zustande, wenn der Staat den Betrieben mitsamt der Kennziffer auch noch Vorteile für den Fall zukommen läßt, daß sie es ihm recht machen und Erfolgsbilanzen zustandebringen. Die Alternative, ihnen mit Sanktionen zu drohen, ist aus Gründen nicht fällig, die zu den Prinzipien der realsozialistischen Wirtschaft gehören. Die Einstellung der Produktion kommt schon gleich gar nicht in Frage - um sie und ihren unaufhaltsamen Fortschritt geht es ja. Die "Wert"-Rechnungen sind ja nicht Zweck der ganzen Veranstaltung, sondern die staatliche Handhabe, um die Produktivkräfte zur Entfaltung zu bringen. Und da der sozialistische Staat auf die Produktivkraft schlechthin, den Arbeiter, nichts kommen läßt und "die Arbeit" für die Quelle allen Reichtums hält und - trotz Marx' Bemerkung in der 'Kritik des Gothaer Programms' enorm schätzt, gilt ihm die Entlassung von Arbeitern als Verbrechen: Recht auf Arbeit.

c) Die Vorteile, mit denen die Betriebe zur staatsbilanzwirksamen Produktion veranlaßt werden, bestehen in der Zuteilung (oder Überlassung) von Mitteln aus dem nationalen Haushalt. Teils für die Betriebsführer, teils für die Belegschaft, teils für die Produktion werden Rechte und Geld zur Verfügung gestellt, die es lohnend machen, daß sich das Kollektiv durch Gewinnerwirtschaftung auszeichnet. Die Normalform dieser Stimulierung besteht in Modifikationen des Verhältnisses zwischen an den Nationalhaushalt abzuführenden und beim Betrieb verbleibenden Gewinnteilen. Letztere tun ihre Wirkung über den Lohnfonds des Betriebs ebenso wie über den Fonds, den er zur Erneuerung und Erweiterung der Produktion ("Investition") verwenden kann. Daneben tritt ein Prämienwesen, das seine Kriterien aus der Definition eines Solls und seiner Er- sowie Übererfüllung bezieht.

d) Damit ist zwar der Anreiz zum Gewinnemachen vorhanden, aber die Kalkulation des sozialistischen Staates noch lange nicht aufgegangen. Nicht deswegen, weil die Betriebe den Anreiz Anreiz bleiben lassen und eine ruhige Kugel schieben; sondern weil sie auf das Angebot eingehen. Die öffentlich breitdiskutierten Methoden des Gewinnemachens und -steigerns werden konsequent angewandt: Mehr in derselben Zeit produzieren, an Produktionsmitteln sparen! Bei der Möglichkeit einer Auswahl zwischen verschiedenen Produkten das (verkaufs-)preisgünstigere herstellen und bei anderen Zurückhaltung üben, auf der Grundlage von brauchbaren Preisrelationen "Erfolge" erarbeiten, die die Anwendung neuer Arbeitsmittel überflüssig machen, weil diese - obgleich höhere Produktivität und bessere Produkte winken nicht zum Sparsamkeitsgebot passen. Und selbst dort, wo die in den betrieblichen Fonds belassenen Mittel brav und rationell eingesetzt werden, bemerkt das Planer- und Leitertum eine Konsequenz ganz eigentümlicher Art: die "guten" Betriebe werden über die Befolgung seines Hebels bisweilen besser - die schlechten bleiben mangels verdienter Zuwendung immer schlechter.

e) Der geplant ins Leben gerufene "Betriebsegoismus" schafft seinen Urhebern manches Problem. Sie kriegen die Quittung für ihr Versäumnis, die gesellschaftliche Produktion zu planen; ihre (be-) wert(-ungs)theoretisch fundierte Liebe zu Maßstab des Geldes, der - brav eingehalten - die Produktivkräfte auf immer höhere Stufen emporheben sollte, zeitigt Resultate, die selbst fanatische Ein- und Überholer des Kapitalismus nicht mehr schätzen können. Deshalb gibt es Bekenntnisie der folgenden Art:

"Der Gewinn als ökonomische Kennziffer widerspiegelt nicht die gesamte Effektivität der Produktion. Unter bestimmten Bedingungen - wie die Erfahrung bewiesen hat - kann die Erhöhung der Rentabilität des Betriebes von einem Sinken der Produktion sowie uon einem Ignorieren der Konsumtionsinteressen begleitet sein."

