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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1985 erschienen.

Systematik

Vorkriegsdiplomatie in Genf
GESPRÄCHE ÜBER GESPRÄCHE

Mit großem Aufwand, vor allem an freiheitlich-demokratischen Jubelchören, ist Anfang Januar in Genf die "Wiederanknüpfung des Gesprächsfadens zwischen Ost und West" inszeniert worden.

'Verhandlungsboykott der Russen gebrochen!' hieß der Erfolg. Oder noch eindeutiger: 'Die amerikanische Härte hat sich ausgezahlt: Die Sowjets müssen Gespräche wiederaufnehmen, von denen sie sich nichts versprechen (können)!' Gleich anschließend wurden von derselben politischen Öffentlichkeit, vom US-Präsidenten bis hinunter zum westdeutschen Zeitungskommentator, Warnungen nachgeliefert, man solle das mit dem 'Erfolg' nur nicht zu wörtlich nehmen: Noch sei gar nicht ausgemacht, daß die sowjetische Seite planmäßig mitspielt.

Noch selten ist so ungeschminkt und offensiv der Maßstab propagiert worden, an dem der Freie Westen den Erfolg von Verhandlungen mit der Sowjetunion mißt: Die feindliche Seite hat eine Niederlage hinzunehmen - alles andere ist ein Fehlschlag, lohnt sich nicht und wirft die Frage auf, ob der Westen nicht "mal wieder" zu gutgläubig war mit seinem Verhandlungswillen. Unterstrichen wurde das Ganze durch den inneramerikanischen Nachtarock. Ein großes Debattieren und Interpretieren fing an, welche Gesprächsthemen überhaupt vereinbart worden seien und vor allem: welche nicht. Der Schein westlicher Nachgiebigkeit, insbesondere bei der geplanten "Weltraumrüstung", wurde mit Nachdruck "richtiggestellt", obwohl er gar nicht erst erweckt worden war. (Die Nachrichtenmagazine der Freien Welt waren damit wieder in ihrem Element: Sie konnten über "Machtkämpfe in der Umgebung des US-Präsidenten" spekulieren und dem demokratischen Intrigenspiel hinterherhecheln.)

Die sowjetische Öffentlichkeit hat eine etwas andersgeartete Skepsis an den Tag gelegt. Nach den ersten Erfolgsmeldungen, ihre Diplomatie hätte die verhandlungsunwilligen Amerikaner wieder an den Verhandlungstisch gebracht, hat sie angesichts der widersprüchlichen US-regierungsamtlichen Deutungen des Genfer Ergebnisses ihre Zweifel an einem ernsthaften Verhandlungswillen der USA um so nachdrücklicher erneuert: Reagan sei doch der alte Kommunistenfresser geblieben.

Das hat der Sowjetunion wiederum im Westen den interessanten Vorwurf eingetragen, ihr Verhandlungswille sei selber nicht ehrlich; sie wolle ja nur selber für sich Vorteile herausholen. Ganz unbefangen wurde da die sowjetische Glaubwürdigkeit nach ihrer mangelnden Bereitschaft be- und verurteilt, Nachteile zu schlucken und westlichen Aufrüstungsplänen mit der Verschrottung der eigenen Waffen zu begegnen. Solche als Skepsis und "Realismus" verkleidete Feindseligkeit in der Beurteilung der sowjetischen Absichten hat allerdings keinen offiziellen westlichen Interpreten des Genfer Ergebnisses davon abgehalten, nach Bedarf immer wieder auf die Erfolgsparole zurückzukommen: Alle Befürchtungen über eine "Eiszeit" zwischen Ost und West infolge der westlichen Aufrüstung wären widerlegt; die westliche "Entschlossenheit" hätte positive "Wirkung gezeigt".

Also doch immerhin: Entwarnung?

