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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1985 erschienen.


DER GANZ NORMALE WAHNSINN

"Spaß am großen Knall"

Donnerstag, 7. März: Im Dortmunder Hertie-Kaufhaus geht ein Sprengsatz hoch. 8 Verletzte, darunter zwei schwer. Am gleichen Tag noch läßt Minister Zimmermann erklären:

"Der Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte in Bonn auf Anfrage, die Terroristen hätten mit diesem Anschlag jeden Schein ihres bisherigen Anspruchs, politische Ziele zu verfolgen, aufgegeben. Jetzt werde unmittelbar gegen die Bevölkerung 'blanker Terror' ausgeübt, mit dem Ziel, die Bevölkerung zu verunsichern. 'Dies wäre eine neue Dimension, aber auch die Endstufe des Terroismus'; die Terroristen befänden sich weiter auf dem Weg in die Isolation. Der Sprecher sagte, es gebe deutliche Hinweise darauf, daß der Bekenneranruf ernst zu nehmen sei. Dafür spreche auch der enge zeitliche Zusammenhang mit dem Anschlag. Seine Brutalität könne eine weitere Steigerungsform der Rote-Armee-Fraktion sein." (Süddeutsche Zeitung, 8.3.)

Freitag, 8. März: Während das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt "erhebliche Zweifel" bekanntgibt, ob hinter dem Anschlag "politische Motive" stecken, beginnt das Bundeskriminalamt mit eigenen Ermittlungen, und der Generalbundesanwalt zieht das Verfahren an sich.

Sonntag, 10. März: Der Lehrling Torsten Retta gesteht, die Bombe von Dortmund selbst gebastelt, gelegt und gezündet zu haben:

"Retta hat nach Angaben der Staatsanwaltschaft ausgesagt, das Motiv des Zündens einer Bombe sei für ihn 'eine fixe Idee' gewesen. 'Es war ein Ulk. Der Spaß am großen Knall.' Nach den derzeitigen Erkenntnissen hat Retta den Sprengsatz allein zusammengebastelt. Hans-Georg Fuchs vom Bundeskriminalamt, der schon zu Beginn der Ermittlungen von einer 'dilettantischen Bastelei' gesprochen hat, bezeichnete es als 'ein Wunder, daß das Ding nicht schon beim Zusammensetzen in die Luft geflogen ist'. Der junge Mann hatte die Bombe zu Hause gebastelt, scharf gemacht und sie so ins Kaufhaus getragen. Daß ausgerechnet das Kaufhaus Hertie betroffen wurde, ist offenbar ein makabrer Zufall. Nach den vom BKA wiedergegebenen Äußerungen des Lehrlings hätte es jedes andere Kaufhaus in Dortmund ebenso treffen können." (Süddeutsche Zeitung, 12.3.)

Montag, 11. März: Bundesinnenminister Zimmermann sieht sich durch die Aufklärung des Dortmunder Anschlags in seinen Warnungen voll bestätigt:

"Zimmermann: Gewalt produziert Ableger

Nach Auffassung von Bundesinnenminister Zimmermann (CSU) hat der Dortmunder Bombenanschlag gezeigt, daß Gewalt ihre Ableger produziert. Der Sprecher des Ministeriums erklärte laut AP, die politische Schlußfolgerung aus dem Anschlag sei, daß nicht nur der Terrorismus in all seinen Erscheinungsformen bekämpft werden müsse, sondern auch die darauf zurückzuführende Bereitschaft zur Gewalt. Die Öffentlichkeit müsse dazu ihren Beitrag leisten." (Süddeutsche Zeitung, 12.3.)

Dienstag, 12. März: Nach dieser eindeutigen Klärung der Schuldfrage wird der Dortmunder 'Jugendstreich' als solcher behandelt.

