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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1985 erschienen.

Systematik

10 Jahre Ende des Vietnamkriegs:
AUSGETRAUMAT!!

"Die Amerikaner werden immer vor Gewaltanwendung zurückschrecken. Das ist das Charakteristikum unserer vornehmen Zurückhaltung (decency)." George Shultz, US-Außenminister.

Bei einer Nation, die sich für die weltweite Stiftung von Frieden und Freiheit zuständig sieht, fallen die Kriegsgedenktage mitunter zusammen. So durfte das amerikanische Volk in den letzten Wochen gleichzeitig vierzig und zehn Jahre zurückdenken, um sich die dort bereitliegenden historischen Lehren präsentieren zu lassen.

Was den Mai 45 betrifft, so liegt die Sache für einen Amerikaner ganz klar: Den Deutschen so erfolgreich eins aufs Haupt gegeben, daß sie 1. bedingungslos kapituliert, 2. sich mehrheitlich, d.h., so weit man ihrer habhaft werden konnte, in den Dienst des Freien Westens gestellt haben. Strittig blieb bei den diesbezüglichen Feierlichkeiten nur die Frage, ob man dem ehemaligen Gegner durch die Ehrung seiner toten Soldaten die moralische Anerkennung zuteil werden lassen sollte, als Volk jene Tugenden aufzuweisen, also auch damals an sich gehabt zu haben, die man an ihm als heutigem Verbündeten so sehr schätzt.

Weniger selbstzufrieden, aber gerade deswegen nicht weniger eindeutig fielen die Besprechungen zum zehnjährigen Abzug aus Vietnam aus

"The War That Went Wrong"

Jahrelang gehörte es dies wie jenseits des Atlantiks zum guten Ton demokratischer Bewußtseinspflege, den Vietnamkrieg als

"das vielleicht bitterste Kapitel der US-Geschichte" (Frankfurter Rundschau, 6.6.)

zu betrachten. Es waren nie die nachhaltige Verwüstung einer Weltregion und die Ermordung mehrer Millionen Menschen, die das vielbemühte "schlechte Gewissen der amerikanischen Nation " hervorriefen. Die Scham, jenes Selbstbewußtsein, das eine Verfehlung der eigenen Taten gegen die Maßstäbe, denen sie gehorchen sollen, konstatiert, ist auch bei einem Staat nicht so beschaffen, daß hierin diese Maßstäbe einer Kritik unterzogen würden. Wenn ein Staat bei der Besichtigung seiner Geschichte "dunkle Kapitel" entdeckt, so stellen diese allemal einen Verstoß gegen die von ihm formulierten Ansprüche an seinen Erfolg dar.

So ist die pflichtschuldige Erwähnung von Kriegsopfern stets der Auftakt zur Feststellung des eigentlichen, politishen Schadens des Krieges, der dann die Zahl der Toten als "unangemessen" ("unnötig", "sinnlos"), die Kosten also als zu hoch erscheinen läßt.

Freilich ist der Schaden, den die USA aus dem Vietnamkrieg davongetragen haben wollen, in der Tat ausschließlich einer des Selbstbewußtseins. Schließlich haben sie den Krieg aus eigener Machtvollkommenheit beendet; und vom militärischen Standpunkt nehmen sich ihre 58.000 Toten in der Bilanz wahrlich nicht schlecht aus:

