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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1985 erschienen.

Systematik

Nationale Heimatkunde
"WIR SIND WIEDER WER!" DIE TRAURIGE WAHRHEIT DER NATIONALEN FESTWOCHEN

"Wieder"

Die nationalsozialistische Vergangenheit ist "bewältigt". Die geheuchelte Scham über "Hitlers Verbrechen", die berechnende Bescheidenheit in Sachen Nationalismus, das Eingeständnis einer unwiderruflichen totalen Niederlage des alten Großdeutschland: Das alles hat seinen Dienst getan. Vierzig Jahre lang haben die Bundesdeutschen, Regierungen wie Öffentlichkeit, bewiesen, daß sie unvergleichlich besser sind als unter Hitler: unendlich gut zu den Juden, also vor allem zu deren Staat, der so viele vertraute Züge aufzuweisen hat; bedingungslose Anhänger der Freien Welt, ihrer demokratischen Herrschaftsformen ebenso wie ihrer kapitalistischen und weltordnungsmäßigen Herrschaftszwecke; weder Militaristen noch Revanchisten, sondern treue Erfüllungsgehilfen der supranationalen NATO-Strategie. Jetzt sind Deutschland und die Welt reif für einen anderen Beweis: Der Rechtsnachfolger des alten Reiches, das höchstens einerseits "untergegangen" ist und andererseits irgendwie noch fortbesteht mitsamt seinen alten Grenzen, hat ein unveräußerliches Recht auf souveräne imperialistische Arroganz und ungetrübten Antimoralismus in seiner Weltpolitik. Auch für die BRD kommt die Macht der Nation vor allem anderen: Sie läßt sich die "Systemfrage" nicht mehr stellen, sondern stellt sie selbst, nationalistisch kalkuliert, an den Rest der Welt. Bei aller demokratischen Neuheit ist und weiß sich die westdeutsche Republik in erster Linie der Kontinuität ihrer nationalen "Geschichte" verpflichtet, ohne "Berührungsängste" vor deren "dunklen Kapiteln".

Der 8. Mai 1985 bietet eine schöne Gelegenheit für die offensive Demonstration dieses Standpunkts.

Jahrzehntelang hat die BRD es dem anderen deutschen Staat überlassen, das Datum des Kriegsendes als "Tag der Befreiung" zu feiern. Zu den Kommunisten, die dort einen neuen Staat aufgemacht haben; zu dem betonten politischen Gegensatz gegen den Faschismus, in dem die DDR gegründet worden ist; zur Lebenslüge dieses Sachsenstaates, in ihm hätte das bessere, antifaschistische Deutschland zu sich selbst gefunden: Dazu hat ein solcher Gedenktag auch immer bestens gepaßt. Er stand und steht dort für das politische und ideologische Programm eines bedingten Nationalismus, der nicht die Fortsetzung des deutschen Staates, sondern die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die Spitze aller seiner Vorhaben stellt.

Aus eben diesem Grund war der Tag der bedingungslosen Kapitulation in der westdeutschen Republik immer ein Ärgernis. Zwar war

Die deutsche Niederlage

so komplett, auch auf moralischem Gebiet, daß der 8. Mai nicht zum Trauer- und Feiertag revanchistischer Ansprüche geworden ist. So total war das Ende des "3. Reiches" für die westdeutsche Demokratie andererseits nie, daß sie nicht doch stillschweigend an der Kontinuität der Nation als allererster Selbstverständlichkeit festgehalten und die Kapitulation der Wehrmacht als deutsche Niederlage verbucht hätte. Gut - oder besser: schlecht -, man durfte den einstigen Feindmächten und neuen NATO-Verbündeten ihre Siegesfeiern nicht offiziell verübeln. Als Deutscher aber gleich so zu tun, als hätte man auf Demokratie mehr Wert gelegt als auf ein intaktes Vaterland und insofern bei Hitlers Niederlage mitgesiegt, war immer ein bißchen hochverratsverdächtig und auf alle Fälle ziemlich "kommunistisch".

Dieser Standpunkt kocht natürlich wieder hoch, wo für dieses Jahr, und noch ausgerechnet von der Regierung der patriotischen Aufrüstung, das Kriegsende als nationale Feierlichkeit angesetzt wird. "Die Kapitulation feiern? - Nein danke!" ist kein unpopulärer und auf alle Fälle ein ehrenweiter Meinungsknopf und Autoaufkleber; denn er hat die diesbezügliche Tradition der 36-jährigen BRD auf seiner Seite. - Dennoch: er ist hoffnungslos von vorgestern. Denn mit ihrem Gedenkprogramm hat die Kohl-Regierung alles andere auf die Tagesordnung gesetzt als ein nachträgliches ideologisches Überlaufen ins Lager der siegreichen Feindmächte.

Als erstes hat sie sich alle allzu stolzen Siegesfeiern ihrer heutigen Alliierten verbeten - und hat bei Lady Thatcher und Mister Reagan offene Ohren für dieses Ansinnen gefunden: Die Feiern der angelsächsischen Gegner von einst dürfen keine deutschen Gefühle von heute verletzen.

Zweitens gilt es offiziell als unpassend, aus Anlaß der Niederlage die speziellen Opfer des dritten Deutschen Reiches speziell zu würdigen. Die toten Kommunisten und russischen Kriegsgefangenen haben das noch nie verdient. Dafür aber immer die gefallenen Helden der Reichswehr, denen Reagan die Reverenz erweisen wird. Die Proteste der jüdischen Lobby in den USA haben erst für ausgleichende Gerechtigheit gesorgt: Wenistens die umgebrachten Juden werden in die deutsch-amerikanische Demonstration einbezogen, daß der letzte Krieg "uns" zu gemeinsamen Zielen zusammengeführt hat. In diesem Sinne wird in Bitburg und in Bergen-Belsen gefeiert, außerdem am Hambacher Schloß und im Kölner Dom. Es gehört vorgezeigt, daß die BRD sich inzwischen frei weiß von der Pflicht zu einem schlechten Gewissen und sich ganz unbefangen ihrer nationalsozialistischen Vorgeschichte erinnern kann.

