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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1985 erschienen.

Systematik


VOLKSPOLEN - EIN SEHR NATIONALER KOMMUNISMUS

Polen nennt sich ein in Mitteleuropa ansässiger Menschenschlag, dessen lokale Staatsgewalten den Machtmitteln ihrer Nachbarn nie gewachsen waren. Von seinen Nachbarstaaten wurde Polen deshalb immer abwechselnd, je nach dem Stand von deren Konkurrenz, als Teilungsmasse oder Durchmarschgebiet, Streitgegenstand, Bündnispartner oder Hilfstruppe, cordon sanitaire oder europäisches Glacis behandelt. Zur Zeit liegt es zwischen Curzon- und Oder-Neiße-Linie, aber "Schlesien bleibt unser".

Dem schlechten Abschneiden polnischer Staatsgewalten in der Staatenkonkurrenz und dem mehrmaligen Besitzerwechsel verdanken die dort Ansässigen ihren besonders hartnäckigen Glauben daran, daß das Menschsein überhaupt erst mit einer garantiert eigenen Staatsgewalt losgeht. Und im Ausland haben sie sich aus denselben Gründen den Ruf einer edlen und freiheitsdurstigen Rasse erworben. Die Fülle von Komplimenten, die sich eine Nation von anderen Nationalisten einfängt, verhält sich proportional zu den Interessen, die an ihr exekutiert werden. Internationale Anteilnahme ist also kein Glück, sondern ein Pech - festzustellen auch und gerade am letzten Höhepunkt der Polen-Liebe, als sich der amtierende US-Präsident darüber hat aufklären lassen, daß die Jungs mit den zungenbrecherischen Namen nicht nur in Pittsburgh und Chicago, sondern auch mitten im Ostblock wohnen und von ihm befreit werden möchten.

Die US-Polen-Show und die Freikorps- und 'Mourir pour Danzig'-Stimmung, die im Westen bis in seriöse Blätter hinein gepflegt wurde, sind zwar wieder vergangen, ebenso wie das Wohltätigkeitsbedürfnis nach Afrika abgedreht hat. Geblieben ist aber die wie Afghanistan zur Parole verfestigte und beliebig abrufbare Auffassung, daß dort ein unglückliches Volk von einer kommunistischen Gewaltherrschaft unterdrückt wird. Diese rührselige Anteilnahme paßt zwar gut zur jahrhundertelangen "Tragödie" Polens und zu den heutigen weltpolitischen Fronten. Sehr zutreffend ist sie aber nicht, wie jeder an dem mittlerweile aus Polen überreichlich gelieferten Nachrichtenmaterial überprüfen kann.

Die Machtverhältnisse in Polen - eine heiße Frage

Die Macht wird in Polen keineswegs, wie es sich nach dem Lehrbuch des Antikommunismus gehört, von einer kommunistischen Partei ausgeübt. Sondern vom Inbegriff eines Generals und einem von ihm aufgemachten Parteienbündnis, in dem sich die ursprüngliche kommunistische Partei mit früher einmal von ihr beibehaltenen Parteien und von ihr selbst gegründeten, demonstrativ nicht-sozialistischen Vereinen auf den Zweck Polen verpflichtet - jenseits aller weltanschaulichen Differenzen, wie sie ständig versichert. Dieser Verein übt die Macht im engeren Sinn aus, die Führung des Staatsapparats.

Die Macht über den Geist des Volkes liegt, ganz im Gegensatz zum Lehrbuch des Marxismus-Leninismus, auf seiten der Kirche und der unter ihren Schößen versammelten Opposition. Dürften sie, würden sich die Polen mehrheitlich für Lech Walesa oder andere von den Bischöfen designierte Repräsentanten entscheiden. Nachdem aber auf diese Weise nur in Sozialkundebüchern und nirgendwo wirklich über die Macht entschieden wird, drückt das Volk diesen seinen Geschmack nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus.

Die Macht über die ökonomischen Grundlagen, hier wiederum im Gegensatz zu sämtlichen Lehrbüchern, wird von einer dritten Instanz ausgeübt. Die Regierung erstellt zwar nach wie vor Pläne. Was daraus wird, entscheidet der sogenannte Weltmarkt; die Bedürfnisse westlichen Kapitals betimmen, wieviel polnische Güter zu welchen Schleuderpreisen er aufnehmen mag, und westliche Staaten mit ihren Banken befinden über die polnische Zahlungs(un)fähigkeit. Die zweite und begehrteste Landeswährung ist der Dollar; für den produziert die verstaatlichte Industrie, so sie nur kann, und auch jeder Pole kümmert sich um Dollarerwerbsquellen. Auf einen bloßen Zloty-Lohn angewiesen, gehört man in Polen unweigerlich zur neuen Armut.

Viertens schließlich ist die Sowjetunion noch in der Form an Polen beteiligt, daß sie auf Bündnistreue besteht. Mehr als die kriegsrechtsmäßige und jetzt wieder zivil abgesicherte Zusage, daß Polen im Warschauer Pakt und RGW verbleibt, hat das allerdings nicht zu bedeuten. Aber das ist der Sowjetunion massive und auf unabsehbare Zeit erforderliche Zuschüsse wert.

Zu dieser merkwürdigen Gewaltenteilung hat der neuzeitliche Streit um Polen geführt und im Inneren der notorischen polnischen Vaterlandsliebe wieder einmal einen kräftigen Aufschwung verschafft. Dort scheint man überhaupt nur noch die Argumente "Polen" und "Nation" zu kennen. Und das nach 40 Jahren Zugehörigkeit zum realen Sozialismus, allerdings zu einem, der sich selbst immer schon als der allerbeste Nationalismus verstanden hat.

Drei faule historische Kompromisse...

...mit dem Nationalismus...

Daß revolutionäre Arbeiter kein Vaterland haben, daß sich mit der Gegnerschaft zum Kapital auch alle Illusionen über die Nützlichkeit von dessen nationaler Herrschaft für Arbeiterinteressen erledigen - dieser Gedanke war zu Zeiten der Entstehung des Ostblocks den kommunistischen Parteien schon ziemlich fremd. Patriotismus hielten sie vielmehr für eine vorbildliche und berechtigte Einstellung. Dann nämlich, wenn sie einem Staat gilt, der sich "wirklich" und "zutiefst" auf die Interessen seines Volkes verpflichtet, indem er die Ökonomie den "wenigen" entzieht und zum Nutzen aller kommandiert. Für Idealisten einer volksfreundlichen Herrschaft ist daher die Verhimmelung der Herrschaft in Gestalt eines fiktiven historischen Subjekts, als Nation, gar nicht anstößig. Und genauso wenig die Weiterungen, daß eine Nation Rechte hat auf eine Größe und Stellung in der Welt, und daß sich daraus lauter Pflichten für deren Mitglieder ergeben: Gerade weil sich das, nach ihrer Auffassung, für die Massen lohnen soll. Es ist keine Taktik, wenn die durch die Rote Armee ins Amt gesetzten polnischen Kommunisten von Beginn an als die besten Sachwalter polnischer Interessen auftraten. Die Taktik beginnt erst dort, wo sie - mit einem alternativen, antikommunistischen Nationalismus konfrontiert - ihr realsozialistisches Aufbauprogramm daran akkomodieren.

