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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1985 erschienen.

Weltraumrüstung
DIE EUROPÄISCHE OPTION

Ein Gerücht wird gepflegt: Die westeuropäischen NATO-Staaten hätten, jede Nation auf ihre Weise, gewisse Vorbehalte gegen die "Strategische Verteidigungsinitiative" (SDI) der USA. Die Quelle des Gerüchtes ist unschwer auszumachen: Sie selber, die nationalen Regierungen in Paris, London und Bonn wollen ihre Standpunkte zu dieser Frage in der Form des Grades von Vorbehalten erscheinen lassen.

Wert darauf zu legen, daß man sich nicht umstandslos den USA in dieser Frage anschließt, ist aber nicht dasselbe, wie wirklich Einwände zu haben. Faktum ist, keiner der europäischen Staaten will sich wegen SDI gegen die USA wenden, weil er sich in seinen Interessen tangiert sähe. Also sagen sie praktisch: Ja. Aber dieses Ja soll so dargestellt sein, daß keiner in ihm ein umstandsloses Dafürsein erblickt. Gemeinsam versorgen Bonn, Paris, London ihre Völker mit der Lagebeurteilung: Ja, aber, wobei in Frankreich das Ja ganz klein geschrieben werden soll und in Bonn das Aber ganz klein. Das ist also das erste Ergebnis: Der Eindruck von Vorbehalten der Europäer zu SDI ist ein Irrtum. Er stammt daher, daß in Europa anstelle von Widerspruch gegen die USA eine fiktive wie methodische Debatte um das Mitmachen veranstaltet wird.

Transatlantische Kooperation

Der Schein des Vorliegens von Interessengegensätzen wird dadurch befestigt, daß die maßgeblichen europäischen Nationen nun schon seit längerem sehr mühsam nach einer gemeinsamen Haltung gegenüber der "Herausforderung durch die USA" fahnden. Es wird so getan, als ob Europa in einer Entscheidungssituation stecke. Aber was das SDI selbst angeht, so behauptet ja kein Mensch, daß es auch nur im geringsten in die Entscheidungskompetenz der Europäer gefallen wär:. Die strategischen Vorbehalte, gar Forderungen, die man aus den europäischen Hauptstädten hört, sind ja nicht zum Zweifel an der amerikanischen Souveränität aufgestellt oder auch nur zum Zwecke eines Streites mit den USA innerhalb der Anerkennung ihrer Entscheidungskompetenz bestimmt. Und was das amerikanische "Angebot" an die Europäer betrifft, ökonomisch und technisch sich am SDI-Programm zu "beteiligen", so ist das unter Voraussetzung des Fehlens eines politischen Hebels auf seiten der Europäer für sie nur sehr bedingt eine Frage von Entscheidungen. Was die USA wollen, ist klar: Sie möchten sich rüstungstechnischen Reichtum, der in Europa brach liegen könnte, für die Realisierung von SDI erschließen und die europäischen Staaten darauf verpflichten, diesen Zweck möglichst effektiv zu organisieren. Um dieses Interesses willen ist ein Mann wie Weinberger schon zu der Schmeichelei fähig, "hier in Deutschland und in anderen Ländern" existiere "großes wissenschaftliches Können und Talent", welches für die gemeinsame Sache zu "nützen" wäre. Daß im übrigen die Größe des Projekts dieser Waffenproduktion der Grund für das amerikanische Interesse nach Indienstnahme europäischer Kriegstechnologiekunst wäre, wie ausgestreut worden ist, ist ebenso wenig glaubhaft wie das Argument, die USA wären uneigennützig gern bereit, wissenschaftlich-technologischen Fortschritt, der bei einer Kriegsproduktion wie SDI so "nebenbei" abfalle, unverzüglich mit den Brüdern auf dem alten Kontinent zu teilen, für den staatsbürgerlichen Unterricht verwendungsfähig ist. Der Grund für die Aufforderung der USA an die europäischen NATO-Staaten, sich für SDI nützlich zu machen - ein immerhin höchst merkwürdiges Gebaren, denn sonst machen die USA ihren Rüstungskram schon alleine -, ist vielmehr in der dringlichen Eile zu suchen, mit der die USA das Projekt SDI in die Tat umsetzen wollen. Möglichst schnell soll das Ding her, schließlich hängt einiges davon ab, funktionierende Teilelemente einer antiballistischen Raketenabwehr eher in Betrieb nehmen zu können wie die Sowjetunion dies auf ihrer Seite schafft. Die Regierung Reagan hat verständlicherweise ein überragendes Interesse daran, ihre Entscheidung für den Bau einer gestaffelten Raketenflak auch über ihre Amtszeit hinaus national abzusichern und unumkehrbar zu machen - und für diesen Zweck leuchtet die Nützlichkeit der Einbeziehung europäischer Großindustrie sehr ein, wenn dadurch Fortschritte im Programm schneller zu erzielen sind. Ein nicht zu übersehender Nebeneffekt dieses "kooperativen Angebotes" der USA besteht darin, über die Einbeziehung europäischer Industrie in die amerikanische Produktion von ABM-Systemen dieser "Anreize" für gewisse Abteilungen des Osthandels auf ganz "natürliche" Weise zu nehmen, falls das in dieser Form überhaupt noch erforderlich ist. Jedenfalls haben die Russen diese Bedeutung der Beteiligungsdebatte in Europa gleich verstanden und sind deswegen bereits in den europäischen Machtzentralen vorstellig geworden. Was also den im Augenblick gebotenen Zirkus betrifft, die Nation tagtäglich mit dem neuesten Entscheidungsstand in Sachen wirtschaftlicher Beteiligung am SDI bei Laune zu halten, wozu noch Berichte über nationale Eifersüchteleien zwischen den Deutschen und Franzosen in dieser Frage treten, so dient diese aufgeregte Tour den jeweiligen Regierungen ganz ihrem Bedürfnis, ihre Fähigkeit zur nationalen Interessenwahrung unter Beweis zu stellen. Das ist spätestens dann klar, wenn die Frage diskutiert wird, ob die Amerikaner die Europäer auch an ihre Geheimnisse kommen lassen wollen oder nicht. Was die Regierungen in Europa zu dieser Zeit wirklich tun, besteht in keinem Entscheidungsprozeß, sondern in der Überprüfung ihrer jeweiligen Groß- und Wehrindustrie, inwiefern sie überhaupt tauglich sind für die Wünsche der USA. Und zwischen den Staaten erwägt man Möglichkeiten, sich über gemeinsame Vorhaben den Anforderungen einer Rüstungsproduktion, wie sie das SDI-Projekt erfordert, gemäß zu machen. Darüber fällt dann einiges ab für die Intensivierung der rein europäischen Weltraumaktivitäten, die unter anderem den Bau eines eigenen Militärsatelliten einschließt, der für die NATO ebenso da ist wie für die "Force de Frappe". Immerhin, wer würde angesichts eines solchen Fortschrittes - bislang waren die Franzosen weitgehend auf militärische Führungssysteme der USA für die Operationsfähigkeit ihrer nuklearen Streitmacht angewiesen - die Selbständigkeit und Einheit der Europäer nur für eine Illusion zu halten?

