Info

Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1985 erschienen.

Systematik

Aufklärung über eine aktuelle Debatte
LOHNSENKUNG MIT ODER OHNE TARIFVERTRAG?

Nach und neben den Renten, der Gesundheitsversorgung, der Arbeitszeit haben Politiker jüngst auch den Lohn selbst zum Thema gemacht und die grundsätzliche Frage aufgeworfen: Ist nicht der Lohn zu hoch, weil tarifvertraglich und damit allgemeinverbindlich festgelegt? Seitdem debattiert von Haussmann bis Strauß, "Bild" bis "Spiegel" die verantwortliche Nation den heißen Vorschlag, man solle auf Zeit und in bestimmten Fällen oder auch überhaupt die Tarifbindung außer Kraft setzen - im Interesse von "Beschäftigung", zugunsten "der Arbeitslosen", im Dienste des "Rechts auf Arbeit". Eine Debatte so recht nach dem Geschmack der Anhänger einer sparsamen und dienstbaren Volksgemeinschaft.

Die Befürworter einer "beschäftigungswirksamen" Gestaltung des Lohns machen keinen Hehl daraus, daß sie Beschäftigung als einen Vorzug ins Spiel bringen, für den man auf alle möglichen Ansprüche an das Arbeitsverhältnis verzichten muß, insbesondere auf den einen entscheidenden: daß es finanziell etwas einbringt. Lieber für wenig Geld beschäftigt, als für noch weniger gar nicht, heißt das Argument, mit dem die Sozialhilfeverwalter, die schließlich das größere Übel nach Kräften herstellen, auf die Selbstverständlichkeit und Allgemeinverständlichkeit der Logik vom kleineren Übel setzen. Das bemerkt ja sogar der Spiegel, wenn er ansonsten teilnahmsvoll der aufgeworfenen Frage eine Titelgeschichte widmet und so den aufgemachten Standpunkt einer nationalen Lohnkostenrechnung teilt. Doch davon einmal abgesehen!

Was leisten eigentlich Tarifverträge?

Was hat es mit den Regelungen auf sich, denen da zum Vorwurf gemacht wird, sie seien wegen ihrer Rechtsverbindlichkeit schuld, daß unternehmerische Kalkulationen nicht aufgingen, und denen umgekehrt zugutegehalten wird, sie seien wegen dieser Verbindlichkeit das Mittel einer florierenden sozialen Marktwirtschaft? In der rechtlichen Form gleicher Vertragspartnerschaft regeln solche Verträge die einseitige ökonomische Abhängigkeit der Lohnarbeiter von ihrem Anwender. Was der Vertrag festlegt, ist der Preis, den der Unternehmer für die Arbeitsleistung zahlt, den der Arbeiter erhält und von dem er zu leben hat. Diesen Preis aber auch nur allgemein und grundsätilich - als Berechnungsgrundlage und Ausgangspunkt nämlich für alle möglichen Zuschläge und Sonderzahlungen für irgendeine Spezialität der Arbeit, für Betriebszugehörigkeit, Betriebsergebnis usw. Von der Art und Dauer der Anwendung sowie von der gesonderten betrieblichen Kalkulation hängt also ab, was einer wirklich verdient. Der Tariflohn jedenfalls ist ein Mindestlohn, von dem sich deswegen auch minder leben läßt.

Auf der anderen Seite kauft sich der Unternehmer für diesen Preis die Freiheit ein, die Arbeitsleistung nach den Mitteln und Möglichkeiten seines Eigentums zu gestalten. Die sind bekanntlich nicht wenige, weil er über die Arbeitsmittel, ihren Gang und dessen Änderung verfügt, also die Arbeitsleistung innerbetrieblich organisiert. Sie heißen 'Arbeitsplatz', weil der Arbeiter sie fix und fertig, allerdings keineswegs für alle Zeiten, ohne sein Zutun vorfindet.

Wegen der ständigen Leistungssteigerung und wegen der laufenden Entwertung des Lohns durch die steigenden Preise findet jährlich in den Tarifverhandlungen eine Neufestsetzung des Preises der Arbeit statt, und es hängt von Entschlossenheit und Geschlossenheit der Gewerkschaft ab, wieweit sie dabei eine Kompensation für die doppelte Schädigung ihrer Klientel erstreitet, die auf Grundlage der Lohnfestsetzung tagtäglich voranschreitet.