"'In die Steinzeit zuiückbomben' wollten die amerikanischen Generäle das Land, und auf diesem Weg waren sie ein gutes Stück vorangekommen. Generalstabsmäßig wurde die Umwelt zerstört und verseucht: Vierzehn Millionen Tonnen Bomben und Granaten fielen auf Vietnam - dreimal soviel wie auf alle Länder im Zweiten Weltkrieg. 500 Kilo Dioxin regneten auf die Wälder nieder - in Seveso vergifteten 0,3 Kilo die Umwelt. Zerstört wurden: die Hälfte der nordvietnamesischen Städte völlig, 3000 Schulen, 350 Krankenhäuser, das gesamte Verkehrssystzem, unzählige Deiche und damit die Grundlage des Reisanbaus. Zwei Drittel der Südvietnamesen flüchteten aus ihren Dörfern, drei Millionen Vietnamesen kamen ums Leben, 800.000 wurden zu Waisen, eine Million zu Krüppeln. Noch heute sterben jährlich etwa tausend Menschen an Blindgängern, die zu Zehntausenden im Boden lauern, noch im nächsten Jahrzehnt werden dioxin-verseuchte Kinder zur Welt kommen. Von sich aus konnte und kann dieses Volk nicht wieder auf die Beine kommen." (Für "Die Zeit" vom 26.4. eine hervorragende Gelegenheit für einen mildtätigen bundesrepublikanischen Imperialismus.)

Was also vom amerikanischen Standpunkt aus am Vietnamkrieg "danebenging", wie es das "Time-Magazine" in seiner Titelgeschichte vom 15. April formuliert, ist folgendes:

"Der US-Idealismus starb aus... alle Vorstellungen von Ritterlichkeit brachen zusammen."

Den Krieg so führen, daß man am Ende auch moralisch als Sieger, als ritterlicher Befreier dasteht, das wär's also gewesen. Das geht freilich nur, wenn man, wie eben mit der BRD geschehen, in dem besiegten Land ein genehmes politisches System und somit die entsprechende Geschichtsschreibung installiert. So viel Engagement war Vietnam den USA am Ende auch wieder nicht wert.

Die Erledigung eines Dominosteins

Der Beschluß der USA, den im 2. Weltkrieg herbeigeführten Niedergang der Kolonialmächte durch die weltweite Errichtung souveräner Nationalstaaten zu besiegeln - ein Beschluß, dem bereits während des Krieges die ideologische und militärische Aufrüstung der dortigen Völkerschaften gegen die faschistischen Eroberer vorangegangen war -, traf in Südostasien auf eine politische Konstellation, die die USA zum Entwurf einer eigentümlichen Doktrin veranlaßte. Die "Domino-Theorie", die den "Fall" einer einzigen Nation zum zureichenden Grund für den anschließenden "Fall" einer weiteren Nation nach der anderen erklärte, war die Antwort auf die Herausforderung, die dem Sachwalter des freien Weltmarktes in der Existenz des damals von der DDR über China bis Nordkorea reichenden noch recht "monolithischen" Weltkommunismus gegenüberstand.

Mit der Weigerung, den Friedensschluß zwischen Frankreich und den Viet-Minh von 1954 anzuerkennen, der freie Wahlen für ganz Vietnam vorsah - der damalige Präsident Eisenhower rechnete mit einem Wahlerfolg von 80% für Ho Chi Minh -, lehnten die USA grundsätzlich die Errichtung eines Nationalstaates ab, für den ein sozialistischer Staat, nämlich die VR China, als Garantiemacht einstehen wollte. Die Errichtung Südvietnams als souveräner Staat und die Bekämpfung der kommunistischen Guerilla waren somit eine Kampfansage an den Anspruch einer sozialistischen Nation, für die Geschicke anderer Länder Verantwortung übelnehmen zu wollen. Der Zweck des Vietnamkriegs war der, den Anspruch der USA auf unbeschränkte Zuständigkeit für das Weltgeschehen in der prekären Phase der Liquidierung der Kolonialreiche gegen die "antiimperialistische" Gegenmacht des Ostblocks durchzusetzen, also dafür zu sorgen, daß nicht die freie Welt zur "Insel" auf dem Globus wurde, sondern das sozialistische Lager eine "Insel" auf dem Globus blieb.

