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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1985 erschienen.

Das Marburger "Abenteuer" Fluchthilfe
JEDE ZEIT HAT IHRE HELDEN

"Deutsch-Stunde

Elf Schüler fliegen aus einer Marburger Privatschule. Warum? Weil die Jugendlichen ein Gefühl für Freiheit überkam.

Am Ende einer Gruppenreise durch die "DDR" versteckten sie einen Flüchtling im Bus und brachten ihn in den Westen.

Die Schüler haben unvorsichtig gehandelt. Und höchst ehrenwert.

Deutsch-Stunde? Ja. Die Schüler haben aus Idealismus gehandelt. Zählt dieses Motiv nichts mehr im deutschen Vaterland?" (Bild, 17.1.)

1. Bernd B.

der Flüchtling aus Erfurt, ist das Material dieser Deutschstunde. Was er davon hat, endlich die Segnungen der Freiheit zu genießen, erfährt man am Rande. Laut "FAZ" vom 18.1. - und hier kann man dieser Zeitung glauben - "weiß Bernd B. am allerwenigsten, was eigentlich gespielt wird". Ansonsten sucht er seit dem 21. Dezember 1984 Arbeit - womit sich ihm die westdeutsche Freiheit gleich als doppelter 'Vorteil' vorstellt: Erstens lernt er, daß man hierzulande sein Auskommen dann und nur dann hat, wenn man die Erlaubnis bekommt, sich zum nützlichen Idioten von Kapital oder/und Staat machen zu können. Zweitens wird er nicht als "Wirtschaftsasylant" wieder rausgeschmissen, weil er - und da kann er nichts dafür - statt aus der Türkei aus der DDR kommt. Auf letztere, d.h. auf deren Staatsgebiet samt menschlichem Inventar, erhebt nämlich die BRD einen Rechtsanspruch - und zwar seit 1949, als sich die BRD ins Grundgesetz geschrieben hat, daß ihre Freiheit zumindest bis an die Grenzen von 1937 grenzenlos zu sein hat. Von daher ist Bernd B. ein deutsch-nationales Politikum - er kommt in den Genuß, ein Beweismittel zu sein dafür, daß einzig die westliche Herrschaft - also die von Kohl - seine legitime Heimat sein darf.

2. Die Schüler

der Privatschule Steinmühle in Marbach, die den Erfurter "zur Flucht überredeten" (wie eine der Schülerinnen im "heute journal" extra betonte), sind die selbstbewußten Idioten des Spektakels. Ihre jeweiligen unterschiedlichen Motive - die nachträglichen Interpretationen reichen von "Abenteuerlust, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Spontaneität" über "gewisse persönliche (?!) Mißerfolge..., die häufig bei Klassenfahrten in Ostblockländer auftauchen..., die Marburger hatten bei Diskussionen mit FDJlern schlecht abgeschnitten" (FAZ), bis hin zur Gesinnungstäterschaft in Sachen Freiheit (in diesem Sinn äußerte sich eine Fluchthelferin im "heute-journal" des ZDF am 16.1.) - spielen dabei eine untergeordnete Rolle. "Unpolitische" Räuber- und-Gendarm-Mentalität oder nicht - man muß ja erst einmal auf die Idee kommen, einen wildfremden Menschen einfach in ein anderes Land schmuggeln zu wollen. Für wen (= welche Nationalität) gehen denn ansonsten rechtschaffene Möchtegern-James-Bonds das "Risiko" ein, sich des Straftatbestandes der "Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt" oder gar des "staatsfeindlichen Menschenhandels" (so die einschlägigen DDR-Gesetze) schuldig zu machen? Für den Genuß des "schönsten Augenblicks meines Lebens, einen Menschen so glücklich zu sehen wie Bernd, als wir im Westen waren" (zit. nach FAZ), muß man sich schon die westdeutsch-nationale Lesart der DDR als "Völkergefängnis", "Unrechtsregime" etc. zur Leitlinie des "spontanen Beschlusses" gemacht haben, Bernd B. zu seinem Recht auf Freiheit im Westen zu verhelfen. Man muß schon mit dem Bewußtsein als Mini- Beauftragte der Nation- West ins "Reich des Bösen" fahren und sich vor Ort den Beweis abholen wollen, daß die Nation-Ost heim ins Reich (der Freiheit) geholt gehört - sonst käme man wirklich nicht auf die Idee, sich als kleine Partisanen der Freiheit hinter den feindlichen Linien aufzuführen, die gleich einen lebendigen Beweis der kommunistischen 'Unfreiheit' mitbringen.