Solche Befunde zeugen allerdings weniger von Einsicht als von der Absicht, so weiterzumachen und eine Verbesserung des "Systems der Plankennziffern" zu inaugurieren. Die Phänomene, auf die da eine Dame namens "Erfahrung " aufmerksam macht, sind eben nicht unter "bestimmten" Bedingungen zustandgekommen, sondern unter denen, die die leitenden Politökonomen ihren Betrieben aufgemacht haben. Die Klage gilt nichts anderem als der zielstrebig "stimulierten" Trennung des finanziellen Erfolgs vom materiellen Resultat der Produktion. Brauchbare Produkte und produktive Arbeit müssen bei diesem Imperativ einen Mißerfolg in der Bilanz darstellen; umgekehrt dürfen sich Ausschußwaren, mit überholten Fertigungsmethoden erzeugt, stolz als Gewinn ausweisen lassen. Wem freilich an seinem sozialistischen Dekret, die Betriebe möchten Selbstkosten, Investitionen sparen, dabei aber lauter Gewinne mit "hochwertigen Erzeugnissen im gewünschten Sortiment" machen, kein Widerspruch auffällt, dem sind auch die Probleme mit der "Proportionalität" der einzelnen Abteilungen seines Ladens ein Geheimnis. Er meint, sie vorzufinden - und wenn er zehnmal dafür plädiert hat, daß das Prinzip der "Selbsterwirtschaftung der Mittel zur Erweiterung" gelten soll. Daß an manchen Ecken diese Selbsterwirtschaftung nicht nur nicht stattfindet, sondern geplant mit staatlichem Knapphalten von Investitionsmitteln festgeschrieben wird, was als nicht lohnend gilt, haben solche Anwälte des "Wertgesetzes im Sozialismus" glatt übersehen. Deswegen widmen sie sich ein ums andere Mal einer "ökonomischen Reform" und tüfteln neue Preise und Kennziffernsysteme als Korrektur aus...

f) Aufgrund der unübersehbaren "Verzögerung", welche die "Entwicklung der Produktivkräfte" verzeichnet - die realen Sozialisten schätzen schließlich nach wie vor und aus gegebenem Anlaß den Vergleich mit dem faulenden Kapitaliamus -, ist man drüben auf eine Idee verfallen. Die geht streng un-ökonomisch und trägt sich als Auftrag vor, der im Sozialismus im Grunde viel besser zu erledigen geht als anderswo, deswegen aber auch unbedingt erledigt werden muß. Der Name dafür heißt "wissenschaftlich- technische Revolution", und das ist eine Ideologie. Umschrieben wird damit ein Bedürfnis des sozialistischen Staates, das ihm seine Betriebe trotz aller Kennziffern, die dazu bestimmt sind, "die Interessen des Betriebes mit den Interessen des Staates zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen", nicht erfüllen. Die Sorge gilt dem "Zurückbleiben des technischen Niveaus der gesamten Wirtschaft", was ziemlich bedenklich ist: "Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik ist Haupthebel für die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunisus."

So bleibt nur zu hoffen, daß sich die Betreffenden gelegentlich darauf besinnen, wie sehr sich bisweilen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in die Quere kommen können. Dann können sie sich auch die Phrasen über den "Prozeß des Kampfes des Neuen mit dem Alten, des Fortschrittlichen mit dem Konservativen" sparen. Die sind nämlich für nichts und niemanden ein Hebel.

3. Der Lohn des Sozialismus

Als Nutznießer des geplanten Marktes sind die Werktätigen vorgesehen. Deshalb wurde im Rechnungswesen des Staates und der Betriebe ein Lohnfonds eingerichtet. Seine Höhe entscheidet darüber, was die arbeitenden Menschen vom Leben haben. Und das soll mit wachsenden Planerfolgen immer mehr sein.

Die Bedingung dafür stellt der Erfolg dar, den der sozialistische Staat mit seinem Rechnungswesen erzielt. Und da auf diesem Feld manches im Argen liegt, besteht ein "Gegensatz zwischen Akkumulation und Konsumtion" und das Bedürfnis nach einer Leistung ganz eigentümlicher Art: Die Werktätigen sollen nicht nur schaffen, sondern sich so um die Produktion verdient machen, daß die beklagten Mißstände verschwinden. So wird aus dem Lohn ein Hebel und aus der "Planung und Leitung" eine moralische Kampagne.

a) Daß im realen Sozialismus der Lohn als Kostengröße auftaucht, die im Verhältnis zu den für die planmäßige Entwicklung... vorgesehenen Mittel des Nationaleinkommens niedrig zu sein hat, ist ein Witz. Der rührt aus ökonomischen Vorstellungen von einem Topf, aus dem "Akkumulation" und "Konsum" bestritten werden müssen, so daß die Entscheidung fürs erste im Namen künftiger Genüsse schweren Herzens und planmäßig fällig ist. Daß zuerst die Produktivität und dann der Lohn zu steigen hat, ist auch ein schönes "Gesetz", an das sich die Planer halten können, die es erfunden haben. Die Umkehrung hat ja im übrigen niemand verlangt, und das so politökonomisch hochgelehrt besprochene Phänomen besteht schlicht darin, daß immer mehr Werktätige immer mehr Reichtum schaffen, ohne daß sie darüber spürbar mehr vom Leben haben; darüber hinaus ist dieser Reichtum nicht einmal geeignet, seine Verwalter zufrieden zu stimmen.