"Der Grundfehler der Kommunisten war, daß sie zwar die soziale Befreiung der arbeitenden Massen völlig richtig einschätzten, der Frage der nationalen Unabhängigkeit aber nicht genug Beachtung schenkten." (Gomulka 1946)

"Ein besonderer Zug, der sich im polnischen Volk im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung infolge der langanhaltenden ausländischen Unterdrückung und Freiheitsberaubung herausgebildet hat, ist die besondere Empfindlichkeit des polnischen Volks in Fragen der Unabhängigkeit und Souveränität seines Landes. Die Unterschätzung oder Leugnung nationaler Züge und Besonderheiten beim Aufbau des Sozialismus ist nihilistischer Dogmatismus." (Gomulka 1957)

So funktioniert der realsozialistische Opportunismus: Wenn jemand laufend dafür plädiert, was man alles beachten müsse, dann geht es ihm nicht um die Kritik des falschen Bewußtseins, sondern um die Berücksichtigung und Benützung des vorhandenen Nationalismus. Dieser Logik gemäß darf und soll das Volk sein Vaterland anhimmeln, wenn es dann noch die sozialistischen Errungenschaften lieben lernt, liegt es schon richtig.

Seitdem präsentieren sich polnische Kommunisten als erstes immer mit ihren Verdiensten um die polnische Souveränität, mit der Wiedergewinnung der Oder-Neiße-Gebiete. (Siehe auch Anhang "Nationalkommunistische Interpretationskünste") Egal welche Fraktion oder Generation, Stalinisten oder Revisionisten, Bierut, Gomulka oder Jaruzelski: Die "Wiedergewinnung der Oder-Neiße-Gebiete" figuriert bei jeder Aufzählung der sozialistischen Errungenschaften an erster Stelle. Was die verehrten Werktätigen davon haben sollen, ob das Proletariat nicht, wurscht in welcher Heimat, eine Revolution nötig hätte, ist da keine Frage.

...mit der Kirche...

Zweitens fanden sich die polnischen Kommunisten einem Volk gegenüber, das nicht nur mehrheitlich katholisch war, sondern darin seinen Nationalismus pflegte. Das Untertanenbedürfnis, die Zumutungen, die man im irdischen Leben über sich ergehen lassen muß, durch einen höheren Sinn erträglich zu machen, sich die eigene Unterwerfung als frei gewählte Fügüng in den Willen Gottes zurechtzudenken, hatte in Polen immerzu noch besonderen Auftrieb erhalten. Die wechselnden, fremden Souveräne erlaubten es dem Untertanengeist nicht, sich mit der Herrschaft eins fühlen zu können und das normale staatsbürgerliche Vertrauensverhältnis herzustellen. In dem Maße geriet das Kirchen- und Glaubensleben zur Ausübung nationaler Harmonie und rein nationaler Lebensbestimmung, die Kirche zur Repräsentanz der "wahren Nation" und - zumindest ideellen - Opposition gegen die weltlichen Mächte. Und die Jungfrau Maria wurde zur "Königin Polens" ernannt, weil die wirklichen Könige keine polnischen waren. Mit diesem Glaubensfanatismus hatten sich die polnischen Kommunisten herumzuschlagen - peinlicherweise ohne über die dazu geeigneten Mittel zu verfügen.

Vielmehr hatten sie aus Moskau eine andere Weltanschauung mitgebracht, verfügten also von Haus aus nicht über Argumente gegen den Unsinn, sich mit einer troststiftenden Interpretation der Welt in deren Gang zu fügen. Zweitens läßt sich eine Weltanschauung gegen eine andere naturgemäß nicht mit Einsichten und Argumenten durchsetzen: Die Entscheidung, ob man an Gott oder die dialektische Bewegung der Materie glauben will, läßt sich mit schlüssigen Beweisen für das eine oder das andere nun einmal nicht erledigen. Angesichts dieser Front bleibt nur die Alternative, die Betätigung der einen Weltanschauung mit staatlichen Gewaltmitteln zu unterbinden und die Verbreitung der eigenen in Schulen und Öffentlichkeit zur Verpflichtung zu machen.

Dieses Unternehmen ist in Polen nicht deshalb gescheitert, weil die heilige Dreifaltigkeit für Kinderköpfe per se begreiflicher wäre als der Lehrsatz, daß die Geschichte eine von Klassenkämpfen ist. Vielmehr gestattete der kommunistische Angriff auf die gewohnte Weltanschauung der Massen der Kirche, ihre Offensive gegen die atheistische Staatsführung mit dem den Polen vertrauten Urteil einer fremden und daher schlechten Gewalt auszustatten. Die Kirche stellte ihrerseits die Machtfrage, die Priester verweigerten grundsätzlich den Treueeid auf den Staat und wiegelten die Bauern gegen die Kollektivierung auf - und die Kommunisten schlossen ihren zweiten faulen Kompromiß:

"Die Partei kann nicht über die Tatsache hinweggehen, daß der frühere Konflikt mit der Kirche Millionen von Gläubigen gegen die Volksregierung eingenommen hat." (Gomulka 1957)

Mit dem 'nicht darüber hinweggehen' war wieder einmal eine praktische Konzession gemeint, ein Schacher mit der Kirche. Ihr wird ein Freiraum zugestanden, damit sie umgekehrt darauf verzichtet, ihre Schäfchen direkt gegen den Staat aufzuhetzen. Den Schacher haben alle polnischen Regierungen immer wieder zum Nutzen und Machtgewinn der Kirche erneuert, weil bei dieser Konkurrenz um die moralische Autorität im Staat nun einmal keine geregelte Arbeitsteilung herauskommen kann. Und dabei haben sich ironischerweise die Kommunisten immer mehr "liberalisiert". Probiert haben sie immer beides: Sie haben einerseits versucht, das Wirken der Kirche mit polizeilichen Maßnahmen oder Zensurbestimmungen zu beschränken. Andererseits aber haben sie ebensogut versucht, mit Toleranz die Kirche für den nützlichen Dienst zu gewinnen, ihre Gläubigen zur Pflichterfüllung anzuhalten. Das letzte ist den Parteileuten jedoch zunehmend weniger als fauler Kompromiß erschienen, weil sie immerzu darauf angewiesen blieben. Kommunisten dieser Machart ist die Christenmoral - sieht man "nur" einmal von den höheren Glaubenssätzen ab - gar nicht unsympathisch: Gegen Anstand, Pflichterfüllung und den ganzen Tugendkatalog haben sie nicht das geringste einzuwenden. Schließlich haben sie ja selbst ihren ML als einen ebenso hochanständigen wie wertetriefenden Humanismus angepriesen. Ob christlich oder sozialistisch: Bei der Staatsbürgermoral kommen letztlich ziemlich dieselben "Werte" raus.