Der amerikanische Traum: eine Welt ohne sowjetische Atomwaffen

Das "Gesprächsangebot" der westlichen Seite an die Sowjetunion ist - das wissen alle Beteiligten - kein Angebot. Die NATO hat ja nicht einmal die kleinste Pause eingelegt beim Aufbau ihrer eurostrategischen "Gleichgewichts"-Atommacht, wie die sowjetische Regierung es als Voraussetzung für eigene Kompromißbereitschaft gefordert hatte. Und was der Westen jetzt als "Anreiz" für neue Verhandlungen zu "bieten" hat, ist eine neue, noch härtere Bedrohung: ein Aufrüstungsschritt von noch weiterreichender Bedeutung. Gemäß den Primitivismen demokratischer Weltbetrachtung heißt das neue Druckmittel "Star Wars"-Programm und besteht in dem Plan, zuverlässige Abfangwaffen gegen die interkontinentalen Atomraketen der Sowjetunion zu entwickeln und so bald wie möglich in Stellung zu bringen.

NATO-Politiker und linientreue Meinungsmacher haben dieses Projekt gleich mit den schönsten Ideologien umgeben. US-Verteidigungsminister Weinberger hat entdeckt, daß es sich da eigentliih gar nicht um eine Waffe handle, sondern im Gegenteil um ein 'Waffenvernichtungssystem' - wahrscheinlich ist ihm da gerade entfallen, daß er der Sowjetunion die Erprnbung eines angeblich ähnlichen Systems noch immer als ein neues Aufrüstungsverbrechen ankreidet. Sein deutscher Kollege Wörner agitiert noch entschiedener nach dem Motto: 'Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?!' Die gesamte "Nachrüstungs"-Debatte des Jahres 1983 hat er mit der Ideologie bestritten, gerade die furchtbare Wirkung der Atomwaffen verhindere deren Einsatz, und daher sei die atomare Vernichtungsdrohung die moralisch einwandfreieste Sorte Verteidigung, die der Herr Jesus sich nur je hätte wünschen können. Jetzt hört man von demselben Herrn, eine zuverlässige Abfangwaffe schaffe endlich die furchtbare moralische Last aus der Welt, dem Feind mit garantierter Totalvernichtung drohen zu "müssen", sei also ein entschiedener sittlicher Fortschritt. Und alle gemeinsam malen sie mit ihrem Führer Reagan an dem verheißungsvollen Idealbild einer "Welt ohne Atomwaffen".

Das strategische Ziel, das mit diesem pazifistischen Ideal angekündigt wird - und das den Russen so starken und so stolz vermeldeten Eindruck macht! -, ist etwas weniger selbstlos. Der "drastische Abbau der Atomwaffen" soll das Resultat ihrer Unwirksamkeit sein; und unwirksam sollen nicht die Atomwaffen werden, sondern die der Sowjetunion. Diesen Gegner für den Fäll jenes "letzten atomaren Duells", das nach derzeitiger Lage der Dinge die Früchte des schönsten Sieges zunichte machen würde, zu entwaffnen; auf diese Weise die gesamte feindliche Atomrüstung im Hinblick auf diese letzte Entscheidung "in einen gigantischen Schrotthaufen zu verwandeln" so unverschämt fröhlich Springers "Welt" -; darum geht es dem Westen bei seinem Projekt einer zuverlässigen Raketen-Abfangwaffe.

Um die Erfolgsaussichten dieses Plans richtig einzuschätzen, darf man es nicht an hoffnungsfrohen Übertreibungen messen, und schon gar nicht im Stil demokratischer Nachrichtenmagazine am Ideal vollkommener Sicherheit für die Insassen des NATO-Geländes. Reagans Wunderwaffe soll dem Freien Westen die Sicherheit schaffen, daß er die eigenen Atomwaffen im Bedarfsfall rücksichtslos einsetzen kann, ohne einen gleichartigen Gegenschlag hinnehmen zu müssen. Dafür ist es durchaus nicht erforderlich, daß unter Garantie keine einzige sowjetische Rakete "durchkommt". Wenn Krieg geplant wird, werden Opfer eingeplant, auch auf der eigenen Seite; alles andere ist Humanitätsduselei und würde von einer abgebrühten demokratischen Öffentlichkeit nie und nimmer im Ernst geglaubt. Das geplante System muß einen für entscheidend erachteten Teil anfliegender feindlicher Raketen abfangen können: Damit eröffnet es der NATO die freie "Option", dem Feind den atomaren "Schlagabtausch" auf höchster Stufe "anzubieten". Und darum geht es: nicht um eine bessere Verhinderung des Atomkriegs, sondern um das freiheitliche Monopol des Westens auf seine erfolgversprechende Durchführung.