Letzteres haben die freien Organe der öffentlichen Meinung als ihren Sonderauftrag wahrgenommen. Mit dem Gestus des Dokumentarischen werden Szenen aus dem Bombenkrieg und "Die letzten 60 Tage" im Spiegel eines authentisch fingierten Familienschicksals, Erfahrungsberichte nach dem Muster und Motto "Wie ich das Ende erlebt habe" und furchtbar originalgetreue Verfilmungen des U-Boot-Kriegs ausgebreitet, die das verpönte Geschehen mit einem unscheinbaren Kunstgriff aus jeder kritischen Perspektive herausrücken. Krieg und Kriegsende werden übersetzt in eine Flut von Erlebnissen; und mit dieser unschuldigen Kategorie rückt das einfache Volk: der von nationalsozialistischer Ideologie nicht weiter beleckte Landser, die ums nächste Essen besorgte Familienmutter, der davongekommene jugendliche Luftschutzhelfer und ähnlich integre Privatpersonen, zum "eigentlichen" Subjekt des Geschehens auf. Von der unverwüstlichen Borniertheit der Deutschen, die sich gefügt und alle Anstrengungen darauf gerichtet haben, noch aus dem äuaersten Kriegselend "das Beste zu machen" und ein bißchen Optimismus herauszuquetschen, bleibt wie von selbst nicht die grenzenlose Borniertheit, sondern die Unverwüstlichkeit übrig. Und damit ist die politische Botschaft schon fertig.

Das"bessere Deutschland",

das nicht einmal durch Nazi-Herrschaft, Bombenkrieg und bedingungslose Kapitulation totzukriegen war, hat, dieser modernen Sichtweise zufolge, nicht in den urdeutschen Idealen - der Demokratie, des Humanismus, der Völkerfreundschaft... - überlebt, sondern im einfachen "guten Volk". Die Deutschen von neulich gelten nicht mehr als das, was sie waren und wofür sie sich hergegeben haben, nämlich als Manövriermasse ihres Führers, sondern als die wahre und eigentliche Substanz der Nation, die den ganzen Horror als nun einmal gelaufenen, also dazugehörigen Teil ihrer Geschichte weggesteckt hat. Sie sind die Gewährsleute einer nationalen Identität, die mit Hitler und der Niederlage keineswegs erloschen ist - also, um es kurz zu machen, die Berufungsinstanz für die unerschütterlich fortdauernden politischen Rechte der deutschen Nation.

Von deren Inhalt braucht in den teilnahmsvollen Rückblicken gar nicht direkt die Rede zu sein. Es genügt vollauf, mit Bildern aus dem schweren Alltagsleben des Volkes die pure Idee der ungerührt überdauernden Nation zu malen. Welche Ansprüche und Rechte diesem Subjekt zukommen, für welche politischen Ambitionen es den Anwalt spielen darf, das steht ohnehin längst fest.

Schließlich gibt es dafür seit einer vollen Generation den anderen Gedenk- und eigentlichen Nationalfeiertag: den würdevollen Rückblick auf den 17. Juni 1953, als ein - in den Westzonen undenkbarer - Protest Ostberliner Bauarbeiter gegen Normenerhöhungen, verknüpft mit viel reaktionärer Sehnsucht nach dem abgeschafften "3. Reich" und kräftig interpretiert durch den RIAS, für 24 Stunden Aufregung in der DDR sorgte. Der bundesdeutsche Anspruch auf die ganze Nation, ohnehin in der Präambel des Grundgesetzes verankert, ließ sich seither mit dem guten Gewissen einer gar nicht nationalistischen Parteinahme für Freiheit, Demokratie und sonstige Systemfragen als die höchste politische Sehnsucht der "getrennten Brüder und Schwestern" ausgeben. So ließ er sich auch weltpolitisch hemmungslos vorzeigen: der nationale Rechtsanspruch der BRD, noch unfertig zu sein und in Wahrheit deutlich größer und viel gewichtiger als in Wirklichkeit.

Dieses gute bundesdeutsche Recht, eine "offene nationale Frage" in die Welt zu setzen und sich für zutiefst unzufrieden zu erklären, solange die territorialen und weltpolitischen Kriegsergebnisse in Europa nicht durchgreifend zum deutschen Vorteil revidiert sind, wird heuer erstmals zu einem anderen Anlaß feierlich vorgezeigt und demonstrativ bekräftigt. Die Bonner Regierungsmannschaft hat durchgesetzt, daß sie das zur Tradition gewordene Gipfeltreffen der führenden imperialistischen Staaten ausrichten darf, das ausgerechnet in die nächste Nachbarschaft des runden vierzigsten Jahrestags der reichsdeutschen Kapitulation fällt. Und das in klarer, unverhohlener Berechnung. Mit Glanz und Gloria in Bonn will sie alle alliierten Siegesfeiern in den Schatten stellen und vor allem die unvermeidlich wie der aufgewärmte Waffenbrüderschaft zwischen Ost und West von einst mit ihrer Lesart dieses Geschichtsabschnitts erschlagen. Nach dieser historischen Wahrheit hat am 8. Mai 1945 nicht so sehr die Anti-Hitler-Koalition gesiegt, sondern es hat die "Solidarität der Demokraten", Westdeutschland inklusive, und deren gemeinsame Gegnerschaft gegen den falschen Sieger aus dem Osten begonnen. Die Bonner Gipfel-Demo soll die "West-Alliierten" von einst auf das Bekenntnis festlegen, daß auch für sie der 2. Weltkrieg nur zur Hälfte gut ausgegangen ist - genau insoweit nämlich, wie sie hinterher einen machtvollen, weltbeherrschenden Westblock aufgemacht haben, zu dem die BRD feste mit dazugehört; wenn also Siegesfeiern, dann gemeinsam mit den Erben des einstigen Feindes.

Und gegen den "widernatürlichen Verbündeten", die Sowjetunion, die dummerweise mitgesiegt hat. Denn mindestens zur Hälfte, das soll die auserlesene Gipfelmannschaft in Bonn mitbezeugen, ist auch für die Hitler-Feinde aus dem Westen ihr Krieg doch ziemlich schiefgegangen, ihr Sieg eine halbe Niederlage geblieben - an der entscheidenden, der antikommunistischen Front nämlich.