Als Henry Kissinger 1973 den Friedensnobelpreis für die Beendigung des achtjährigen ununterbrochenen Bombardements Nordvietnams entgegennahm, war dieser Zweck vollauf erreicht. Davon zeugt nicht nur die oben zitierte Kriegsbilanz über die Zerstörung Vietnams. Viel wichtiger waren die inzwischen gegenüber dem gegnerischen Lager errungenen Erfolge, für die der Vietnamkrieg ein Mittel gewesen war. Die UdSSR hatte sich in den ganzen Jahren der systematischen Zerstörung ihres Verbündeten niemals zu einem unmittelbaren Eingreifen in das Kriegsgeschehen, geschweige denn zu einem Ultimatum an die USA veranlaßt gesehen; statt dessen tat sie so, als ob der Imperialismus in seiner "Entspannungspolitik" ihr Angebot von der "Koexistenz" und dem "friedlichen Wettbewerb der Systeme" angenommen habe. Die VR China hatte mittlerweile die SU als Haupthindernis für eine erfolgreiche chinesische Außenpolitik ausgemacht und behandelte die vietnamesischen Kommunisten mit zunehmendem Argwohn.

"No more Vietnams"

So war der 1954 gefaßte Plan zur "Eindämmung des Weltkommunismus" am Exempel Vietnam 10 Jahre später geradezu deutlich übererfüllt - und gerade deswegen erschienen der Krieg und sein Resultat, der Abzug der Amerikaner aus dem zur Wüstenei gemachten Vietnam, geradezu als Ausdruck von Schwäche. Gegenüber dem dem Imperialismus immanenten universalen Anspruch erscheint nämlich jeder Teilerfolg als Mißerfolg. Und von daher stellt Richard Nixon der bei seinem Amtsantritt geschworen hatte, nicht der erste Präsident zu sein, der einen Krieg verlöre, in seinem jüngst erschienenen Buch "No more Vietnams" folgerichtig fest:

"Wir haben den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren."

Vom Standpunkt des erfolgreichen Imperialismus aus ist es unerträglich, daß der Kriegsgegner überhaupt ein souveränes Staatsgebilde auf die Beine gebracht hat und den mittlerweile von China und den von Amerika aufgerüsteten ASEAN-Staaten geführten Krieg gegen sich außerhalb seiner eigenen Landesgrenzen zu führen imstande ist.

Gerade weil die angebliche "Niederlage" Amerikas folgendes Resultat gezeitigt hat,

"Die 'Dominosteine' der vielzitierten geopolitischen Theorie fielen nicht, Amerikas Rolle in Asien ist stärker als zuvor. " (Spiegel 9/85)

"Im gesamten pazifischen Bereich... (ist) Amerikas Einfluß größer als je zuvor." ( Süddeutsche Zeitung, 20.4.)

stellt der Vientamkrieg einen Auftrag dar:

"Kein neues Vietnam kann bedeuten: Wir werden es kein zweites Mal versuchen. Es sollte aber bedeuten: Wir werden kein zweites Mal scheitern." (Nixon)

Und so sieht sich der demokratische Sachverstand anläßlich seines Jubiläums mit einem "Problem " konfrontiert:

"Das entscheidende Problem, wann und wie die USA noch einmal ihre Truppen in einen auswärtigen Krieg schicken sollten." (Time)

Schon zur Jahreswende hatten maßgebliche Stimmen die Öffentlichkeit mit diesem. "Problem " vertraut gemacht. So nannte Verteidigungsminister Weinberger als Bedingung für das offizielle Engagement von US-Truppen:

"Es muß die berechenbare Gewißheit vorhanden sein, daß wir die Unterstützung des amerikanischen Volkes und des Kongresses genießen."

Diese Position hielt Außenminister Shultz für geradezu windelweich:

"So etwas wie eine Garantie auf öffentliche Unterstützung im voraus gibt es nicht",

das Volk müsse eben gewonnen werden. Und wie "Time" sekundierte, gehe dies ja recht schnell:

"Man betrachte nur die begeisterte Zustimmung zur Invasion auf Grenada."