Und je länger sie diese Konkurrenz probiert und nicht gewonnen haben, desto mehr kamen sie auf die Frage, ob sie denn überhaupt nötig sei. Das Trostlose am polnischen Weltanschauungsstreit besteht darin, daß ausgerechnet die kommunistische Seite jeden Begriff davon verloren hat, was eigentlich den Gegensatz zwischen Gottesglauben und Sozialismus ausmacht. Im Resultat fordern sie die Kirche bloß noch dazu auf, doch bitte die staatliche Ordnung zu respektieren - und das auch noch regelmäßig mit Berufung auf deren christliche Ideale!

Was die erste Generation der Partei dazu bewogen hatte, den Kompromiß einzugehen, war unter anderem auch die Einschätzung, der Gegensatz ließe sich auf andere Weise regeln. Die Gomulka-Mannschaft glaubte, sich diese Berücksichtigung der "nationalen Empfindlichkeit" leisten und damit überflüssigen Ärger sparen zu können, weil die übrigen sozialistischen Errungenschaften das Volk schon praktisch von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugen und der Kirche entfremden würden. Daß das Bedürfnis nach Trost in einem Jenseitsglauben sich erübrigt und abstirbt, wenn die diesseitigen Sorgen entfallen, weil materieller Wohlstand ausbricht - diese Berechnung ist nicht falsch. Sie ist nur deshalb nicht aufgegangen, weil sich der materielle Wohlstand nicht einfach eingestellt hat.

...mit dem Privateigentum

Nicht zuletzt deshalb, weil der polnische Sozialismus einen dritten faulen Kompromiß geschlossen hat - mit dem Privateigentum auf dem Land. Nach der anfänglichen Enteignung von Großgrundbesitz und Kirchengütern und der Landverteilung an Kleinbauern, Landarbeiter und aus den polnischen Ostgebieten ausgesiedelte Bauern verteidigten die neuen Besitzer das Recht, sich auf der eigenen Scholle abarbeiten zu müssen, verbittert und mit Unterstützung der Pfaffen gegen die Kollektivierungspläne der Regierung. Die Folge, der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und vor allem der Ablieferungen an den Staat, führte zum ersten Arbeiteraufstand. 1956 revoltierten Posener Arbeiter mit den seitdem klassischen Parolen "Brot" und "Russen raus" gegen die ungenügende Versorgung. Gleichzeitig entdeckten Intellektuellenkreise, wie furchtbar ihr ganz besonderer polnischer Geschmack durch den vorgeschriebenen "sozialistischen Realismus" in der Kunst unterdrückt wird, und stänkerten gegen das russische Joch und für freien Unsinn. Als schließlich auch noch in der polnischen Armee, die den Posener Aufstand militärisch niedergeschlagen hatte, Unmut darüber aufkam, daß "Polen auf Polen schießen" mußten - Russen wären ihnen wohl lieber gewesen -, entschloß sich die Partei zur ersten großangelegten "Versöhnungs"-Aktion mit ihrem Volk: Gomulka, vorher wegen 'rechtsabweichlerischem Nationalismus' aus dem Verkehr gezogen, wurde als nationale Symbolfigur an die Spitze der Partei berufen, ein Toleranzabkommen mit der Kirche geschlossen, und schließlich wurde die Kollektivierung auf dem Land sofort storniert, d.h. praktisch aufgegeben.

Seitdem beruht der polnische Sozialismus auf einer Landwirtschaft, in der nur 20 Prozent des Bodens von Staatsgütern oder Genossenschaften und 80 Prozent privat bewirtschaftet werden. Im Durchschnitt nennen die Privatbauern nicht mehr als 4 Hektar teure Scholle ihr eigen - und bilden damit mitten in einem realen Sozialismus ein Subversionsinstrument, wie es sich CIA und Vatikan gemeinsam nicht besser hätten ausdenken können. Zum einen stellen sie mit ihrem bornierten bodenständigen Bewußtsein und ihrem Mißtrauen gegen jede von oben empfohlene Änderung eine solide Basis für die staatsfeindliche Agitation der Kirche. Zum anderen eignet sich ihr Besitz wegen seiner lächerlich geringen Größe nicht für rationelle Bebauungsmethoden und behindert daher - zusammen mit dem Eigensinn seiner Besitzer - ziemlich erfolgreich die staatlichen Versuche, die Landwirtschaft in den Plan einzubauen und für dessen Absichten produktiv zu machen.

Nachdem der Klassenkampf auf dem Land abgesagt war, hat die PVAP versucht, die Bauern für ihr sozialistisches Aufbauwerk einzuspannen mit den einzigen zu Gebote stehenden Methoden, ein widerspenstiges Privatinteresse verfügbar zu machen: mit Erpressung und Angeboten. Das erste führt zu weiterer Verbitterung und vermindert die Ablieferungen an den Staat, das zweite kommt ihn teuer zu stehen.

Düngemittel, Saatgut und andere Produktionsmittel können nur vom Staat bezogen werden, dafür sollen die Bauern ihre Produkte abliefern, andernfalls verweigern die staatlichen Stellen die Zuteilung. Auf der anderen Seite sollen die staatlichen Aufkaufpreise die Produktion zum Nutzen des Plans attraktiv machen. Die für die Versorgung der übrigen Bevölkerung wichtigen Produkte unterlagen anfangs einer Abgabepflicht, später einem staatlichen Aufkaufmonopol. Die für weniger wichtig erachteten dürfen die Bauern auf freien Märkten zu ihnen genehmen Preisen verscheuern. D.h., sie haben die Freiheit, anhand der staatlich gebotenen Preise und der Preise auf den freien Märkten zu kalkulieren, was sich für sie lohnt, und sich auf Kosten der übrigen Bevölkerung zu bereichern. Sie produzieren nicht einfach das, was gebraucht wird, in den erforderlichen Mengen, sondern kalkulieren und garantieren damit dauerhafte Unregelmäßigkeiten in der Versorgung mit Lebensmitteln. Sie haben auch die Freiheit, die staatlichen Angebote auszuschlagen und stattdessen mit einer halben Subsistenzwirtschaft, Erträgen auf den freien Märkten und Schwarzkäufen vor sich hinzuvegetieren. Polnische Kleinbauern werden auch von keinem Rentabilitätsmaßstab aus dem Markt geworfen und existenzunfähig gemacht - der Sozialismus garantiert ihnen ein langes zähes Leben. Sie haben auch die Freiheit, ihr Land brach liegen zu lassen oder nur partiell zu bebauen und in der Industrie arbeiten zu gehen. Jedenfalls resultiert aus den Alternativen keineswegs der von der PVAP erhoffte freiwillige Übergang zu Kollektiven oder Genossenschaften.