Mit dem aufgeblasene Getue um den 8. Mai, der demonstrativen historischen Einbettung des Gipfeltreffens am Wochenende vorher, beabsichtigt die Regierung der christlich-nationalistischen Erneuerung also nichts geringeres, als ihre deutsch-nationale Unzufriedenheit mit dem Kriegsergebnis ganz direkt und glanzvoll und in feierlichem Einverständnis mit den heute verbündeten Gegnern von einst als die

Gemeinsame westliche Absage an das Weltkriegsergebnis

bekanntzumachen. Die offene deutsche Rechnung mit der sowjetischen Siegermacht soll von dem doch etwas provinziellen Datum des 17. Juni und dem bläßlichen Idealismus der Systemkonkurrenz abgelöst und von den versammelten NATO- und Weltwirtschafts-Spitzen als ihre gemeinsame Schlußfolgerung aus dem Kriegsende als solchem ratifiziert werden: als ein Ärgernis, das der Weltkriegsverlierer und die westlichen Sieger miteinander teilen. Die Niederlage der Deutschen gibt den NATO-Auftrag her; der Fehler der bedingungslosen Kapitulation von einst, durch den die Sowjetunion zum unberechtigten Kriegsgewinnler geworden wäre, ist rückgängig zu machen: In diesem Geist wird "40 Jahre danach" der deutschen Niederlage gedacht.

Diesen Demonstrationszweck haben die fixeren Teile der westdeutschen Öffentlichkeit gleich begriffen - von wegen "die Niederlage feiern"! Der "Spiegel", Trendschnüffler der bundesdeutschen Intelligentsia, war gleich, kaum hatten die regierenden Herren das Stichwort "Jalta" fallenlassen, mit einer ausgiebigen Bebilderung der deutschen Kriegsgeschichte im Lichte der "Wende" zu Diensten: Die Verbündeten von heute hätten sich damals, als die Alliierten Nachkriegsregelungen planten und durchsetzten, vom gemeinsamen Feind aller guten Deutschen und Demokraten, der Sowjetunion, betrügen lassen um die Früchte der großen Schlächterei. Jalta - das "Versailles" des 2. Weltkriegs; das Kriegsende - Beginn einer unerträglichen Spaltung" (Berlins, Deutschlands, Europas der Welt...), die nach Überwindung schreit: o hat sich der aufgeklärte nationale Geist an Hitlers schiefgegangenen Weltkrieg zu erinnern! "Bild-Zeitung" und andere Blätter fürs einfachere Volk gehen weniger plump zu Werk, um dieselbe Botschaft rüberzubringen. Sie bebildern mit ihren Quasi-Reportagen einen Glauben, den sie bei ihrem Publikum getrost voraussetzen, nämlich den an ein gemeinsames deutsch-nationales "Schicksal", das die Nation durch die Niederlage hindurch auf die Sonnenseite der Weltgeschichte geführt hat - bloß leider noch nicht die ganze. Immer wieder von "damals"'zu quatschen: Das reicht schon, um unmißverständlich zu unterstreichen, an was die Bonner Politik mit ihrem Welt-Gipfel "anknüpfen" will und gegen was sie sich mil den Siegern von einst einig ist: gegen den fortdauernden "Triumph" Stalins, der heute, 40 Jahre danach, unerträglicher denn je auf Deutschland und der Welt lastet.

Das ist das "WIEDER", der nationale Sinn deutscher Begängnisse zum Kriegsende. Das Nationalsozialistische an der Vergangenheit ist vorbei, "bewältigt", Museumsstück. Noch zu bewältigen ist das politische Erbe der Niederlage des Nationalsozialismus: die undeutsche Landkarte Europas, die den Aufstieg Westdeutschlands und der ganzen Freien Welt so betrüblich überschattet. In diesem Geist kommt das Kriegsende noch einmal auf die Tagesordnung der Weltgeschichte. Das garantieren die Gipfelfiguren der Freien Welt, indem sie sich zum 40. Jahrestag der alten deutschen Kapitulation zwanglos, festlich und gutgelaunt um den neuen deutschen Kanzler gruppieren.

"Wir"

Patriotisches Zusammengehörigkeitsgefühl ist Mode in der BRD der '80er Jahre aber wenn's bloß das wäre. Deutschland als Abzeichen auf dem Parka, als Fahne im Stadion, als Anfeuerungsgeschrei für Eishockey-Krüppel, als Hymne zum Abschluß eines trostlosen Fernsehabends: Das alles ist doch, für sich genommen, noch das Harmloseste, was sich mit der Nation und ihren Symbolen anfangen läßt. Reichlich übertrieben und meistens ganz daneben daher auch die geschmäcklerische Verachtung, mit der manche "kritischen" Geister der Nation so gerne ausgerechnet die Ausstaffierung der "Privatsphäre " mit Erinnerungen an die nationale Heimat strafen. Noch bleiben die entsprechenden Meinungsknöpfe ja tatsächlich dem privaten schlechten Geschmack überlassen; und das Radio kann und darf man noch mitten in die Hymne hinein abschalten.

Nationaler Kollektivismus

So leicht ist dem "Wir", das die Nationalmannschaft und das Musikcorps der Bundeswehr bloß spielerisch repräsentieren, nicht auszukommen. Gegen den real existierenden nationalen Kollektiuismus hilft es gar nichts, wenn man sich von dessen aufdringlichen Bebilderungen angeekelt abwendet und über dessen beglaubigte Symbolfiguren ironisch erhebt in dem stolzen, aber falschen Bewußtsein, "immer noch mein eigener Herr" zu sein.

Ein einheitlicher "Volkskörper", dessen Mitglieder sich uon ihren politischen Führern, ob sie wollen oder nicht, das einnehmende "Wir" gefallen lassen müssen, sind ... "wir" alle kraft einer gesetzlichen Gewalt, über deren Natur die Bonner Gesetzgeber und ihre Vollstreckungsbeamten vweniger denn je Zweifel und Illusionen aufkommen lassen. Kleinere Bürgerkriegsarmeen, die mit Wasserwerfern und schwerem Räumgerät in Stellung gehen, wenn sich irgendwo ein paar Hundert oder Tausend zu einer Protestdemonstration ihrer Friedfertigkeit versammeln; uniformierte Jünglinge mit Maschinenpistolen, die harmlosen Verkehrsteilnehmern demonstrieren, wie gut sie überwacht werden; Polizisten, die erst schießen und dann fragen: Das gibt es unter Zimmermann vielleicht nicht einmal so viel häufiger als zu sozialliberalen Zeiten. Einen anderen Symbolwert soll die einschüchternde Präsenz der Staatsgewalt aber schon haben. Die Lüge von den "gesellschaftlichen Spielregeln", die im "wohlverstandenen Eigeninteresse" aller Beteiligten einen Garanten und Schiedsrichter bräuchten, wird zurechtgerückt durch die Ideologie einer Volksgemeinschaft, die sich Abweichler und irgendwie verdächtige Elemente mit vollem und höchstem Recht nicht gefallen lassen will. Dieses ideologische Bild kommt zumindest in einer Hinsicht der Realität sehr nahe. Der Staat ist ja tatsächlich kein Dienstleistungsunternehmen für Leute, die sich nach ihren Interessen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang einrichten könnten. Die Souveränität seines Gewaltapparats finden die Bürger als ihre erste, unbedingten Respekt erheischende Existenzbedingung vor. Sie sind unter die nationale Gewalt und deren Gesetze subsumiert, noch bevor sie sich ihre Bedürfnisse zu Interessen zurechtlegen; diese "Gemeinsamkeit" ist die Grundlage aller gesellschaftlichen und eigennützigen Beziehungen.