Die sowjetische Warnung: Kein Friede ohne Sicherheit für die Sowjetunion

Der Besitz dieses Monopols wäre gleichbedeutend damit, die Sowjetunion aus dem weltpolitischen Status einer "Super"Atommacht herauszuboxen und ihr, von Polen bis Sachalin, von Sacharow bis zur Kuba-HiIfe und von der Planwirtschaft bis zum Verrechnungsrubel, sämtliche politischen Interessen zu bestreiten; denn die werden derzeit allein durch ihre atomare Streitmacht für den Westen respektabel. Ein solcher Sieg der Freiheit ist folglich für die Sowjetunion untragbar und der Grund, den dieser Staat für einen Atomkrieg hat. Und weil die SU einen solchen Krieg bislang noch nach allen Regeln der Kunst führen kann, hat der US-Außenminister Shultz sich überhaupt mit Gromyko in Genf getroffen und Gespräch e über Stand und Planung der atomaren Aufrüstung vereinbart.

Das Interesse der Sowjetunion an solchen Verhandlungen ist klar genug: in der Genugtuung westlicher Propagandisien über ihre "Nachgiebigkeit" taucht das sogar noch auf. Sie will vom Westen in aller Form politisch anerkannt und festgelegt haben, daß die laufende NATO-Aufrüstung die Sicherheit der Sowjetunion entscheidend in Frage stellen müßte, daß die Sowjetunion das nicht hinnehmen kann und daß deswegen die NATO-Mächte sich beim Aufrüsten entsprechend zurückhalten. Ihr ist an Vereinbarungen im Sinne der SALT-Verträge gelegen, die eine solche Rücksichtnahme auf elementare sowjetische Sicherheitsinteressen wenigstens auf Zeit zugesichert haben. Da der Westen wieder einmal mit einem Waffensystem droht, das er noch gar nicht besitzt, hat die sowjetische Seite auf Gesprächen über alle Bereiche strategischer Rüstung bestanden, um vor allem das amerikanische "Star Wars"-Programm durch eigene Zugeständnisse bei schon vorhandenen Waffen in derartige Abkommen einbinden zu können.

Der "Preis", den die Sowjetunion dafür zahlen will, besteht allerdings nicht in einer Selbstentwaffnung, wie das Idealbild von der "Welt ohne Atomwaffen" es ausmalt: Die vereinbarten Gespräche daran zu messen, ist nicht einfach "zu optimistisch", sondern eine unbekümmerte Parteilichkeit für das westliche Streben nach militärischer Überlegenheit. Das "Argument", mit dem die Sowjetunion die USA zu Verhandlungen gebracht hat, bestand und besteht in der oft und überzeugend genug wiederholten Beteuerung, die Rote Armee sei entschlossen und durchaus in der Lage, eine strategische Überlegenheit der amerikanischen Atommacht in der "letzten Instanz" zu verhindern - fürs Erste durch vermehrte eigene Rüstung. Das einzige sowjetische "Argument " in den geplanten Gesprächen kann folglich nur in der Drohung bestehen, sie abzubrechen, wenn absehbarerweise kein Vertrag zustandezubringen ist, zur militärischen Drohung zurückzukehren und notfalls ein ganz undiplomatisches gewaltsames Veto einzulegen.

Vorkriegsdiplomatie West: Verhandeln, um Verhandlungsergebnisse zu vermeiden

Die USA haben sich entschlossen, dem sowjetischen Ansinnen entgegenzukommen und Gesprächsbereitschaft zu zeigen allerdings ohne auch nur einen Millimeter von ihrem Willen zur Überlegenheit im atomaren "Duell" abzurücken. Ein Regierungsmitglied nach dem andern, der Präsident selbst am nachdrücklichsten, erklärt, daß die Raketenabfangwaffe zwar Gesprächsthema, aber kein Verhandlungsgegenstand werden könne. Und mit der Durchführung der Gespräche hat der US-Präsident Leute beauftragt, die jede Gewähr dafür bieten, daß sie sich jederzeit dieser freiheitlich-demokratischen Unterscheidung zwischen Sprechen und Verhandeln bewußt sind.