"Mutmaßliche Komplicen des Bombenlegers auf freiem Fuß

Der 20jährige Lehrling Torsten Retta, der den Bombenanschlag auf das Dortmunder Hertie-Kaufhaus gestanden hat, ist wegen des Verdachts des versuchten Mordes in Untersuchungshaft genommen worden. Wie Oberstaatsanwalt Klaus Schacht weiter mitteilte, wurden gegen zwei mutmaßliche Komplicen Haftbefehle wegen des Verdachts der Herbeiführung einer Explosionsgefahr erlassen. Die beiden, wie Retta Lehrlinge in Dortmunder Betrieben, müssen aber nicht in Untersuchungshaft. Ein vierter Heranwachsender, der ebenfalls festgenommen worden war, wurde entlassen." (Süddeutsche Zeitung, 13.3.)

"Nicht die Handvoll Terroristen: Der Staat selbst wirft bei jeder Gelegenheit, die seiner Regierung in den Kram paßt, die Gewaltfrage auf - ganz unabhängig davon, ob irgendwer seine Gewalt in Frage stellen will oder kann." (MSZ, Nr. 3/1985, Die 'Gewaltfrage' und ihre Liebhaber)

Die Wahrheit siegt!

"Pentagon akzeptiert Theorie vom 'atomaren Winter'

Die Annahme der Theorie des 'atomaren Winter' als Folge eines Atomkrieges bedeutet dem stellvertretenden US-Verteidigungsminister Richard Perle zufolge keine Änderung der US-Rüstungspolitik. Sein Ministerium habe die schreckliche Zerstörung, die ein Atomkrieg verursache, schon früher anerkannt, sagte Perle vor einem Kongreßausschuß. Bei der Theorie wird davon ausgegangen, daß selbst bei einem kleineren Atomkrieg genug Rauch und Staub entsteht, um die Sonne zu verdunkeln und eine schwere - das Leben auf der Erde bedrohende - Kältewelle auszulösen. Das Pentagon hatte kürzlich dem Kongreß einen Bericht übergeben, in dem es die Gültigkeit dieser früher von ihm angezweifelten Theorie akzeptiert." (Süddeutsche Zeitung, 18.3.)

Todesstrafe mindestens menschenwürdig

"Abschiebung trotz drohender Todesstrafe

Eine drohende Todesstrafe stellt keine Behandlung dar, die gegen Mindestanforderungen der Menschenwürde verstößt. Wie in einem Teil der Mittwochausgabe bereits kurz berichtet, vertritt diese Ansicht der 11. Senat des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg in einem Urteil, mit dem das Gericht die Berufung eines 30 Jahre alten Türken gegen eine Entscheidung des Oldenburger Verwaltungsgerichts zurückwies, das ihn abschieben lassen wollte...

Zwar verbiete es sich für jede deutsche Behörde, einen Ausländer - der Gefahr der Beetrafung auszusetzen, wenn die Mindestanforderungen an die Menschenwürde nicht eingehalten werden. Eine solche gegen diese Mindeetanforderungen verstoßende Behandlung sei aber weder in einer Doppelbestrafung noch in der Todesstrafe zu erblicken, meinten die Lüneburger Richter. Die Todesstrafe sei zwar für die Bundesrepublik abgeschafft. Diese Regelung könne jedoch nicht als rechtsstaatlich-sittliche Grundforderung angesehen werden, die die Bundesrepublik gegenüber der Türkei unbedingt durchzusetzen hätte. Der Senat vermochte nicht festzustellen, 'daß nach dem inzwischen erreichten Zivilisationsniveau die Todesstrafe eine allgemeine Ächtung erfahren hat'. Nach wie vor werde die Todesstrafe auch in führenden westlichen Demokratien verhängt und vollstreckt." (Süddeutsche Zeitung 7.3.)

Im Falle des betroffenen türkischen Staatsbürgers handelt es sich zudem um einen wegen - Heroinschmuggels einsitzenden Strafgefangenen, so daß nach Auffassung der Richter auch eine "abschreckende Wirkung" rechtspflegerisch wünschenswert ist.