So weit, so schlecht. Mit einem Schutz der Arbeiterschaft oder einer grundsätzlichen Schranke für Unternehmerfreiheit ist diese allgemeinverbindliche Verpflichtung zur variablen Leistung für fixen Preis nur dann zu verwechseln, wenn - ja wenn an Unternehmerfreiheit ohne ihre sozialstaatlichrechtliche Grundlage gedacht wird, wenn also die 'individuellen Arbeitsverträge ohne tarifvertraglichen Schutz' der guten alten Zeit in Erinnerung gebracht werden, also das Ideal eines frei 'nach Marktlage' ausbaldowerten Lohnverhältnisses zum Maßstab dient. Aber eben so haben die FDP-Diskussionspartner den Arbeitsvertrag jetzt in Frage gestellt mit der Behauptung, er lege den Lohn fest, erlaube deshalb kein Unterschreiten und zementiere auf diese Weise ein grundsätzlich zu hohes Lohnniveau.

Was Tarifverträge hierzulande noch alles leisten

Gerade das ist aber mit den geltenden Tarifverträgen ganz und gar nicht der Fall - und zwar wegen ihrer Allgemeinverbindlichkeit gleich gesamtgesellschaftlich durchgesetzt und höchstoffiziell besiegelt. Daß es nicht so ist, ist gar kein Geheimnis, sondern die beleidigte und entrüstete Auskunft, die ausgerechnet die Gewerkschaften bei der Zurückweisung der neuen Vorschläge erteilen. Empört bekennen sich Breit, Mayr und Co. zu Lohnverzichtsrunden; in der Pose von Aufklärern verweisen sie darauf, daß große Teile des Lohn außertariflich festgelegt, also der freien unternehmerischen Kalkulation anheimgestellt sind und längst dem Geist der Zeit und der Wucht der vielen Arbeitslosen entsprechend gesenkt, gestrichen oder mit neuen Leistungsanforderungen versehen sind. Und geradezu mit Hohn bemängeln sie das fehlende Wissen, daß längst und immer schon nach Branchen, Regionen, Betrieben und Konjunkturen fein differenziert gelöhnt wird. Die Einheitsgewerkschaft hat eben kein Problem mit der bitteren Wahrheit und mit der Kundgabe ihrer Leistungen, wenn sie sich darauf als Dokument nationaler Verantwortung berufen will.

Es stimmt ja wirklich, daß - Gewerkschaft sei Dank! - hierzulande die Lohnsumme selbst eine nach unten flexible Größe ist, und das gleich in mehrfachem Sinn. Nicht umsonst geht es unter dem Dach des DGB streng branchenspezifisch pluralistisch zu. So einheitlich die Rücksichtnahme auf den wirklichen oder eingebildeten Konkurrenzstand der verschiedenen Unternehmungen ist, sie gestaltet sich gerade deshalb zu einer ganzen Palette von Lohnverzichtsregelungen und gewerkschaftlichen Touren, kritische Verantwortung gegenüber ihrer jeweils betreuten Wirtschaftssparte an den Tag zu legen - und das gleich auch noch innerhalb der Einzelgewerkschaften regional unterschieden. An einer Anspruchshaltung der Arbeitervertretung leiden alle Branchen jedenfalls nicht; umgekehrt ist der jährlich, inzwischen ja auch schon mehrjährig festgelegte Lohn die Manövriermasse bei allen Fährnissen der Konkurrenz, die gewerkschaftlich als Notwendigkeit eingesehen sind, kaum daß die Unternehmer sie ausgemacht haben. Berufs- und Branchenstolz haben die Gewerkschaften also längst in gerechte Leistung und billigen Lohn für die nationale und internationale Bewährung des jeweiligen Industriezweigs übersetzt. Kein Wunder, daß sich gesamtnational eine Lohnsenkungsrunde an die andere reiht.

Auch die allergerechtesten Lohnabstufungen - nach unten nämlich - sind immer schon fester Inhalt der ach so starren Tarifverträge.

Ein geregelter 'Leistungslohn' gehört nämlich zu den Errungenschaften moderner Tarifpolitik, auf die sich die Gewerkschaften besonders viel zugutehalten. Arbeitswissenschaftlich ausgeknobelt, gewerkschaftlich unterstützt und tarifvertraglich besiegelt sind nämlich heutzutage Lohngruppen, denen Arbeitsplatzmerkmale zugeschrieben sind. Und die zeichnen sich nur durch eins aus: Eine ganze Menge vorgestellter und dem Arbeitsplatz zugeschriebener Merkmale betriebsnützlicher Tätigkeit muß der gute Arbeitsplatzbesitzer erfüllen, will er einen höheren Platz in der Lohnhierarchie einnehmen. Die Mehrzahl und zunehmend mehr müssen dank der "Vereinfachung" der Arbeiten - Fachausbildung hin oder her - mit Arbeitsplätzen vorliebnehmen, denen es an "Verantwortung", "Belastung", "Kooperation" und einigen anderen Bewertungskriterien und damit an einem einträglichen Grundlohn fehlt. Das Abgruppieren ganzer Abteilungen im Zuge betrieblicher Rationalisierungsmaßnahmen ist da genauso wenig schwierig und "objektiv" geregelt wie die allgemeine Minderbezahlung von Frauen ohne jede Diskriminierung - Lohngruppen sei Dank. Und wo sich die Arbeitsplätze weniger durch technischen Zwang, großbetriebliche Organisation und betriebsrätliche Vertretung auszeichnen, in "mittelständischen Unternehmen" und der "Kleinindustrie", wie es so schön heißt, da ist es immer noch und immer wieder guter Brauch, mit Tarifvertrag oder gegen ihn, auf jeden Fall aber geduldet bis gefördert, vom Tariflohn abwärts zu zahlen und zu heuern und zu feuern ohne öffentliche Massenentlassungsspektakel und Sozialpläne. Von den heilsamen lohnsenkenden Möglichkeiten der Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf, Leiharbeit, Schwarzarbeit gar nicht zu reden, die direkt oder indirekt gewerkschaftlich mitvertreten werden.