Die Gemeinsamkeit, die die souveräne Gewalt innerhalb ihres Volkskörpers stiftet, ist auf alles andere als die Beglückung von jedermann berechnet; das ist die zweite Klarstellung zum Thema "wir", um die die Bonner Regierüng sich mit ihrer "Wende" verdient macht. Kein Tag vergeht ohne die wiederholte Versicherung, daß private Wohlfahrt der Massen und Existenzsicherheit für Lohnabhängige schlechterdings nicht zusammengehen mit dem nationalen Zweck, auf den es ankommt: dem wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft, wie sie nun einmal eingerichtet ist. Billige Lohnstückkosten werden voll Stolz als

Das "Geheimnis" des bundesdeutschen Wirtschaftswachstums und Außenhandelserfolgs

verkündet - und sind es ja wohl auch: Leistungssteigerungen in den Betrieben und Reallohnsenkungen als Ergebnis einer gemeinnützigen Tarifpolitik. Noch mehr davon: noch billigere Arbeit, noch effektiver einsetzbar nach Betriebsbedarf, fordert die eine Seite; der Partner Gewerkschaft treibt beides voran, mit Lohnvereinbarungen auf Jahre hinaus unterhalb jeder vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Inflationsrate und mit neuen Freiheiten für die Einteilung der Arbeitszeiten. Und immer wieder ertönt der Refrain: Solange es noch so viele Arbeitslose gibt, sind sie der lebende Beweis, daß Arbeit noch immer zu teuer, das Arbeiten-lassen noch immer an zu viele Auflagen gebunden ist. Also weg mit den Auflagen; je weniger Sicherheit für Lohnarbeiter, um so eher findet sich eine Gelegenheit, sie auszunutzen. Und je weniger sie kosten, um so eher leistet sich ein Unternehmer welche; also weg mit den tariflichen Mindestlöhnen. Die Arbeitslosigkeit sinkt deswegen nicht um einen Mann und eine Frau: Wo Arbeitskräfte nach Belieben zu benützen sind, braucht eine Firma natürlich weniger davon. Das Argument für noch mehr Armut, das Druckmittel für einen noch vorteilhafteren Einsatz der benötigten Lohnarbeiter bleibt also erhalten; entsprechend frecher werden die politischen Verwalter der ganzen Scheiße. FDPler fordern das Ende, CDUler die Aufweichung tarifvertraglicher Festlegungen - so als böten die tarifvertraglich fixierten zahllosen Lohngruppen nicht seit jeher alle wünschbaren Mittel zur erlaubten Lohndrückerei. Die Gewerkschaft protestiert aufgeregt herum - und schließt lauter Tarifuerträge ab, die bereits das Prinzip der betriebsspezifischen Unterbietung des "eigentlich" Vereinbarten enthalten. Die "kritische" Öffentlichkeit begreift sofort die "Forderung der Stunde" und steuert das Ihre bei: "Bild-Zeitung" die einschlägigen Einfälle von "anerkannten Fachleuten", die gerade dann am eindeutigsten richtig liegen, "wenn's wehtut"; "Spiegel" furchtbar kenntnisreiche Beschwerden über das wirtschaftsmordende, menschenunwürdige Prinzip der "starren", angeblich nicht unterbietbaren Lohntarife. Selbstverständlich geschieht das alles bloß im Interesse der Millionen Entlassenen, denen mit der Gelegenheit, sich fürs wachsende Eigentum nützlich machen zu lassen, gleich auch die Mittel abgehen, sich überhaupt am Leben zu halten. Denn an den Arbeitslosen, und ebenso an Rentnern und Kranken, vollstreckt der zuständige Bundesminister seinen Anteil an dem demokratischen Grundgesetz, daß Nützlichkeit für die aktiue Geschäftswelt der Nation die Existenzbedingung für alle schlichteren Bestandteile des Volkskörpers ist. Am gesellschaftlichen Ausschuß wird gespart: an der medizinischen Therapie, an der Rente, an den überflüssig Gemachten ohne gute Wiederverwendungsprognose. So ergänzt der Staat bei der Verwaltung der Lohnteile, die er verstaatlicht, die Reallohnsenkung in den Betrieben durch die Verbilligung der nationalen Arbeitnehmerklasse als ganzer. Wer überhaupt einen Lohn verdient, hat dafür Opfer zu bringen; wer keinen verdient, ist selber bloß noch Opfer; beides muß sein, damit der Aufschwung weitergeht: So funktioniert die nationale Solidarität 1985; das ist der materielle Inhalt der Volksgemeinschaft, als deren Urheber die Staatsgewalt sich so machtvoll vorzeigt.

Deutsche - Das Menschenmaterial...

Mit der höchst effektiuen Organisation dieses Gemeinschaftswerks 'Billiges Volk enormes Wirtschaftswachstum' ist die Regierung zufrieden - und sie will gleich noch mehr. Sie will Menschen, die sich den ganzen Zirkus ohne Berechnung zu ihrem Lebenszweck machen.

Deswegen will sie erstens Deutsche: Menschen, die von Geburt an, also quasi natürlich, ihrer Gemeinde angehören; deren in der Geburtsurkunde dokumentierte staatsbürgerliche Rasse für Mitgliedschaft ohne Vorteilsrechnung bürgt - keine Türken, die "bloß" Geld verdienen, keine Asylanten, die "nur" dem Hunger daheim entkommen wollen. Die gehören im Gegenteil heimgeschickt, raus aus dem "aussterbenden" Deutschland; ein "Tag für Afrika" bedeutet noch lange nicht, daß "wir" in "unserer" Lüneburger Heide Vietnamesen und andere Neger gebrauchen könnten.