Zumal es sich um ein Delikt handelt, bei dem so mancher rechtschaffene Bürger für "Rübe ab!" eintritt. Die Menschenwürde ist gewährleistet, weil der Mann gleich zweimal einen Prozeß kriegt: Ordentlich wurde er bei uns zu 7 Jahren verknackt, und nach seiner Auslieferung geht die Todesstrafe durch den türkischen Kadi in Ordnung, weil das dortige StGB eine Strafe vorsieht, die in der absolut führenden westlichen Demokratie eindeutig auf dem Vormarsch ist. Bleibt noch die Urteilsschelte des SPD-MdB Schäfer, die Lüneburger Richter seien "ausländerfeindlich": Die würden doch ohne jedes Vorurteil auch einen echten Deutschen aufs Schafott schicken, wenn das nicht einstweilen für die Bundesrepublik abgeschafft wäre.

Hunger marktgerecht

Nach dem "Tag für Afrika", bei dem erst einmal gespendet werden sollte, würde man sich der Ursachenforschung zuwenden. Der Bundesminister für die Entwicklung Jürgen Warnke (CSU) rückt jetzt mit der Analyse heraus, wie die Hungerländer sich zu entwickeln hätten: Auf jeden Fall wirtschaftlich als unser Markt.

"Die internationale Unterstützung für die von einer beispiellosen Hungersnot betroffenen Länder Afrikas werde noch auf Jahre hinaus den Charakter einer 'Weltsozialhilfe' haben, hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Jürgen Warnke, in einem Vortrag vor der Gesellschaft für Auslandskunde in München erklärt. Es sei Aufgabe der internationalen Gebergemeinschaft, durch Soforthilfe die Menschen auf diesem Kontinent vor dem Hungertod zu bewahren und gleichzeitig langfristige Maßnahmen zur Ernährungssicherung aus eigener Kraft zu fördern. Die Ernährung der Menschen in Afrika, so Warnke, könne aber langfristig nur gesichert werden, wenn die Partnerstaaten selbst bereit seien, die Rahmenbedingungen positiv zu ändern. Es komme vor allem darauf an, Produktionsanreize zu schaffen und die Markt- und Preispolitik zu verbessem. Äthiopien betreffend erklärte Warnke, daß die Bundesregierung eine Massenumsiedlung, wie sie die Regierung in Addis Abeba betreibe, kategorisch ablehne." (Süddeutsche Zeitung, 6.3.)

Der äthiopische Versuch, stur am Markt vorbei Menschen zu retten, erinnert schon zu sehr an Planwirtschaft, wie von einem "marxistisch-leninistischen", noch dazu '"Regime", nicht besser zu erwarten. Vorbildlich im Vergleich dazu der prowestliche Nachbarstaat Sudan, dessen Militärpräsident Numeiri die Nahrungsmittelhilfe aus den USA und der EG zum Teil versilbert durch Verkauf auf dem freien Markt. Dadurch setzen sich in Khartum wirklich die Marktkräfte dwch, nutzloses Hungerleidervolk wird nicht künstlich noch ein paar Wochen mitgeschleppt, und das Geld landet da, wo es die Geberstaaten am liebsten haben wollen: Umweglos in der Hand des imperialistischen Statthalters und seines Gewaltapparates.

"Die Regierung des Sudan möchte einen Teil der Nahrungsmittelhilfe der Europäischen Gemeinschaft für die Hungernden des Landes verkaufen, statt sie an die Bedürftigen zu verteilen. Ein Sprecher der EG-Kommission teilte in Brüssel mit, über einen entsprechenden Plan der sudanesischen Regierung werde derzeit verhandelt. Der Sprecher sagte, es handele sich um einen 'kleinen Teil' jener 150.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe, die dem Sudan von der EG zugedacht wurden und die die Regierung auf dem freien Markt, angeblich vor allem in der Hauptstadt Khartum, verkaufen möchte. Dieser Wunsch werde von der Regierung mit der Sorge begründet, daß bei kostenloser Verteilung die Existenz einheimischer Getreideproduzenten gefährdet werde...