Um von seinem Bauernstand mehr Lebensmittel zu erhalten, muß der Staat also die Aufkaufpreise entsprechend hoch ansetzen, ohne daß damit auch schon überreichlich geliefert würde; das verhindern die durch die geringe Größe des bäuerlichen Eigentums bedingten Schranken für eine Produktivitätssteigerung. Auf der anderen Seite sollen Industrieproletariat und Restbevölkerung nicht nur ausreichend, sondern auch zu erschwinglichen Preisen mit Lebensmitteln versorgt werden - ein äußerst lebendiger Widerspruch, den die Wirtschaftsplaner gewohnheitsmäßig so regeln, daß die Aufkaufpreise durch staatliche Zuschüsse für die Konsumenten gesenkt werden, sich also als dauerhaftes Minus im Staatshaushalt bemerkbar machen.

Eine sehr dialektische Einheit von Sozialismus und Nationalismus

Mit den drei Kompromissen sind alle Bedingungen für die chronischen polnischen Krisen gegeben: eine unproduktive Landwirtschaft, die Schwierigkeiten mit der Lebensmittelversorgung garantiert, zumal dann, wenn sie auch noch für Exportgewinne sorgen soll; eine Kirche, die der Herrschaft ihre nationale Legitimation und damit auch das Recht bestreitet, von den Bürgern Gehorsam zu verlangen; ein Proletariat, das in seinem Nationalismus von der Partei nie kritisiert, sondern immerzu bestärkt worden ist, das aber auch der realsozialistischen Erziehung gewisse Überzeugungen entnommen hat: nämlich das Recht, für ehrliche Arbeit einen ehrlichen Lohn zu erhalten, das Recht, die Regierung mit ihrer Verpflichtung auf ihr Volk beim Wort zu nehmen, und den Stolz, als fleißige Arbeiter das Ihre zum Aufstieg der Nation beigetragen zu haben. Bei Bedarf, wenn nämlich Unzufriedenheit aufkommt, werden sämtliche Überzeugungen schöpferisch miteinander vereint: Die Regierung hat versagt, weil sie fremden, sowjetischen anstatt polnischen Interessen dient. Und diesem Befund entnehmen polnische Arbeiter das Recht zum Aufstand.

Daß im Erscheinungsbild des heutigen Polen kaum Anzeichen von realem Sozialismus zu entdecken sind, daß in der Öffentlichkeit ausschließlich vaterländische und klerikale Parolen zirkulieren, daß in Wissenschaft und Kunst jede westliche Idiotie gedeiht, und das fast noch besser als hierzulande, daß das Wort Kommunist schließlich schon fast so gut wie ein Schimpfwort klingt, das alles ist das Resultat der Parteilinie, "man darf nicht über... hinweggehen". Der Nationalismus der Partei hat immerzu versucht, sich mit dem Nationalismus des Volkes ins Einvernehmen zu setzen. Er hat sich dabei peinlicherweise immer daran blamiert, daß der versprochene materielle Erfolg ausgeblieben ist. Darüber sind aber weder Partei noch Volk klüger geworden: Niemand hat es für nötig befunden, sich nach den Gründen der ökonomischen Mißerfolge zu erkundigen und damit die Politik zu kritisieren. Ganz im Gegenteil, beide Parteien haben sich immer mehr auf die ideelle Seite verlegt: Die PVAP ist mittlerweile ganz in einem Bündnis zur Rettung des Vaterlands aufgegangen, und das Volk, soweit es nicht mit der Bewältigung seiner Lebensnotwendigkeiten ausgelastet ist, tut sich darin Genüge, seinen enttäuschten Nationalismus heraushängen zu lassen.

Allerdings hat zu dieser Frontbereinigung der Westen entschieden beigetragen - mit einem ökonomischen Hebel, dessen Wirkungsweise in Polen niemand zur Kenntnis nehmen will. Die Partei sah und sieht darin nämlich immer noch einen Hebel für ihre Absichten.

Ein nationaler Aufschwung zur zehntgrößten Industrienation

Sozialistischer Aufbau - das Recht einer benachteiligten Nation

Für das Aufbauwerk hat sich die PVAP an die Arbeiter gehalten. Mit den bekannten Widersprüchen der realsozialistischen Planung, aber eben auch mit dem dadurch bewerkstelligten beständigen Wachstum ist Polen zum Industriestaat geworden.

"In der Produktion von solchen Erzeugnissen wie energetische Rohstoffe, Schwefelsäure und Zink ist in Polen ein höheres Niveau je Einwohner als in der BRD, Frankreich, Großbritannien und Italien erzielt, und in der Produktion von Stahl und Zement sowie in der Leichtindustrie sind 80% dieses Niveaus erreicht worden.

...Polen zählt zu Spitzenproduzenten von Elektrolytkupfer. Eine gute Stelle hat Polen in der Produktion von Werkzeugmaschinen, energetischen Anlagen und Kunstfasern. In der Produktion von Güterwagen nimmt Polen den 4. Platz, in der Produktion von Bau- und Straßenmaschinen den 8. Platz, in der Produktion von Lastkraftwagen den 10. Platz und in der Produktion von Hochseeschiffen den 11. Platz in der Welt ein..." (Eine Erfolgsbilanz von 1976)

Bei der Tour, wie die Partei ihrer Arbeiterklasse die Vorzüge des Sozialismus zu erklären pflegte, als Überwindung einer polnischen Rückständigkeit und Eroberung einer der Nation gebührenden Position in den Weltranglisten, ist aber auch die sie vorantreibende Unzufriedenheit herauszuhören. Gomulka, 1962:

"Genossen! Die ältere Generation erinnert sich noch an das frühere, bürgerliche Polen - ein armes, wirtschaftlich und kulturell rückständiges, ein praktisch wehrloses (!) Land. Das heutige sozialistische Volkspolen ist ein Land, das in schnellem Tempo seine Industrie, seine ganze Wirtschaft, sein Schulwesen und seine Kultur entwickelt..."

Für den Geschmack der Partei ging der Aufbau immer viel zu langsam vonstatten - für ihren eigenen nationalen Ehrgeiz ebenso wie für ihr Bedürfnis, sich vor ihrem Volk mit wirtschaftlichen Glanzleistungen ins Recht zu setzen.