Randbemerkungen der entschlossenen Mitmacher

Bleibt die Frage nach dem Grund dafür, daß sich in Europa anstelle der nationalen Euphorie, die in den USA über die Aussicht einer erfolgreichen Bemeisterung der letzten Fragen der Kriegsführung unserer Gegenwart ausgebrochen ist, ein methodischer Standpunkt des Mitmachens eingestellt hat. Ein auffälliger Unterschied im Verhältnis zur Behandlung und Aufnahme der amerikanischen Aufrüstung, die sich in Gestalt der MX, Trident, der Cruise Missiles, der Auffüllung der Arsenale für chemische und biologische Kriegsführung usw. darstellt, ist ja in der Tat festzustellen. Alle diese neuen Waffen für die Herstellung einer Überlegenheit (offizieller Terminus: Garantie eines ausreichenden Sicherheitsgefühls) über die Sowjetunion werden von den Europäern umstandslos als willkommene Stärkung der amerikanischen Kampfkraft begrüßt, was natürlich auch für die Pershing II und die Cruise Missiles gilt. In Sachen SDI jedoch wollen Kohl, Mitterrand und die Frau Thatcher gegenüber den USA nicht auf einige Randbemerkungen verzichten, die die Vormacht über spezifische Anliegen aufklären sollen, die als Bedingungen erscheinen sollen, unter denen sich auch die europäischen Mitstreiter der NATO unter die Strategie von SDI stellen wollen. So haben sie Forderungen erhoben wie die Vermeidung einer "Abkoppelung" von den USA, die Garantie "gleicher Sicherheit" für alle "Zonen des NATO-Gebietes" sowie die "Beibehaltung der Strategie flexible response" - solange es keine andere Strategie gibt! Alle diese Kalauer aus dem NATO-Jargon kennt man zur Genüge; bislang dienten sie vornehmlich zur Rechtfertigung der europäischen Aufrüstung gegenüber der Sowjetunion, nun erscheinen sie manchem als gegen die eigene Führungsmacht gewendet. Was hat dieses Bedürfnis nach "Zusatzklauseln" in Sachen SDI zu bedeuten?