Genügend Deutsche müssen es natürlich sein. Den Maßstab fürs "genug" läßt der Familienminister offen; die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts, der "bloße" Materialismus des Wirtschaftslebens, die geben ihn jedenfalls nicht her. Eher liefert da schon der Verteidigungsminister mit seinen Sorgen um die Kopfstärke künftiger Rekrutenjahrgänge Kriterien für die Mindestgröße eines brauchbaren deutschen Volkskörpers. Auf alle Fälle folgt daraus ein regierungsamtliches Ansinnen an die zeugungs- und gebärfähige Generation: Familien müssen her, lauter kleine Brut- und Versorgungsanstalten für den völkischen Nachwuchs. Zwar kann der Familienminister das Vögeln und Gebären nicht anordnen - wir sind sicher, daß er das bedauert. Wohl aber kann er aus dem Familienrecht alles entfernen, was als Zugeständnis an private Lust und Liebe mißverstanden werden kann. Scheidung nur, weil die Zuneigung nicht mehr stimmt; Abtreibung bloß, weil die Eltern in spe ihre Zukunft an ders planen möchten; "wildes" Zusammenleben ohne Rechtsfolgen: Das paßt nicht in eine Volksgemeinschaft, die für ihre nationale Zukunft eine gescheite Alterspyramide haben will.

...für die demokratische Republik

Von diesem Volksstandpunkt aus klären die Bonner Herrschaften auch den unter den Sozialliberalen so gern mißdeuteten Sinn der Demokratie, auf die die bundesdeutsche Teilnation einst festgelegt worden ist. In freien Wahlen fordern politische Führer ihre ausdrückliche Ermächtigung ein; und Ermächtigung heißt ausdrücklich, daß sie sich von Wünschen ihrer Wähler nicht abhängig machen, sondern kraft ihrer bestätigten Souveränität ganz frei über die Opfer befinden, die das Wohl und die Zukunft der Nation erfordern. Demokratie ist kein Freibrief für einen Parteienstreit, in dem womöglich gesellschaftliche Interessengruppen ihre Bereitschaft zum Mittun von der Berücksichtigung ihrer Anliegen abhängig machen. Sie ist ein Wettstreit alternativer Führerfiguren, in dem Aufgaben und verlangte Führerqualitäten allemal feststehen; und sie erfordert Wähler, denen ihre Verantwortung für die Bestallung des richtigen "starken Mannes" wichtiger ist als ihr besonderes, parteiisches Interesse, an das sie beim Räsonnieren über Politik ohnehin nicht zu denken haben. Wenn einer das doch tut, macht es auch nichts; denn an einer demokratischen Wahlstimme zählen von Rechts wegen nicht die Überlegungen, Wünsche und Vorbehalte, mit denen der Wähler sie befrachtet haben mag, sondern allein der darin bekundete Wille, regiert zu werden. Nicht einmal das stört sonderlich, wenn einer diesen Willen nicht per Wahlakt bekundet: Regiert wird sowieso; und Stimmen wie Stimmenthaltungen stehen dem Gewinner zur Interpretation als Herrschaftsauftrag frei zur Verfügung. Wer gar nicht wählt, verliert damit höchstens das moralische Recht, sich über die Herrscher zu beschweren, die er noch nicht einmal gewählt hat: Mit solchen Klarstellungen wird von Regierung wie Opposition in der BRD der 80er Jahre fürs Wählen "geworben"!

Dieser gesamte Kollektivismus der Nation steht hierzulande - im Unterschied zu weniger entwickelten, demokratisch noch unreifen Völkern - längst fest, wenn der geehrte Mitbürger dann auch noch aufgefordert wird, sich privat und persönlich seinen affirmativen Vers auf die "nationale Identität" zu machen, die ihm in Arbeit und am Feierabend, im Alltag und an Wahltagen auferlegt wird. Und nur, weil die höchstpersönlichen Kosten dieses nationalen "wir" so verdammt hoch sind, ist es mehr als eine harmlose Geschmacksverirrung, wenn die Betroffenen die angebotenen Idiotien aufgreifen, um sich aus der nationalen Gewalt, die ihre Existenzbedingungen diktiert, ihren Stolz zu machen. Dieser Stolz ist eine einzige Härte gegen sich selbst; denn mit ihm versucht der patriotische Bürger, die Opfer, die ihm ganz ungefragt zugemutet werden, mit freiwilliger Zustimmung zu der Gewalt, die ihn drangsaliert, zu überholen. Größere Opfer stören diese Haltung daher auch nicht, sondern beweisen einem Nationalisten die Größe der Sache, zu der er sich um so hartnäckiger bekennt - nach dem Grundsatz: So große Opfer wie die meinen verdient nur ein ganz extra großer Zweck. Diese Lebenslüge verlangt nur eins, nämlich den Erfolg der nationalen Sache: gegen Mitbürger, die ihm nicht ebenso große Opfer bringen; und erst recht gegen alle, die ihr gar nicht dienen oder dienen wollen. Die Opfer, die die Staatsgewalt schafft, werden so betrachtet zu Ausweisen ihres Erfolgs; an dem dafür notwendigen Aufwand an Gewalt und den Niederlagen anderer hält der Stolz selbstbewußter Untertanen sich schadlos.

"Wer"

Nachbarn und andere "Schwellenländer" kennen "uns" als Heimatland erfolgreicher Produkte, Firmen und einer Währung, die einen sehr soliden Inbegriff von Reichtum darstellt. Ob ausländische Weltbürger dann lieber "die Deutschen" verachten, denen ihre stammesverwandten Hoteliers zu Ferienzeiten die Deutschmark aus der Tasche ziehen, oder mehr die soliden Gebrauchsgüter

"Made in Germany"

bewundern, die man sich leisten können muß, oder beides durcheinander, das gehört auch auswärts zu den nationalistischen Geschmacksfragen. Ebenso das Maß der Freude an Jahrestagen des Sieges über das alte Deutschland, mit der manches patriotische Gemüt sich wenigstens moralisch schadlos hält für die heutigen Niederlagen inheimischer Fabrikanten und Wirtschaftspolitiker in der Konkurrenz mit bundesdeutschem Kapital, Management und Steueraufkommen.