Die polnischen Wirtschaftsaufbauer haben deshalb auf ein zusätzliches Mittel gesetzt: In der Meinung, es fehlte ihnen nur an ein paar sachlichen Elementen für ein stürmisches Wachstum, haben sie von Beginn an Handel mit dem Westen betrieben. Die im Rahmen des RGW erhältlichen Güterkontingente waren für ihren Geschmack immer zu bescheiden. Der von Anfang an rege Westhandel, der sich z.B. zu Beginn der sechziger Jahre schon auf 40% des Handels mit dem RGW belief, wurde ihnen aus sehr bezeichnenden Gründen gestattet: Während gegen die anderen Ostblockstaaten der 'economic warfare' mit Handelsbeschränkungen geführt wurde, hatte sich Polen in der amerikanischen Begutachtung den Ruf als potentieller Abweicher und Spaltmaterial im Ostblock erworben. Das und das eigene Beharren auf einer Mitgliedschaft im GATT verschaffte ihm schon Ende der fünfziger Jahre US-Kredite und die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel, die die Sowjetunion z.B. in diesem Leben nie mehr bekommt.

Seit der Zeit beklagen sich die polnischen Politiker über die Modalitäten des Westhandels, ohne auf ihn verzichten zu wollen: über einen sehr ungerechten, gar nicht auf die Entwicklung ihrer großartigen Nation berechneten Weltmarkt, auf dem Polen immer nur seine Rohstoffe und Agrarprodukte loswird. Und das, angesichts der harten Konkurenz, zu ständig sinkenden Preisen, also sinkenden Erträgen, worauf, um die schon eingeplanten westlichen Lieferungen finanzieren zu können, wieder mehr verkauft werden muß, was dann auf Kosten des eigenen Bedarfs geht...

Seitdem haben sich die Planungskünste an Widersprüchen folgenden Kalibers bewährt: Zur Fleischproduktion, immer schon einer der Hauptexportartikel, werden Futtermittel benötigt, wovon die Privatbauern nicht genügend produzieren, die also wiederum eingeführt werden müssen.

"Die ungenügende Entwicklung unserer Landwirtschaft, insbesondere der Futtermittelbasis, und die damit verbundene Einfuhr von Getreide und Futtermitteln hemmt erheblich die Möglichkeit, die Industrieproduktion zu steigern... Diese Tatsache verursacht nicht nur die Einschränkung der Einfuhr der für unsere Industrie notwendigen Rohstoffe, mit denen neue Mittel für den Ankauf zusätzlicher Getreide- und Futtermittelmengen erzielt würden, sondern auch, daß verschiedene Materialien ausgeführt werden müssen, die für unsere Produktion notwendig sind, vor allem Hüttenerzeugnisse. Dadurch werden die Möglichkeiten des Produktionsanstiegs in unserer verarbeitenden Industrie, insbesondere im Maschinenbau beschränkt..."

Die prinzipienfeste Schlußfolgerung aus diesem selbstgebastelten Karussell:

"Welche Schlußfolgerungen müssen daraus gezogen werden? Der kapitalistische Markt wird von seinen Gesetzen beherrscht. Wenn das Angebot größer ist als die Nachfrage, dann sinken die Preise. Wir müssen die Lösung in unserer eigenen Wirtschaft und ihrer Verbesserung suchen... Wir müssen deshalb die Struktur unseres Exports nach den wirtschaftlich hochentwickelten kapitalistischen Ländern radikal ändern." (Gomulka 1962)

Eine radikale Änderung ist dann mit dem Machtwechsel von Gomulka zu Gierek eingetreten - radikal allerdings in anderer Hinsicht.

Zwei entgegenwirkende Hebel: Fleischpreise und Westhandel

Veranlaßt hatte den Machtwechsel die Normalform der polnischen Krise. Das gewohnheitsmäßige Herummanövrieren mit der Privatbauernschaft, deren Ablieferungen nur mit hohen Aufkaufpreisen zu steigern waren, mit Exportschwierigkeiten, für die die Nahrungsmittel immer unverzichtbarer geworden waren, und drittens mit der Lebensmittelversorgung zu stabilen Niedrigpreisen hatte die staatlichen Subventionskosten ansteigen lassen. Damit war der Wunsch entstanden, die Konsumenten an den Kosten zu beteiligen und gleichzeitig ihre Konsumgewohnheiten zugunsten des Exports einzuschränken. Zum ersten Mal seit 1956 wurden Preiserhöhungen angekündigt, von 11 bis 36%. Die Folge waren Arbeiterunruhen in den Küstenstädten mit den dazugehörigen Parolen "Brot" und "Russen raus", die militärische Niederschlagung mit den seitdem gefeierten Danziger Toten, russische Soforthilfe mit Krediten und Warenlieferungen und eben der Machtwechsel in der Partei. Die Partei entschuldigte sich höchstoffiziell beim aufgebrachten Proletariat, nahm die Preiserhöhungen zurück und präsentierte zwecks Versöhnung einen neuen Mann an der Spitze.

Dessen neuer Einfall bestand einfach darin, die bisherige Parteilinie fortzusetzen, nur unter wesentlich großzügigerer Inanspruchnahme westlicher "Hilfe". Polnische Wirtschaftswissenschaftler haben dafür die richtige sozialistische Definition gewußt: "Strategie des importierten Wachstums".

Mittlerweile war nämlich die sogenannte Entspannung eingetreten, der Warschauer Vertrag zwischen der BRD und Polen. Mit der berechnend-verschwommenen und inzwischen ja auch schon ständig widerrufenen "Anerkennung" der Oder-Neiße-Linie veischaffte sich die BRD den Eintritt in Ostpolitik und Osthandel. Die polnische Seite meinte, nun eine gewisse Zurückhaltung gegenüber alten Feinden aufgeben und im friedlichen Handel mit ihnen glanzvollen neuen Zeiten entgegenblicken zu können.

"- Die Entspannung ist eine beständige Tendenz. Sie ist zur Stärkung des Sozialismus in Polen, der sozialistischen Staatengemeinschaft und der fortschrittlichen Kräfte in der ganzen Welt zu nutzen.

- Die enge Verknüpfung der Außenpolitik mit der Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Staaten schafft die materielle Basis für die Koexistenz und beschleunigt die wirtschaftliche Entwicklung Polens.