Die gleiche Klarstellung ist in der westlichen Debatte über mögliche Verhandlungsziele und wünschbare Ergebnisse enthalten. Da werden gar keine bestimmten Verhandlungsgegenstände benannt und realistische Maximalergebnisse für einen Kompromiß formuliert - dann problematisiert, neu formuliert usw. - Stattdessen wird auf der einen Seite das verräterische Ideal der "Abschaffung der Atomwaffen" breitgetreten, auf der anderen Seite ganz methodisch die Bereitschaft beteuert, durchaus und überhaupt zu verhandeln, und zwar "ernsthaft" und "mit dem festen Willen, zu Ergebnissen zu gelangen".

Mißt man solche Einlassungen an dem Ziel, ein "Rüstungsbegrenzungsabkommen" zu schließen, so drängt sich tatsächlich der Verdacht auf, den eine durchblickende demokratische Öffentlichkeit mit großem Vergnügen durchhechelt: daß es in der US-Regierung Leute geben muß, die die Gespräche sabotieren wollen. Ohne solchen interessierten Idealismus betrachtet, sieht das westliche Verhandlungsinteresse weit weniger verschwörungsmäßig aus. Offenbar geht es der NATO von vornherein nicht um ein - und sei es noch so vorteilhaftes - Abkommen. Ihre Absicht ist "methodischer" Natur: Es soll überhaupt verhandelt werden. Denn solange und indem sie verhandelt, nimmt die Sowjetunion es friedfertig hin, daß die USA derweil die entscheidenden Instrumente für eine entscheidende Atomkriegsüberlegenheit entwickeln. Für einen Aufrüstungsschritt, von dem der Westen weiß, daß er für die Sowjetunion der Kriegsgrund ist, bietet eine praktizierte sowjetische Verhandlungsbereitschaft ein Stück diplomatischer Sicherheit. So setzen die NATO-Unterhändler das schöne SPD-Motto "Verhandeln ist besser als Schießen" sachgerecht in die Tat um.

Gewiß müssen dafür in irgendeiner Gesprächsphase auch "ernsthafte" westliche "Angebote" sein - eben für den erklärten Zweck, die sowjetischen Diplomaten "am Verhandlungstisch festzuhalten". An einem "gerechten Ergebnis" liegt dem Westen nichts; schon gar nicht an einem Vertrag, der seinem Bemühen um den strategischen "Durchbruch" womöglich doch die Spitze abbricht. Wenn immerzu und ohne Resultat verhandelt wird, dann haben die Verhandlungen für den Westen gerade ihren Zweck erfüllt.

Vorkriegsdiplomatie Ost: Verhandeln, um zu warnen

Dieses methodische Verhandlungsziel des Westens ist mit dem sowjetischen Interesse an Ergebnissen schlechterdings unvereinbar. Das wissen die NATO-Mächte sowieso; ihnen geht es ja darum, Zeit zu gewinnen für die Verwirklichung ihres glorreichen Verteidigungsprojekts -, weshalb auch dessen Unterbrechung und Aufschub für die Zeit der Gespräche, das von Gromyko verlangte "Moratorium", nicht in Frage kommt. Die Sowjetunion kann sich allerdings über die Feindseligkeit der westlichen Gesprächsbereitschaft ebensowenig im Unklaren sein; letzte Zweifel, so vorhanden, hätte der Washingtoner Nachtarock und die Zurückweisung ihrer Moratoriumsforderung beseitigt. Sie ist mit Verhandlungen von genau der Machart wie diejenigen konfrontiert, die sie vor 14 Monaten in Genf abgebrochen hat, weil es dem Westen auch damals nicht um Kompromisse, sondern um eine die westeuropäische "Nachrüstung" begleitende Kompromißbereitschaft der Sowjetunion ging.

Wenn sie sich dennoch für derartige Gespräche hergibt, dann will die sowjetische Regierung selber im Ernst nur noch etwas reichlich Abgeleitetes und Methodisches: Sie will sich nichts vorwerfen lassen; und vor allem will sie sich nicht vorwerfen müssen, sie hätte irgendetwas versäumt, um den Westen doch noch von einem Vorhaben abzubringen, das für sie die Qualität des Atomkriegsgrundes besitzt. Im Abbruch der Verhandlungen meint sie über ein Mittel zu verfügen, um eine Art letzter diplomatischer Warnung glaubwürdig zu machen.