Jenseits aller Ideologien hat die Geschäftswelt sämtlicher konkurrierenden Nationen es mit Massen und Expansionsraten eines dem Bonner Finanzminister steuerpflichtigen, in Frankfurter Währung berechneten kapitalistischen Reichtums zu tun bekommen, der ihre angestammten Geschäftsmittel mit Beschlag belegt. Auf ihren Märkten haben auswärtige Fabrikanten sich mit bundesdeutschen Billiglohnstückkosten auseinanderzusetzen. Ihre Währung, das nationale Maß ihres Reichtums und Geschäftserfolgs und zugleich Mittel und Materie des Reichtums ihrer Staatsgewalt, wird von berufsmäßigen Spekulanten mit der

D-Mark

verglichen und im er wieder für einen relativ weichen bis schwindsüchtigen Wertmaßstab befunden. In den Sphären der produktiven Anwendung ihres nationalen Menschenmaterials machen sich bundesdeu tsche Konkurrenten breit, die Leistungsstandards der Spitzenklasse einführen, den Leuten die letzten Reste bodenständiger Produktionsweisen austreiben und mit überlegenen Mitteln neue Mittel für ihr Wachstum auftun.

Dieser Zugriff bundesdeutschen Kapitals auf fremde Geschäftssphären und -mittel setzt voraus, daß die Politik ihm den Weg gebahnt hat und die Zustimmung der zuständigen fremden Souveräne sicherstellt. Tatsächlich können Bonner Wirtschaftspolitiker ihrer Klientel garantieren, daß die Ausnutzung fremder -Märkte, Währungen und Proleten selbst dann ungehindert weitergeht, wenn darüber die Reichtümer ganzer Nationen ihren Eigentümer, ihren Nutznießer und ihr nationales Gewand wechseln; wenn ganze Währungen zu Unterabteilungen der D-Mark-Zirkulation herabgesetzt werden; und sogar wenn die autonome Zahlungsfähigkeit ganzer Staatsgewalten darüber zugrunde geht. Denn noch vor ihren Kaufleuten, Industriekapitänen und Spekulanten haben die politischen Funktionäre des bundesdeutschen Wirtschaftswachstums sich bei ihren konkurrierenden Kollegen eingeführt als Schutzpolizisten eines von nationalen Schutzvorschriften befreiten Welthandels und eines Währungsvergleichs, bei dem umsichtig berechnende Makler nach dem "Gesetz" von Angebot und Nachfrage das relative Gewicht des Reichtums der Nationen ermitteln. Sie machen den internationalen Rechtsanwalt der Freizügigkeit anlagewilligen Kapitals, einschließlich Transfer der abgesahnten Gewinne in jede beliebige Währung und Himmelsrichtung, und fordern die Gleichschaltung aller nationalen Wirtschaftspolitiken auf eine Linie, die der von ihnen betreuten Geschäftswelt in allen vergleichbaren Ländern dieselbe wachstumsfördernde Rücksichtslosigkeit sichert, der "wir" "unser Wirtschaftswunder" verdanken.

Durchgesetzt hat sich dieser bundesdeutsche Imperialismus der freien ökonomischen Konkurrenz nicht auf Grund der Ideale der supranationalen Einheit, des gemeinsamen Kulturerbes und der immer gemeinsameren Märkte, in die er sich mit Vorliebe einkleidet. Sein Geburtshelfer war, seine Geschäftsgrundlage ist der bis heute aufrechterhaltene Nachkriegsbeschluß der westlichen Hauptsiegermacht USA, der Staatenwelt den Freihandel und die Konvertibilität ihrer Währungen auf Dollar-Basis als ökonomische Existenzbedingung zu diktieren. Die Geschäftswelt der BRD hat es mit ihrem durch Hitler erzogenen, durch seinen Krieg anspruchslos gemachten Menschenmaterial geschafft, aus dem Diktat ihre Chance und aus der Chance, auf den Trümmern des Krieges einen Kapitalismus mit riesigen Wachstumsraten in Gang zu setzen, einen Bombenerfolg zu machen. Die politischen Führer der verkleinerten Nation haben sich nicht weniger zielstrebig und erfolgreich in das amerikanische Programm der "einen Welt": des

Imperialismus der freien Staatenkonkurrenz

nach US-Regeln, eingeschaltet. Weltmacht und Weltwirtschaftsordnung made in USA ersparen "unseren" Machern viel imperialistisches Auftreten mit Waffen, subversivem Personal und eigenen Ordnungstruppen, mit ruinösen Wirtschaftskriegen und militärischer Erpressung. Die prinzipiell geregelten Machtverhältnisse zwischen den kapitalistischen Staaten und ihrer Führungsmacht bieten Staaten wie der BRD die Chance, mit der Wucht ihres Reichtums lauter "freundschaftliche Beziehungen" zu erpressen. "Wir" haben unter anderem eine "europäische Gemeinschaft" zustandegebracht, die noch viel besser als vergrößerter D-Mark-Raum und als Quelle bundesdeutscher Macht funktionieren könnte, gäbe es nicht immer noch ein paar Konkurrenten in diesem Geschäft.

So kennt die Welt den bundesdeutschen Staat als zweitklassigen Mitveranstalter des universellen Kapitalismus, der "Weltwirtschaftsordnung" heißt und von dem US-Präsidenten und handgezählten sechs weiteren Regierungschefs der zweiten und dritten Rangstufe betreut wird.

Staatsmänner aus aller Welt warten entsprechend sorgenvoll auf die Entscheidungen auch aus Bonn; denn von denen hängt es ab, für welche Zwecke, mit welchen Mitteln und unter welchen Aussichten sie ihr Volk unter Kontrolle halten und ihr Land zur gefälligen Benutzung aufbereiten.

Die Bonner Herrschaften - die bundesdeutschen wie ihre hohen Gäste - plagen Sorgen von seltenerem Zuschnitt. Die "Weltschuldenkrise" gehört sicher nicht dazu; denn deren Grund und Prinzip ist die so bequem kredittechnisch verbürgte Rechtslage, wonach die in hartes Geld zu verwandelnde Produktion ganzer Länder schon lange im voraus den Gläubigern aus der Freien Welt gehört; und die haben hauptsächlich Probleme mit gewissen spekulationshemmenden Verrechnungs- und Abschreibungsvorschriften, wenn gewichtige Schuldner in Verzug geraten. Das "Hungerproblem" sehen seine Veranstalter im Stolz auf ihre "weltwirtschaftliche Verantwortung" ebenfalls ganz anders als ihre einheimischen Moralisten. Ihrer wirklichen Verantwortung werden sie sehr wohl gerecht, und sie "versäumen" auch nichts und begehen kein Unrecht, wenn sie stillschweigend von der Übereinkunft ausgehen, daß zahlreiche Völker und Unmassen von Leuten ganz einfach u teuer sind: Die mangelnde Kreditwürdigkeit der zuständigen Herrscher, ermittelt und festgelegt durch staatliche und private Finanzexperten, ist in dieser Frage ihre unbezweifelbare Auskunftsquelle. Aus den Konsequenzen dürfen dann ihre braven Untertanen sich einen moralischen Anstoß für ihr gutes Herz verfertigen.