Einer Spekulation ist man sogleich enthoben worden. Die Vermutung, hinter der demonstrierten Zurückhaltung der Ewopäer gegenüber der "strategischen Verteidigungsinitiative" stecke so etwas wie ein erlahmender Wille der Europäer, das amerikanische Vorkriegsprogramm in allen seinen Konsequenzen mitzumachen, führt geradewegs in die falsche Richtung. Diesbezügliche Erkundigungen nach der Ernsthaftigkeit der europäischen Bedenken hat die Sowjetunion bereits mit dem eindeutigen Bescheid hinter sich, daß kein europäischer NATO-Staat der Sowjetunion eine Möglichkeit eröffnen will, das gegen sie offensiv geführte Wettrüsten abzuschwächen. "Durch Geschlossenheit und Solidarität der Verbündeten muß der Sowjetunion von Anfang an (!) jede Möglichkeit genommen werden, SDI zu benutzen, um die Allianz zu spalten und in der westlichen Öffentlichkeit Mißtrauen zu säen" (Kohl). So sieht das "Geschäft" aus, das die Britin mit dem russischen Jüngling machen will!

Derselbe Kohl aber, der sich von keinem Hinweis der sowjetischen Seite über den "Ernst der Lage" und über die "heuchlerische Position" der Europäer in der Schuldfrage eines III. Weltkriegs beeindrucken lassen will, der sich also einmal nicht der "Verantwortung" stellen will - es geht ja schließlich um den Feind! -, verspürt das dringende Bedürfnis, in Sachen SDI mit Präsident Reagan dutzendmal "intensive Gespräche" zu führen, damit er ihm das - Vertrauen! schenken kann. Man liest die Randbemerkungen der Europäer zum SDI-Programm sehr richtig, wenn man sie - jenseits aller fiktiven Fragen von Mitmachern - identifiziert als Ansinnen an die Amerikaner, deren Absichten in Übereinstimmung zu bringen mit den Besonderheiten von Lage und Funktion der europäischen Front zum gemeinsamen Feind. Vom Standpunkt des Wunsches nach dem Gelingen von SDI erhebt sich da so manche Frage für die Macher des alten Kontinents, insbesondere gleich die, wie lange bei den Amerikanern die Entwicklung wohl dauern wird, um auch die Mittelstreckenraketen der Sowjetunion zu knacken. Nur ein Blinder kommt bei solchen Anfragen auf den Gedanken, es gäbe "Risse" im westlichen Kriegsbündnis zu besichtigen, und die Entwicklung ungelöster - bzw. unlösbarer! - Strategieprobleme nähme ihren Verlauf. Wenn in Europa als Standpunkt der Kritik die Behauptung in die Welt gesetzt wird, die Liste der ungelösten Probleme, die SDI aufwerfe, sei noch sehr groß, so ist das der Sache nach nur ein Befund über den technischen Stand einer Waffenproduktion. Als Gestus jedoch ist es gekonnte Heuchelei, weil es sich genau umgekehrt verhält. Gerade weil der Zweck und die Aussichten der "Strategischen Verteidigungsinitiative" für die Bekämpfung der sowjetischen Militärmacht so klar und erfolgversprechend auf der Hand liegen, konzentrieren Bonn, Paris und London ihren Eifer gleich auf die Erörterung der Frage, wie sie bei dem sich abzeichnenden Fortschritt der amerikanischen Militärtechnik auf ihre Kosten kommen. Der europäische "Standpunkt" zum amerikanischen Plan einer Raketenabwehr für die Überwindung der letzten Schranken - einer sicheren Atomkriegskalkulation beschränkt sich eben darauf, sich zu den Perspektiven dieses strategischen "Übergangs", wie der Krieg heutzutage genannt wird, ins Verhältnis zu setzen. Dieser Akt - Politologen denken ihn als natürliches Merkmal einer Mächtekonstellation - ist im übrigen die Grundlage für die spezifische Tour, die die ewopäischen NATO-Verbündeten in entscheidenden Fragen der west-östlichen Waffenkonkurrenz immer schon beherrscht haben. Gerade in Rüstungsfragen gefällt es den Europär, sich nicht als Subjekte - siehe die "Nachrüstung"! -, sondern als Betroffene von außerhalb ihrer Souveränität gefallenen Entscheidungen zu präsentieren. So auch jetzt wieder. Die USA sind auf SDI "versessen", und schon gibt es einen "unvermeidbaren technologischen Fortschritt", einen Sachzwang also, dem sich die armen Europäer stellen müssen. Das heißt, sie stellen sich eigentlich keinem Zwang, sondern lassen ihre nationalen Öffentlichkeiten für die Diskussion um mögliche Auswirkungen im Bündnis wie gegenüber der Sowjetunion antreten. Das amerikanische Volk hat es da viel besser: es darf im Fernsehen Tag und Nacht Trickfilme vom vorgezogenen Endsieg über die Russen betrachten.