- Polen ist nach dem VI. Parteitag (1971) in einen Zeitraum kühner wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Vorhaben eingetreten." (Rakowski 1975)

In der Etappe der kühnen Vorhaben stiegen die Reallöhne um 40%, die Lebensmittelpreise blieben stabil, die Konsumgüterproduktion wurde erweitert, Ausrüstungen, Anlagen und Lizenzen wurden im Westen in großem Maßstab eingekauft - unter Inanspruchnahme westlicher Kredite. Die Berechnung, polnischer Arbeiterfleiß, vereint mit westlicher Maschinerie, müßte sich doch mit einer polnischen Exportoffensive auf dem Weltmarkt bezahlt machen, so daß die Rückzahlung der Kredite ein Leichtes wäre, ist - wie allgemein bekannt - nicht aufgegangen. Der Weltmarkt ist eben etwas anderes als eine Absatzgarantie für gute Ostware. Die mit dem Kredit gewonnene Freiheit der Trennung von Kauf und Zahlungstermin hat sich für die Kreditgeber bewährt: Sie verfügen über eine einzige gigantische Zahlungsaufforderung gegenüber der polnischen Ökonomie, für die alle jemals im Westen verkäuflichen Produkte schon im voraus und auf unabsehbare Zeiten hinaus verpfändet sind.

Der '76 beschlossene und damals von der kurzsichtigen CDU-Opposition angefeindete deutsch-polnische Handel - eine erste Bestreitung der polnischen Souveränität über ihre deutschstämmigen Untertanen: die Ausreisegenehmigung gegen 1,3 Milliarden DM Rentenansprüche und 1 Milliarde DM Kredit - diente bereits zur Behebung einer ersten polnischen Kreditklemme. Mit den Fälligkeitsterminen von Zinsen und Kreditraten waren die Anlässe für die polnische Normalkrise schon festgesetzt.

Dezember 1976 versuchte die Partei wieder, die inzwischen zum ökonomischen Sachzwang ausgewachsenen Lebensmittelexporte durch eine "Kaufkraftabschöpfung" sprich: Preiserhöhung im Inneren zu steigern. Dieses Mal revoltierten die Arbeiter in Ursus und Radom und zündeten unter Absingen der polnischen Nationalhymne Parteibüros an. Die Polizei erschoß ein paar Streikende, die Partei nahm die Preiserhöhungen zurück, die Sowjetunion spendierte ihren üblichen Beschwichtigungsbeitrag.

1980, die Kreditlasten wurden immer drückender, dasselbe in den Küstenstädten. Dieses Mal allerdings mit dem Unterschied, daß die Streikenden nicht nur die Rücknahme der Preiserhöhungen, sondern auch die regierungsamtliche Anerkennung einer unabhängigen Gewerkschaft, also die Institutionalisierung eines sehr grundsätzlichen Mißtrauens in die Regierung verlangten.

Arbeiteraufstand im Namen der Nation

Steigende Fleischpreise allein genügen in Polen leider genauso wenig wie materielle Nöte in anderen Weltgegenden, um Arbeiter zum Aufstand zu bewegen. Die hinter Walesa versammelte Mannschaft hatte eine handfeste Interpretation der eigenen Unzufriedenheit auf ihrer Seite, die ihre Gegenwehr mit lauter Rechtstiteln ausstattete. Rechtstitel, die man vom Staat übernommen hatte, an denen man ihn maß und die man gegen ihn wendete. So zeichnete sich diese "unabhängige Arbeiterorganisation" von Anfang an dadurch aus, daß sie weder die materiellen Interessen der Arbeiter gewerkschaftlich vertreten wollte, geschweige denn gegen den "realen" den Sozialismus als Kampfprogramm hatte. Vielmehr forderte eine nationalkatholische Arbeiterbewegung das Recht auf eine ordentliche Verwaltung der Nation ein. Der ganze Verlauf ihrer Auseinandersetzung mit dem Staat war durch die praktische Umsetzung ihres Rechtsbewußtseins bestimmt; realsozialistische Staatsbürger waren dazu übergegangen, ihre lange gehegte schlechte Meinung von der Regierung in die Tat umzusetzen: Sie kündigten ihrer Regierung das Vertrauen, stellten das staatliche Gewaltmonopol an den verschiedensten Punkten in Frage und bewegten sich zielstrebig hin auf die Frage: Umsturz, ja/nein, wann, wie... Bezeichnenderweise wurde der Anlaß, die Lebensmittelversorgung, bald völlig unwichtig, von den ökonomischen Gründen ihrer Lage wollten weder Führer noch Anhänger der Solidarität etwas wissen. Weder der Westen, der sich längst in ihre Ausbeutung eingeschaltet hatte, noch die Privatbauern sind ihnen jemals als Bündnispartner verdächtig geworden. Für sie war mit der Beantwortung der Schuldfrage schon alles geklärt: unfähige bzw. russenhörige Regierung. Die Fortschritte der Solidarität vom Danziger Abkommen bis zur Verhängung des Kriegsrechts waren alles andere als eine in der Kenntnis der eigenen Mittel überlegte Strategie. Sie bewegten sich ziemlich willkürlich zwischen Erstaunen über die eigenen Erfolge und neuerlichen Konflikten mit der Staatsgewalt, die die Betätigung der neu entstandenen politischen Konkurrenz hintertreiben wollte, zwischen Aufrufen zur Mäßigung, um das Erreichte nicht zu gefährden, und Beschlüssen irgendwelcher Lokalmannschaften, welchen lange schon mißbilligten politischen Skandal man gerade jetzt überhaupt nicht mehr dulden könne.

Das alles schließlich gefördert durch die plötzliche rasante Polenliebe im Westen: Der unverhoffte Glücksfall eines regelrechten Arbeiteraufstands mitten im Kernland des Warschauer Pakts wurde mit allen Mitteln un:erstützt, die innerpolnische Auseinandersetzung daher sofort um zwei weitere Teilnehmer ergänzt: NATO und Sowjetunion. Bis schließlich die Frage, wer in Polen die Macht ausübt, vom Militär zugunsten der Bündnistreue als der momentanen Existenzbedingung einer polnischen Nation entschieden wurde.

Ein ewiger verhinderter Staatsbankrott

Die westlichen Interessenten haben Polen und damit sein Bündnis dafür bestraft, daß ihr mit Kredit erworbener Zugriff auf das Land nicht bis zum Umsturz, zur Einsetzung einer von ihnen gesponsorten Regierung fortgesetzt werden dürfte. Sie haben das im Ostblock verbleibende Polen alle eingegangenen ökonomischen Abhängigkeiten als Mittel zur Schädigung der polnischen Ökonomie spüren lassen. Die Unterbrechung der Kreditierung hat die Benützung all der im Westen gekauften Produktionsmittel - soweit sie auf dauerhafte Zulieferung von Vorprodukten, Ersatzteilen oder überhaupt noch auf ihre Fertigstellung angewiesen ist - in Frage gestellt. Bis heute laborieren die polnischen Wirtschaftsplaner daran herum, wie sie überhaupt die im Land herumstehenden Fabriken "auslasten".