Der Juniorpartner der USA

Etwas anders ist es schon mit dem "Dollarproblem": der Schuldenpolitik der US-Regierung. Die Milliardenbeträge, mit denen eine anlagewillige Geschäftswelt aus aller Herren Länder den Haushalt der USA kreditiert, gehen dieser zwar nicht verloren, sondern wachsen, wie es sich für Finanzanlagen in Dollar-Uniform gehört. Die Regierungen des zweiten Glieds finden sich da allerdings mit dem ziemlich prinzipiellen Abstand konfrontiert, der sie von ihrer Führungsmacht trennt. Ihnen fehlt die amerikanische Bequemlichkeit, mit der die Reagan-Regierung sich Reichtum nimmt und Schuldtitel ausgibt, ohne ihren Kredit und dessen Mittel, den Dollar, als Maß und Materie des Reichtums zweifelhaft zu machen. Im Gegenteil: Der Vergleich mit dem Dollar, praktisch vollführt in tausenden täglichen Finanztransaktionen, läßt die in D-Mark, Franc oder Pfund repräsentierte nationale Bürgschaft für immerwährenden Geschäftserfolg matt bis zweifelhaft erscheinen und schmälert die internationale Kaufkraft der europäischen Staatshaushalte. Das "weltwirtschaftliche Problem" ist damit allerdings auch schon wieder zu Ende: Der von den USA und ihren Mitmachern arrangierte internationale Kapitalismus ist - keine Garantie und noch nicht einmal ein Versprechen auf Zahlungs- und sonstige "Gleichgewichte" zwischen den führenden Mächten; und die auserlesenen Probleme der Bonner Mannschaft, die an ihrer D-Mark den Vorzug des Dollar: den absoluten Zugriff auf die Reichtümer dieser Welt, schmerzlich vermißt, sind für Reagan und seine Leute nicht der allerkleinste Grund, damit selber ein Problem zu kriegen. Für "unsere" amerikanischen Freunde sind "wir" vielmehr ziemliche Querulanten, die ihren Reichtum behüten wollen, wo es längst um Wichtigeres geht: den Schutz des Systems, dem alle kapitalistischen Wirtschaftsmächte ihren Erfolg verdanken. Schließlich hat die Bequemlichkeit des D-Mark-Imperialismus, ohne eigene Interventionstruppen bei der Ordnung der Welt durch die USA und ihr Bündnis mitmachen und mitprofitieren zu dürfen, ihren Preis. Der wird als Beitrag zur integrierten Militärmacht des Westens entrichtet; und seine Höhe und Verteilung ist das einzige Problem, das alle engagierten Mächte als eines anerkennen - das also wirklich eines ist.

Besagten Preis bezahlen "wir", entgegen dem amerikanischen Dauerverdacht, seit jeher im Grunde reichlich und gerne. Denn die Aufrüstung der Bundeswehr und die Übernahme gewisser amerikanischer Rüstungslasten ist, entgegen dem Dauerverdacht "linker" und alternativer BRD-Nationalisten, kein verlorener Zuschuß an den Ehrgeiz der USA, die Welt zu beherrschen, sondern die Eintrittskarte zur Beteiligung daran. Sie ist die letzte Bestimmungsgröße des internationalen Gewichts der Republik, noch grundlegender als ihre D-Mark und ihre schwäbischen Markenfabrikate. Auch für die BRD, die nirgends Kriege führt oder Länder besetzt hält, stimmt immer noch, daß der imperialistische Zugriff auf die souveräne Regierungsgewalt und den Reichtum fremder Länder in letzter Instanz eine Frage der einsetzbaren militärischen Gewalt ist. Dem bundesdeutschen Militär ist allerdings seit der Wiederbewaffnung seine klare Frontstellung vorgegeben und seine arbeitsteilige Aufgabe zugewiesen. Gleichwertiger Widerpart der Sowjetunion auf europäischem Boden haben die deutschen und die in der BRD stätionierten NATO-Truppen zu sein.

Das ist die Geschäftsgrundlage dafür, daß die US-Army auch die deutsche Freiheit in aller Welt - von Nicaragua bis Afghanistan und von Kambodscha bis Angola mitverteidigt.

Dem Auftrag, zweitstärkste "konventionelle" Streitmacht in Europa zu werden, haben "wir uns" in demokratisch angespitztem Wehrmachtsgeist gestellt. Neben einer von heute auf morgen mobilisierbaren 2-Millionen-Mann-Armee ist dabei eine Rüstungsindustrie herausgesprungen, der selbst dieser garantierte Absatzmarkt zu eng ist. Der angenehme ökonomische "Sachzwang", durch größere Serien, also auf entsprechend ausgeweiteten Märkten die Rüstungskosten zu bremsen und volkswirtschaftlich rentabel zu gestalten, hat sich mit der weltpolitischen "Pflicht" verbunden, die Staatenfamilie nicht dem Einfluß eigensüchtiger Waffenlieferanten auszuliefern, sondern dann schon lieber selbst mit deutschen Experten und Gerätschaften auswärtige Herrscher zur Sicherung des richtigen Friedens anzuhalten. Vieles steckt hier noch immer in den Anfängen; anderes läuft über traditionsreiche französische und britische Adressen. Immerhin kennt die Welt auch außerhalb der NATO "uns" als erfolgreiche Polizeiausbilder, U-Boot-Bauer und Panzerlieferanten; und nicht wenige Staaten verdanken die Souveränität, mit der sie sich als hoffnungsvolle Anlagesphären deutscher Kredite bewähren wollen, dem deutschen Waffenhandel - auch eine Art Kredit, die mindestens so effektiv, dabei billiger und moralisch unschuldiger ist als ein stehendes Kolonialheer.

Raketenrepublik...

Für die Aufgaben und Ambitionen der BRD "im Herzen Europas" sind allerdings selbst die dressierten Jungs der Bundeswehr mit ihren Leos und Tornados nicht genug. Um der Sowjetunion wirklich als gleichrangiges politisches Subjekt gegenübertreten und im Namen der NATO die "deutsche Frage offenhalten" zu können, muß von deutschem Boden schon wieder eine strategische, d.h. für den Bestand der gegnerischen Macht entscheidende, also atomare Bedrohung ausgehen. So haben die Partner ihren westdeutschen Frontstaat respektieren gelernt als Initiator des einen, als zahlungsfähigen und -willigen Unterstützer des anderen aktuellen Aufrüstungsunternehmens, mit denen die USA die strategische Vorentscheidung gegen die Sowjetunion auf dem Gebiet der Atomkriegsmöglichkeiten suchen: Die Ausstattung Westeuropas mit amerikanischen Mittelstreckenraketen ist ein sozialliberaler Einfall - Ehre, wem Ehre gebührt -, die Mitwirkung an überirdischen Raketenabwehrsystemen, die den Atomkrieg endlich nach dem Muster klassischer Schlachten zu führen erlauben, fällt fürs erste in die christliche Ära...