Die USA wollen nach Angaben des sudanesischen Präsidenten Numeiri ihre Hilfe fortsetzen. Nach einem Gespräch mit US-Vizepräsident Bush sagte Numeiri, Bush habe ihm eine entsprechende Botschaft Präsident Reagans übermittelt. Beobachter werteten den Besuch Bushs als Zeichen dafür, daß die USA den Sudan trotz der anhaltenden Verstimmung über Numeiris Wirtschafts- und Religionspolitik weiter unterstützen wollten." (Süddeutsche Zeitung 7.3.)

Die Vergangenheit bewältigt

"Hamburger CDU will keinen 'Ernst-Thälmann-Platz'

Die Hamburger CDU will mit einem Antrag in der Bürgerschaft die Pläne des Senats stoppen, einen Platz im Stadtteil Eppendorf nach dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands Ernst-Thälmann-Platz zu nennen. Der Vorsitzende der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Hartmut Perschau, sagte zur Begründung des Antrags seiner Partei: 'Wir können uns nicht vorstellen, daß der Demokratie verpflichtete Abgeordnete guten Gewissens die Ehrung eines stalinistischen Anti-Demokraten unterstützen können.'" (Süddeutsche Zeitung, 11.3.)

Immerhin hat der CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Alfred Dregger erklärt, am 8. Mai könne man sich zwar über die Niederlage Hitlers freuen, aller Grund zur Trauer bestünde aber über den dadurch zustande gekommenen Sieg Stalins. So darf konsequenterweise ein deutscher Hitlergegner, den die Nazis umgebracht haben, kein Grund zum Gedenken sein, weil Demokraten, heute guten Gewissens jeden Antikommunismus unterstützen können.

"Aktion 18. März Schirmherrschaft Ingeborg Drewitz und Heinrich Albertz

Es kommt dazu trotz alledem, daß rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht - tun wir was dazu. Unter diesem Motto schlagen wir die Einrichtung des

18. MÄRZ

als gemeinsamen politischen Feiertag dtr Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR vor. In der Bundesrepublik wollen wir dadurch den 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" ersetzen, der im kalten Krieg verschlissen worden ist.

Am 18. März 1848 siegte in Berlin für kurze Zeit das Volk in bewaffneten Kämpfen über Fürstengewalt und Feudaladel. Die revolutionäre Bewegung von 1848 für nationale Unabhängigkeit, demokratische Rechte und konstitutionelle Freiheit hatte fast alle europäischen Völker ergriffen.

Indem wir uns auf diese Tradition beziehen, die Tradition des "anderen Deutschland", wollen wir ein Zeichen setzen für Frieden, deutsch-deutsche Verständigung und Völkerfreundschaft heute. Über Staats- und Parteigrenzen hinweg fordern wir dazu auf, diese Idee zu unterstützen und Feiern zu organisieren." (Anzeige in der "Frankfurfer Rundschau" vom 16./17.3.1985).

Auch dieser Vorschlag scheint uns nicht vor der Gefahr gefeit, im Zuge der anstehenden bewaffneten Kämpfe in und um Europa verschlissen zu werden. Die MSZ-Redaktion schlägt deshalb die Einrichtung des

6. AUGUST

als gemeinsamen politischen Feiertag der Deutschen in der BRD, der DDR, in Österreich und der Schweiz sowie der Deutschen aus Polen, der UdSSR, der CSSR, aus Rumänien und Ungarn, in Südtirol, in Elsaß-Lothringen und in Dänemark und Belgien vor.

Am 6. August 9 siegte im Teutoburger Wald das Volk in bewaffneten Kämpfen über Fremdherrschaft und Sklavenhalter. In dieser Tradition beziehen wir uns auf die Tradition der freien Germanen und setzen ein Zeichen für wirklich gesamtdeutsche Verständigung und Völkerfreundschaft heute. In diesem Sinne fordern wir Richard von Weizsäcker und Sandro Pertini zur Übernahme der Schirmherrschaft auf.