Was Politiker auszusetzen haben

Wohlgemerkt, die Freiheit der Leistungssteigerung zum festen Preis, die kleinen und großen 'Ausnahmen', welche die unternehmerische Kalkulation erzwingt, die Maschinerie ermöglicht und der Tarifvertrag deshalb für Arbeitsstunde, -tag, -woche und -leben erlaubt, das alles steht ja gerade sowieso nicht zur Debatte, weder der Gewerkschaft, noch ihrer werten Diskussionspartner aus den Parteirängen. Diese Freiheit gilt weder als starr, noch zu groß, sondern wird als Gratisgabe des Tarifvertrags stillschweigend unterstellt, wenn das Stirnrunzeln über die Lohnhöhe und das demokratische Vorschlagswesen zu seiner niveauvollen Senkung anfängt. Und auch darauf, daß der Lohn längst freigemacht ist von der Rücksichtnahme auf die Lebensbedürfnisse desjenigen oder derjenigen, die jeweils von der Summe abhängen, verlassen sich die Diskutanten.

Es ist ja auch gar keine freidemokratische wahlkampfbewußte Extra-Frechheit oder gar Unwissen über die kapitaldienliche Tarifvertragsfreiheit, die die Hauss- und Bangemänner die Tauglichkeit des Tarifvertragssystems theoretisch infragestellen läßt. Und es ist ja auch gar nicht so, daß sie das tarifvertragliche Regelwerk überhaupt ad acta legen und zu den bösen alten Zeiten frühkapitalistischer Klassenauseinandersetzungen und Unternehmerwillkür zurückkehren wollen, wie die Gewerkschaft als Anwalt demokratischer Lohnarbeitszustände weismachen möchte bzw. berechnend tut. Weil die geltenden Tarifverträge als Instrumente nationaler Arbeitsorganisation im internationalen Konkurrenzmaßstab so tauglich sind, denken Politiker auch über sie hinaus, beklagen ihre Rechtsförmlichkeit und verlangen die Abschaffung ihrer generellen Gültigkeit. Das Ideal der freidemokratischen Unternehmerfreunde ist die Freiheit zur konjunkturnützlichen Ausnahme, und zwar als anerkannte Rechtsregel auf der Grundlage, daß die Verbindlichkeit allgemein niedriger Lohnabschlüsse für die andere Seite gerade bestehen bleibt. Weil sie den ökonomischen Zwangscharakter des Arbeitslosendaseins kennen und sich den noch lohnsenkender vorstellen können als über den Weg gewerkschaftlich erwiesener Lohnzurückhaltung und gesamtwirtschaftlicher 'Vernunft angesichts von über zwei Millionen Arbeitslosen', schlagen sie das Prinzip der Ausnahme vor und fordern "mehr Flexiblität" des Lohns, also ein immer und überall unternehmergenehmes Lohnfestlegungsverfahren. Natürlich ist das keine Verfahrensfrage und schon gar nicht eine Frage der 'Differenzierung', sondern das ziemlich schlichte Interesse an Lohnsenkung. Dem dienen die Arbeitslosen bloß als Veranschaulichung und ihr Recht auf Arbeit und ein bißchen mehr Geld als der allseits bekannte geheuchelte Ehrentitel. Und weil es dabei ums Prinzip geht, kümmern sich die Vordenker außertariflicher Lohnabschlüsse auch gar nicht weiter um den Inhalt von Tarifverträgen, sondern bemängeln nichts als den Vertragscharakter.