Nebenbei: Auch 1968, am Höhepunkt der Totaloffensive, war die angeblich so kriegsmüde US-Bevölkerung mehrheitlich für einen erhöhten Militäreinsatz in Vietnam. Und im übrigen dürfe es bei einem nationalen Anliegen darauf ja wohl am allerwenigsten ankommen, wie der demokratische Kongreßabgeordnete und Vorsitzende des Ostasien-Ausschusses Stephen Solarz feststellte:

"Es ist ein anderer Ausdruck für eine nationale Handlungsunfähigkeit, wenn wir auf eine Meinungsumfrage angewiesen sind, die beweist, daß zwei Drittel des amerikanischen Volkes dafür sind, bevor wir je Gewalt anwenden."

Schließlich sei man auch beispielsweise im 1. Weltkrieg mit Aufständen fertig geworden. Aber erfreulicherweise scheint auf den US-Bürger der 80er Jahre ohnehin Verlaß:

"Es gibt eine wachsende Anerkennung der Tatsache, daß ein Zurückschrecken vor allen Schlachten, die weniger leicht zu gewinnen sind als Grenada, gleichbedeutend wäre mit der Preisgabe der Rolle Amerikas als einer Weltmacht. Und das ist andererseits keinesfalls ein Weg, der das Überleben der Nation als einer freien Gesellschaft sicherstellen kann."

Und so kann man den eigenen Anspruch auf die künftige Gestaltung von Kriegen als Volkes Stimme ausgeben:

"Vietnam-Veteranen treten. leidenschaftlich dafür ein, daß Amerikaner nie mehr zum Sterben in einen Krieg geschickt werden dürfen, den die Politiker sie nicht gewinnen lassen wollen. Und unter 'gewinnen' verstehen sie ganz eindeutig so etwas ähnliches wie einen Sieg nach Art des Zweiten Weltkriegs mit bedingungsloser Kapitulation." (Time)

Und wo das Fußvolk sich so radikal dem nationalen Zweck verschreibt, da darf die umgekehrte Huldigung nicht ausbleiben:

"Rund 25.000 Veteranen des Vietnamkrieges haben in New York an einer Konfettiparade anläßlich der 10-Jahres-Feiern der Beendigung des Krieges in Südostasien teilgenommen. Den Kriegsteilnehmern war bei ihrer Rückkehr vor 10 Jahren eine derartige Ehrung verweigert worden. ... Der Zug der Veteranen wurde vom New Yorker Bürgermeister Edward Koch angeführt. ... Er bezeichnete die Parade als Wiedergutmachung einer 'schrecklichen Ungerechtigkeit'." (Süddeutsche Zeitung, 9.5.)

In der Tat eine Ungerechtigkeit sondergleichen, vom Standpunkt eines relativen Mißerfolges und unter der scheinbaren Verbeugung vor der damaligen Kriegsopposition den Helden der Nation die gebührende Ehrung zu verweigern. Aber damit ist heute Schluß:

"Ein Vietnam-Veteran zu sein - das ist heute wieder etwas in den USA." (Frankfurter Rundschau, 6.5.)

Ein Tatbestand, der auch im kulturellen Schaffen der Nation seinen Ausdruck findet. War es in den siebziger Jahren Usus, wie etwa in den Filmen "Taxi Driver" und "Apocalypse Now", den Vietnamkrieg als Tummelplatz von Neurotikern zu schildern, die mit einer rationalen politischen Kalkulation nicht das Geringste gemein hatten, so zeichnen sich heute Vietnam-Veteranen wie der "Magnum"-Held durch all jene Eigenschaften aus, die einen wahren Mann ausmachen. Und mit wohligem Grausen läßt das Time-Magazin einen Professor aus Louisville feststellen:

"Unter den Studenten ist der Krieg heute einfach 'in'."

Von wegen "angeschlagenes Selbstbewußtsein"!