Nach der einen Seite hin betreiben sie eine Art Notstandsverwaltung, die überhaupt nur wegen der finanziellen und materiellen Zuschüsse der Sowjetunion halbwegs gelingt. Und auf der anderen Seite macht sich die Regierung selbst zum Motor der vom Westhandel eingeleiteten Zersetzung ihrer Sorte Planwirtschaft. Peinlichst darum bemüht, kreditwürdig zu bleiben und endlich in den IWF aufgenommen zu werden, erfüllt Polen Zinsforderungen, so es nur immer geht, und Devisenbeschaffung ist der einzige und oberste Zweck aller Wirtschaftsmaßnahmen. Dadurch ist der Ausverkauf polnischer Naturreichtümer endgültig auf Hochtouren gekommen: Während alle Welt Päckchen für Polen packen sollte, ist die Liste polnischer Eßwaren in deutschen Billigläden immer länger geworden. Produzieren für Exportgewinne hat Vorrang vor allen anderen Gesichtspunkten, alles, was im Westen absetzbar ist, wird dorthin befördert, inkl. Billigarbeiterkolonnen. Umgekehrt werden Auslandspolen dazu ermutigt, mit den billigen polnischen Löhnen Geschäfte aller Art in Polen zu eröffnen, auf drei Jahre steuerfrei und mit der Erlaubnis zu freizügigem Gewinntransfer. Auch jeder sonstige Devisenzufluß ist recht, ob er nun von Schwarzarbeit im Westen oder anderen nicht ganz legalen Quellen herrührt. Die Visaerteilung für Westreisen wird nicht von polnischen, sondern von westlichen Behörden eingeschränkt. Und um die Deviseneinkünfte der Bevölkerung bei den Banken zu versammeln, werden Devisenkonten mit Zinsen belohnt, und eine eigene Dollarersatzwährung wird für den sogenannten "Binnenexport" ausgegeben: Dollargutscheine für die PEWEX-Läden. Genügend Stoff für den Volksunmut über die neue Zweiklassengesellschaft: Dollarbesitzer und Nicht-Dollarbesitzer.

Das per Militär zur Ordnung gerufene Volk hat keineswegs von seinen Vorwürfen gegen die Regierung Abstand genommen, sondern nur davon, sie in die Tat umzusetzen. Insofern ist die schlechte Meinung von 'denen da oben' nur zu ihrer Normalform zurückgekehrt. Allerdings füllt sie jetzt massenhaft die Kirchen, huldigt verbittert den heiligen Patronen Polens inkl. Walesa und Popieluszko und stellt sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als das dar, was sie ist: als abgrundtiefe Verachtung und moralische Enttäuschung über den Staatsapparat. Dabei ist der Volksnationalismus so bescheuert, daß er sehr wohl auch dem regierenden General Sympathien entgegenbringt, schließlich verkörpert der so bilderbuchmäßig die selbstlose Pflichterfüllung in der Stunde der Not und im Dienst an der Nation. Fröhlich werden die Regierenden und ihr Parteienbündnis in Anständige und Schweine auseinandersortiert, prinzipiell werden dem Staatsapparat alle nur erdenklichen bösen Absichten zugetraut, lauter geheime Machenschaften gewittert, ehrliche polnische Staatsfunktionäre aber auch genausogut wieder in Schutz genommen, andere bei Gelegenheit einmal verprügelt und so zu.

Letzte Angebote zur nationalen Versöhnung

Die in früheren Krisen angewandte Methode, das Volk mit materiellen Angeboten wieder mit seiner Staatsgewalt zu versöhnen, ist angesichts der durch den Westhandel verursachten Schäden nicht machbar. Die ideellen Angebote fallen um so konsequenter aus: Die Machthabenden haben sich nun endgültig darauf verlegt, nur noch Polen kennen und um deren loyale Mitwirkung bitten zu wollen. Sie erklären sich ihrerseits bereit, alle ideologischen Differenzen für gänzlich bedeutungslos zu erklären.

Für diese Demonstration werden die immerhin nach gültigen polnischen Gesetzen verurteilten politischen Gefangenen amnestiert - jetzt gerade zum zweiten Mal. (Auch eine bewährte Methode: In 40 Jahren Volkspolen hat es insgesamt 11 Amnestien gegeben, die die Auffassung im Volk bestärkt haben, die Freigelassenen seien dann eben auch u Unrecht eingelocht worden.) Katholische Zeitungen und Blättchen jeder Couleur, Vereine und katholische Clubs - für die Jugend eine sogenannte "Oasenbewegung" - werden toleriert, blühen und gedeihen. Sogenannte Untergrundliteratur wird frei gehandelt, ohne natürlich dadurch ihren enormen Reiz zu verlieren, der durch die vielfältige Variation der Gedanken: "Polen ", "Brot" und "Russen raus" garantiert wird.

Und vor allem wird die Kirche umworben, doch endlich in die Regierungsverantwortung einzutreten: Die Jaruzelski-Regierung hatte der Kirche eigens Mandate für den Sejm angeboten, die die Kirche abgelehnt hat. Den Geruch der Kollaboration weist sie von sich, kollaboriert immer nur soweit, wie es dem Ausbau ihrer Machtposition nützt. Im Ersatz für Kirchenleute werden dann alle nur auffindbaren fortschrittlichen katholischen Intellektuellen organisiert, bloß damit sie die Regierungsbotschaft ans Volk als Nicht-Parteimitglieder und dezidierte Nicht-Kommunisten unbescholten und glaubwürdig verbreiten.

Ausgerechnet dieses krampfhafte Bemühen der polnischen Machthaber, das Vertrauen ihres Volkes zurückzugewinnen, indem sie jeden Verdacht auf kommunistische Ideologie, realsozialistische Herrschaftsmethoden und -absichten dementieren und nur noch als lupenreine Patrioten erscheinen wollen, ausgerechnet das ist der letzte Rest des volksdemokratischen Erbes. Das Bedürfnis der Herrschaft, sich unbedingt mit ihrem Volk ins Einvernehmen zu setzen, damit es nicht nur gehorcht, sondern mit Überzeugung gehorcht, kennen Regierungen westlichen Zuschnitts gar nicht. Wenn das Volk aufsässig ist, wird es niedergemacht wie in Chile, in der Türkei und den anderen westlichen Militärstaaten. Und die zivilen Demokratien können sich auf Zustimmung als Resultat der Erpressung mit ökonomischer und politischer Gewalt verlassen. Daß es auch ohne die Produktivkraft Zustimmung geht, diese Rücksichtslosigkeit werden die polnischen Staatsmacher noch lernen müssen, nachdem in Polen nun wirklich garantiert niemand mehr, weder in der Partei noch im Volk, auf kommunistische Gedanken kommen will.