Wer "wir" endlich wieder sind, weiß seither vor allem der Adressat dieser bundesdeutschen Vaterlandsverteidigung: die Sowjetunion. Die fürchtet im selbstbewußten "Rechtsnachfolger" des Hitler-Reiches seit jeher den Scharfmacher im westlichen Bündnis; schließlich verbindet die BRD als einziger NATO-Staat mit dem Bündniszweck, die große sozialistische Ausnahme aus der Weltwirtschaftsordnung und deren waffenstarrendem Weltfrieden unschädlich zu machen, noch einen besonderen nationalen Anspruch auf die Veränderung der politischen Nachkriegs-Landkarte Europas. Von dieser Furcht war und ist ein Gutteil der sowjetischen Aufrüstung ebenso diktiert wie der Versuch, den grundgesetzlich verankerten bundesdeutschen Revanchismus durch vorteilhafte Geschäftsbeziehungen, durch die Aufwertung der sozialliberalen Regierungen zu bevorzugten Adressaten der sowjetischen Weltpolitik, durch Berlin-Zugeständnisse u.ä. zu saturieren oder zu neutralisieren.

...mit "offener deutscher Frage"

Die bundesdeutsche Ostpolitik hat diese Angebote mit der Kunst beantwortet, Scharfmacherei als Friedenspolitik zu betreiben. Sie hat die angebotenen Geschäftschancen zu Mitteln entwickelt, die östlichen Planwirtschaften vorteilhaft zu benutzen und nach Bedarf zu schädigen; sie hat das diplomatische Einvernehmen zur Form für die Übermittlung der härtesten westlichen Ansprüche an sowjetisches "Wohlverhalten" gemacht; sie hat eine Deutschlandpolitik der zersetzenden "Verständigung", der praktischen Relativierung der Ostberliner Souveränität anstelle ihrer bloß rhetorischen Bestreitung, betrieben. Die christlichen Erben dieses "deutschen Modells" antisowjetischer Friedenspolitik können daher in voller Kontinuität und mit demselben Außenminister klarstellen, worum es immer gegangen ist: um die deutsche Federführung und einen besonderen nationalen Nutzen bei allen westlichen Unternehmungen mit dem Ziel, den Ostblock zu spalten, die sozialistische Herrschafts- und Wirtschaftsform zu zersetzen, den planwirtschaftlichen Reichtum kapitalistischer Verwendung zuzuführen, die Sowjetunion zur Duldung aller einschlägige Fortschritte zu zwingen, also ihre Macht zu schwächen... Über die weiteren Aussichten wird anstandshalber nur in der Metaphorik der "Einigung" - Deutschlands, Europas, Schlesiens... - unmißverständliche Auskunft gegeben.

Nun sind besondere ostpolitische Künste sozialliberaler Machart nicht mehr gefragt, weder von sowjetischer noch von amerikanischer Seite, seit die USA ihre Feindschaft gegen die Sowjetunion nicht mehr mit diplomatischer Berechnung in den Formen vertragsmäßiger Vereinnahmung abwickeln, sondern ihrem Feind zumuten, der amerikanischen Überlegenheit nachzugeben und sich für erpreßbar zu erklären. Seither wissen auch "wir" wieder ganz offiziell, daß man mit der Sowjetunion nur "weiterkommen" kann, indem man ihr schadet und mit überlegenen Machtmitteln droht. Als

Anwälte eines deutschen Europa

mit einem freien Schlesien in der Mitte haben "wir" das im Grunde immer gewußt. Jetzt lernt die Staatenwelt und vor allem der Ostblock eine Bonner Arroganz der Macht kennen, die den ersten Bundesregierungen mangels Macht nicht zu Gebote stand und von den nachfolgendcn erst mit viel Rüstungs- und Weltpolitik begründet werden mußte.

Die Ewiggestrigen, die der Sowjetunion noch immer "legitime Sicherheitsbedürfnisse" zugute halten und auf Kompromißbereitschaft dringen, wollen inzwischen, im Zeichen neuer Raketen und Jahrestage, damit nur noch einen taktischen Ratschlag erteilt haben, wie die Bundesregierung sich auf Basis tiefster Bündnistreue zu den USA noch als eigenständiges Subjekt zur Geltung bringen könnte. Sie vermissen den Schein des "Bremsers" westlicher Offensiven, die Rolle als inkarnierte Glaubwürdigkeit der westlichen Heuchelei, die der sozialliberalen Ostpolitik so gut angestanden haben. Und sie bringen sogar ehrliche Empörung zuwege - z.B. wenn amerikanische Militärexperten und Waffenhändler die Ausrüstung der NATO-Luftwaffe mit elektronischen Gerätschaften aus den USA durchsetzen, obwohl "unsere" Rüstungskonzerne viel bessere Ware herstellen; oder wenn "wir" zum Satellitenwaffen-Programm der USA "unsere" Technologie beisteuern sollen, ohne an den militärischen Spitzengeheimnissen der amerikanischen Atommacht "gleichberechtigt" teilzuhaben.

Das sind denn auch die Punkte, an denen die Bundesregierung sich selber mit Reagans Leuten zankt und sogar noch inmitten der Harmonie des Gipfels in Bonn deutsch-nationale Bedenklichkeiten vorbringt. Schließlich sind "wir" wieder wer; an "unserer" Technologie können auch die USA nur zu ihrem Nachteil vorbei, wenn's ums "Totrüsten" der Sowjetunion geht. Also feilschen "wir" mit um Kosten, Vorteile und den Zeitplan des amerikanischen Rüstungsprogramms gegen die russische Atomraketenwaffe, ohne die die Sowjetunion ihren Laden längst hätte dichtmachen müssen. Und gehen in die Geschichte ein als die Nation, die nach zwei verlorenen Weltkriegen keine Kriegsvorbereitung gescheut hat, damit von ihrem Boden nie wieder eine Niederlage ausgeht.