Vom Standpunkt der Werktätigen aus wird der Witz noch um einiges gravierender. Angesichts der geplanten Preise für das Lebensnotwendige erfahren sie ihre Beschränkung gar nicht erst wie die Lohnabhängigen im Westen. Sie leiden nicht unter einem von einem Warenangebot überforderten Geldbeutel, sondern haben Sparbücher und das Problem, woher und wann sie einmal etwas Gescheites kriegen. Daß die Mieten und Lebensmittelpreise niedrig sind, daß die paar Fetzen zum Anziehen erschwinglich gehandelt werden, nützt ja herzlich wenig, solange das Zeug rar ist und nichts taugt. Im übrigen sind diese Bemerkungen keine westliche Hetze, die gleich wieder die "Privatinitiative" vermißt, sondern quasi Zitate aus Debatten, die im Ostblock offiziell geführt werden, in den Kommissionen, Fachzeitschriften und Zeitungen.

b) Zur Behebung der systematisch erhebelten "Mißerfolge", die allesamt mit der Trennung des rechnerisch-staatlichen und des materiellen Produktionsergebnisses zu tun haben, ist den maßgeblichen Planern schon frühzeitig eine Sorte "Initiative des Individuums" eingefallen, die sie anstacheln möchten. Diesem Einfall und seiner kundigen Ausarbeitung in lauter Sonderfälle verdanken die russischen Werktätigen ein flottes Prämienwesen und einen dauernden sozialistischen Wettbewerb. Die Werktätigen werden über ihre Betriebsleitung und von ihr ständig dazu "stimuliert", sich durch besondere Leistungen ein paar Krcuzer oder Rechte extra zu verdienen. Wer den "geplanten" Leerlauf, den allfälligen Ausschuß etc. durch eigene Anstrengungen bekämpft, am besten als Brigade, darf sich des Lobs und einiger Entschädigungen sicher sein. Daß sich auf diese Weise neben nach wie vor üblichem "Schlendrian" ein System von Prämien-, Akkordlöhnen und Sondereinsätzen verallgemeinert hat, in dem sich Drohung und Werbung die Waage halten, garantiert freilich nicht den staatlich beabsichtigten Erfolg. Auf diesem Gebiet läßt sich der erwähnte "Betriebsegoismus" mit den bewußt gewollten opportunistischen Berechnungen der Werktätigen gut verbinden. Jahrzehnte emsiger Bemühungen, eine Hierarchie der Löhne minutiös zu rechtfertigen und geltend zu machen; hundertfach erneuerte und normierte, "materielle Anreize" haben nicht das erhoffte Wunder bewirkt: daß die Arbeiter durch "verantwortungsvollen Einsatz" bei kleinen Vorteilen all das kompensieren, was die Hebelwirtschaft systematisch anrichtet. Auch ein paar vorbildliche Aktivisten, die dann in die Zeitung kommen, schaffen das nicht.

c) Daraus, daß sich der Lohn als Hebel wenig eignet, solange die bescheidene, gerade durch staatliche Garantien ermöglichte Existenz gesichert ist, andererseits viel mehr immer nicht in Aussicht steht, haben die Männer und Frauen der Partei bezeichnende Schlüsse gezogen. Erstens wollten sie dasselbe immer noch entschlossener und genauer machen, weswegen es "Bewegungen" aller Art weiterhin gibt. Eine für "Neuerer", die sich nicht scheuen, mal was Neues auszuprobieren und den gewohnten, eingespielten Trott zu lassen. Andere unter Losungen wie "Einbeziehung der Werktätigen in den Kampf um die Senkung des Produktionsaufwands". Und die gewohnten Sondereinsätze am Jubiläum auch.

Zweitens sind Stimmen laut geworden, von der Werbung mit Anreizen abzugehen und mehr von der Drohung Gebrauch zu machen, auch von der Drohung, den Arbeitsplatz zu verlieren. Dergleichen hat aber bei den Führern des mächtigsten Arbeiter- und Bauernstaats kein Gehör gefunden. Wenngleich für ordnungsstiftende Sanktionen durchaus zu haben, wenn die friedlichen sozialistischen Sitten durch Säufer, Krawallbrüder oder gar Abweichler gestört werden, halten sie doch fest an der "Errungenschaft", die sie für jeden sichtbar vom Kapitalismus unterscheidet: Das Recht auf Arbeit, also auch die garantierte bescheidene Existenz bleibt!

Drittens fällt ihnen ganz im Sinne der überkommenen Lehre vom guten Arbeiter ein, daß womöglich die gelegentliche moralische Unreife den Haken darstellen könnte, an dem ihr Fortschritt krankt. Der Weg öffentlicher Beschuldigung, die Anklage gegenüber den Werktätigen, es mangele ihnen an Disziplin - von der Rede des ersten Mannes im Kreml bis zum Spruchband im Betrieb -: dieser Weg, die "Produktivkräfte" anzuspannen, wird zur Zeit begangen. Auch das ein sicheres Indiz dafür, daß es sich weder um Planung noch um Kapitalismus handelt.