3. Die Schule

vertreten durch Lehrer und Leitung, konnte selbstverständlich einen Verstoß gegen die Schulordnung nicht ohne weiteres durchgehen lassen. Immerhin lag "eine Gefährdung der restlichen Schüler und der sie begleitenden Lehrer" vor. Und noch weit Schlimmeres erfuhr eine Gefährdung: "Die (eigentlich Nicht-Beteiligten) können vielleicht nie mehr in die DDR fahren." Und: "Sind jetzt noch Klassenfahrten in die DDR möglich?" Womöglich negative Auswirkungen auf den ganzen Polittourismus mit Schulkindern? Die Verantwortlichen fordern also die Fluchthelfer zunächst auf, freiwillig von der Schule abzugehen. Damit war ihrer Pflicht als Erzieher Genüge getan. Dann nahmen sie alle Disziplinarmaßnahmen wieder zurück und erwiesen so der politischen Heldentat ihrer Schüler und deren öffentlicher Feier ihre Reverenz. Im Gegensatz zum "Bild"-Gegeifere verhielten sie sich also pädagogisch und deutschlandpolitisch vorbildlich.

4. Des Volkes Stimme

meldete sich ob des "Trauerspiels um eine geglückte Fluchthilfe" (FAZ) ebenfalls zu Wort und war überwiegend empört über die Reaktion der Schule. Hier zwei Stimmen aus der "Oberhessischen Presse (OP)" vom 18.1.:

"Mich erschüttert, wie die Sache uon der Schule behandelt wird. Wie der Direktor, Herr Teichler, offensichtlich selbst zugegeben hat, sind die Schüler nicht genau auf die gefährliche Situation im Ostblock hingewiesen worden."

Also: Die eigentlichen Schuldigen sind die Lehrer, weil sie vorher nicht genügend gegen die DDR gehetzt, pardon: über sie aufgeklärt haben.

"Wo liegt der Unterschied zwischen einer Flucht aus einer faschistischen Diktatur und einer kommunistischen? Menschen helfen einem Landsmann zur Flucht in die Freiheit - und werden dafür in einem freien Land bestraft. Schüler beweisen, daß sie trotz schwerer Risiken den Mut haben, sich den Repressalien einer Diktatur zu widersetzen - und ein Lehrer erdreistet sich, diese Schüler nicht mehr unterrichten zu wollen. Ich glaube eine Regelüberprüfung dieser 'Pädagogen' durch den Verfassungsschutz wäre nicht unergiebig."

Also: Wer sich nicht am individuellen Kleinkrieg gegen den Kommunismus beteiligt, hat auch noch mehr Dreck am Stecken - so die konsequente nationale Logik. Und damit "wir" uns vor einer Diktatur schützen können, haben "wir" ja einen Stasi der Freiheit, der solche Nestbeschmutzer entfernt - auf geht's.

5. Die öffentliche Presse

von "Bild" über "FAZ" bis zum "heute-journal" liegt also daneben, wenn sie die nationalistisch besorgte Frage stellt, ob der "Idealismus im deutschen Vaterland noch zählt". Andererseits haben sie diese Frage aber schon längst positiv beantwortet, weshalb sie eine "Deutschstunde" verabreichen, die sich gewaschen hat:

Daß die DDR blamiert, geschädigt und bekämpft gehört, ist der von ihnen täglich produzierte Grundkonsens im deutschen Vaterland, bedarf also gar keines Beweises mehr.

So inszeniert dann ein Hans Scheicher im "heute-journal" einen klammheimlichen Aufruf zur privaten Partisanen-Wühltätigkeit im Osten, indem er bedauert, daß "die offiziellen Fluchtwege über unsere Botschaften drüben aus politischen Opportunitätserwägungen verbaut sind", und sodann über "Möglichkeiten" nachsinnt, wie man trotzdem die "Politik der menschlichen Erleichterungen fortsetzen" kann (dann folgte der Filmbericht über die Marburger Fluchthilfe-Aktion). Dabei weiß dieser Opportunist der Nation-West ganz genau, daß der staatliche Rechtsanspruch der BRD auf die DDR etwas völlig anderes ist, als "unseren Landsleuten" drüben "menschliche Erleichterungen" zu verschaffen. Aber das macht die Sache erst recht pikant: Wo von Seiten der Politik klargestellt wird, daß ihr Programm "Aufhebung der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt", also die Bestreitung der Souveränität eines ganzen Staatenblocks ohne einen Krieg, der in ihre Kompetenz fällt, nicht zu haben ist - da kann es nur nützlich sein, wenn sich hiesige Untertanen das nationale Anliegen zum ganz persönlichen Vor-Kriegsprogramm machen, da ist es wirklich scheißegal, welche Illusionen sie sich leisten.

Die "FAZ" kommentiert dazu kongenial:

"Drei Wochen nach dieser Enthüllung im Bus sind alle am Boden zerstört: Sie wissen nicht mehr, ob es gut oder böse war, was sie getan haben... Jemanden, der die Kinder am 20. Dezember spontan zur Brust und anschließend in die Arme genommen hätte, gibt es nicht. Was sollen sie sich darauf für einen Reim machen? Vielleicht diesen: Jede Zeit hat ihre Helden."