Was Gewerkschafts- und andere Politiker verteidigen

Genau darauf, auf das Prinzip der Vertragsverbindlichkeit, stürzt sich auch die Gewerkschaft - unterstützt von Unternehmerverbänden, SPD und CDU und CSU und FDP-Politikern und der Presse, die süffisant vermeldet, daß die Unternehmer schon wissen, was sie an den Gewerkschaften haben Die Tarifautonomie, dieses höchste gewerkschaftliche Gut, steht nämlich zur Debatte, und zwar das, was die Gewerkschaft daran allein so verteidigenswert findet: das Vertretungsmonopol der Arbeiterschaft, ob organisiert oder unorganisiert - also die demokratische Zwangsvertretung. Deswegen führen die Oberfunktionäre und Gewerkschaftspolitiker den nationalverantwortlichen Gebrauch dieser Freiheit als Beweis dafür ins Feld, wie überflüssig und vom ordnungspolitischen Gesichtspunkt aus schädlich und sozialfriedensstörend ein solcher Angriff sei womit die beschworene Gefahr auch erledigt ist. Anders als verwaltet, und zwar durch die Gewerkschaften im Verein mit Unternehmern und Politik, mögen sich die Gewerkschaftspolitiker den Lohn nicht denken, und sie können sich dabei der allerallgemeinsten Unterstützung sicher sein: Vertragsmäßig und allgemeinverbindlich, also unter Benutzung gewerkschaftlicher Ordnungsmacht, muß das Lohnsenken vonstatten gehen, also die Flexibilität des Tarifvertragswerks allgemein benutzt und ausgebaut werden. So finden die Gewerkschaftsoberen und ihre breite politische Anwaltschaft den rechten Wendeton: gegen den Lohn pro DGB und die nationale Lohnverwaltung.

Der Nutzen der Debatte

liegt damit auf der Hand. Nach der Arbeitszeitauseinandersetzung wird nun unter dem Titel 'Beschäftigung' ein weiteres Herzstück gewerkschaftlicher Selbstdarstellung und anerkannter Zuständigkeit zur Diskussion gestellt und ein politischer Anspruch an den Lohn bekräftigt. Offenbar wissen es die Wendepolitiker nur zu gut und machen es sich zunutze, was es heißt, wenn die Gewerkschaft 'Tabus' benennt, die man über ihren 'entschiedensten Widerstand' hinweg brechen darf. Damit stellen die Tarifpolitiker nämlich selber irgendeines der bisher geltenden Prinzipien der Lohnarbeitsorganisation zur Diskussion und sortieren dann säuberlich, daß sie in der Sache, dem materiellen Anliegen der Unternehmerseite, alles nachgeben, nicht aber die gewerkschaftliche Mitzuständigkeit. Deswegen macht sich inzwischen die Politik ganz bewußt und methodisch daran, gegen die Gewerkschaft Ansprüche in die Diskussion zu bringen, an denen die sich dann umso bescheidener abarbeitet, je mehr sie sich dabei nicht respektiert sieht. Kein Wunder: Wenn die Gewerkschaft die Arbeitslosen zum Anlaß genommen hat, 'Beschäftigungs'-Tarifrunden mit Lohnsolidaritätsopfern zu veranstalten und unter dem Titel 'Arbeitszeitverkürzung' die Freiheit der Unternehmer im Umgang mit der Arbeitszeit flexibler zu fixieren, dann bedarf es wirklich keiner übermäßigen politischen Raffinesse, um die 'Ausnahmesituation' der hohen Arbeitslosigkeit zum Argument für 'ungewöhnliche' und 'zeitweilige' Lohnsenkungsmaßnahmen von höchster Stelle in die Debatte zu bringen. Egal, wie diese Debatte ausgeht, man weiß vorab, daß der neue Maßstab gilt: Wirtschaftsgerechte, flexible Löhne, das geht vor und über ihre rechtliche Absicherung - das hat also auch Prinzip ihrer rechtlichen Regelung zu sein. Damit ist zugleich der Gesichtspunkt in Mode gebracht - und zwar gleich tarifrechtlich prinzipiell -, daß unter dem Existenzminimum zu arbeiten ein zwar leidiges, aber immerhin ein Glück ist. Der Tariflohn, dieses von Rücksichtnahme auf Lebensnotwendigkeiten freie Ergebnis gewerkschaftlicher Tarifpolitik, das erst durch betriebliche Zusatzzahlungen zum 'Normallohn' wird, gilt, ob bei Kritikern oder Verteidigern, ganz offiziell als ein mögliches Beschäftigungshindernis, über dessen Beseitigung kontrovers diskutiert werden darf. So wird die Arbeiterschaft aufgeklärt und mündig gemacht und ist bei Rente, Gesundheit, Mutter, Kind und Papi von Sonntag bis Samstag und nun auch wieder mal beim Lohn durch nichts mehr zu überraschen. Der 'politische Handlungsbedarf' steht vor jeder Handlung fest. Also kommen solche Debatten der Ankündigung entsprechender Handlungen gleich. Es sind ja auch gar keine Streitgespräche.