In einem Punkt sind sich allerdings Volk und Regierung in Polen immer noch einig, darin nämlich, daß die Oder-Neiße-Gebiete unbestreitbar Polen gehören. Dann ist aber der Konsens auch schon wieder zu Ende: Denn "leider" verdankt man diese Grenzziehung den Russen, und deshalb muß bedauerlicherweise Polen in dem Bündnis bleiben, das doch andererseits eine echte, freie und gewaltige Souveränität Polens nicht zuläßt. Nationalisten haben es auch nicht einfach.

Nationalkommunistische Interpretationskünste I

Leider wird dem normalen polnischen Nationalismus die Freude über den Wiedergewinn der Westgebiete durch den Verlust der Ostgebiete an die Sowjetunion vergällt. Dazu muß sich ein realsozialistischer Parteiführer dann unbedingt ein Argument einfallen lassen:

"Das Londoner Lager (die polnische antikommunistische Exilregierung) forderte die Rückführung der ehemaligen östlichen Wojewodschaften an Polen, die überwiegend von nichtpolnischer Bevölkerung besiedelt waren. Abgesehen von allen anderen Ursachen der Schwäche und der Unbeständigkeit Vorkriegspolens, bestand die Hauptursache darin, daß über ein Drittel seiner Bevölkerung unterdrückte Völker waren, vor allem Ukrainer und Belorussen.

Die Polnische Arbeiterpartei hat die Konzeption für die Unabhängigkeit des neuen Polen, nicht nur in sozialpolitischer Hinsicht, sondern auch in geographischem Sinne repräsentiert und realisiert. Die nichtpolnischen Gebiete sind zu ihrem Mutterland, den Sowjetrepubliken zurückgekehrt. Polen aber hat wieder seine urpolnischen Piastengebiete an der Ostsee, an Oder und Neiße in Besitz genommen, Gebiete, die Polen entrissen und jahrhundertelang von deutschen Teutonen und preußischen Junkern germanisiert worden waren..."

In der Hitze des Gefechts bemerkt er dann gar nicht mehr, was für rassistischen Unsinn er zur Unterstützung gesunder nationaler Rechtsansprüche verzapft.

Nationalkommunistische Interpretationskünste II

Ein besonders hakliger Punkt, mit dem die Sowjetunion ewig angepinkelt wird, der Warschauer Aufstand 1944. Dazu sagt man erstens die richtige Erklärung, um den Antisowjetismus zurückzuweisen:

"Um nicht den Augenblick zu verpassen, Warschau vor dem Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte zu beherrschen und ihnen gegenüber als 'Hausherren' aufzutreten, haben die Londoner Regierung und die Führung der (antikommunistischen) Heimatarmee den Aufstand proklamiert... es ging ihnen nur um eine politische Demonstration gegen die Sowjetunion, und auf diese Karte setzten sie die Hauptstadt Polens und das Leben ihrer Einwohner."

Die schlichte politische Feststellung, wofür da die Leute verheizt worden sind, genügt aber nicht. Wenn irgendwo polnisches Blut vergossen wird, muß man als polnischer Staatsmann unbedingt verkünden, daß das eine großartige Sache war:

"Im Kampf gegen Hitlerdeutschland hat das polnische Volk ein Meer von Blut vergossen. Dieses Blut darf man nicht teilen, man darf seinen Wert nicht nach Parteikriterien beurteilen..."

Produktivkraft Ethik

"Ein integraler Bestandteil des Aufbaus des Sozialismus ist die Umgestaltung des Bewußtseins. Das bedeutet, die marxistisch-leninistische Ideologie und die sozialistischen Prinzipien der ethisch-moralischen Beziehungen der Menschen zu verbreiten und ein neues Verhältnis zum Staat, zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum herzustellen.

Wenn das gesellschaftliche Bewußtsein zurückbleibt, wenn die Perspektive des geschichtlichen Kampfes des Sozialismus gegen den Kapitalismus verloren geht, so können die Vorräte menschlicher Energie, Initiative und Opferbereitschaft nicht voll genutzt werden." (Gomulka 1963)

Die Ethik ist auch ohne geschichtlichen Systemkrieg zu haben, Gierek 1973:

"Die Parteilosen bilden die Mehrheit in unserer Gesellschaft, sie unterstützen die Politik der Partei, identifizieren sich mit dieser Politik und beteiligen sich an ihrer Verwirklichung. Die Partei wirkt in enger Verbundenheit mit den Parteilosen und betrachtet es als ihre Pflicht, diese ständig zu festigen. Es ist das Bestreben der Partei, das ganze schöpferische Potential des Volkes, alle Bürger für die Arbeit zum Wohle Polens zu engagieren."

Und auch rein christlich, der "Polnische Katholisch-Soziale Verband" (eine der in der neuen Einheitsfront "Patriotische Bewegung der Nationalen Erneuerung" organisierten, katholischen Vervielfältigungen der alten Partei), 1984:

"Den Richtlinien der katholischen Soziallehre folgend, nehmen wir teil am Kampf gegen gesellschaftliche und wirtschaftliche Erscheinungen, die unser Land plagen, nicht nur indem wir gegen Alkoholismus, Nikotin- und Drogensucht, Familienzerfall, Unehrlichkeit und Demoralisierung angehen, sondern vor allem, indem wir uns für eine verantwortungsbewußte Haltung in Familien, im Beruf, in den Organen der Selbstverwaltung einsetzen... eine unumgängliche Voraussetzung für Polens harmonische Entwicklung und die Wiedergewinnung des ihm zustehenden Platzes in der Welt."

Sozialistische Grundrente

Sozialismus ist weniger eine ökonomische Frage, eine Frage des Klassenkampfs, als Definitionssache. Zum Beispiel so, Gomulka 1963:

"Obwohl in unserem Dorf überwiegend die kleine Warenproduktion betrieben wird, so verändert der Grad der Verbindung mit der Landwirtschaft mit dem Staat in bedeutendem Maße die Verhältnisse auf dem Dorfe und bezieht die Bauernmassen in den allgemeinen Strom der Entwicklung des Landes ein."

Oder so; ein bißchen mehr soziologisch, 1976:

"Es entstand zugleich eine neue soziale Schicht der 'zweiberuflichen' Landesbewohner, der sogenannten Bauernarbeiter. Dies sind Besitzer von kleinen Grundstücken, die ihre Einkommen vorwiegend außer der Landwirtschaft erwerben."

Auch eine Ausdrucksweise für die Tatsache, daß auf dem Land verbiestertes Privateigentum und Armut eine schöpferische Koalition bilden. Oder man verlegt sich auf die Hoffnung, daß die ganz harten Knochen auch irgendwann mal sterben, und nennt das dann "Methode der sozialistischen Umgestaltung":

"Zu bereits angewandten Methoden der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft gehören: die Übernahme der Grundstücke, die durch ältere Bauern an den Staat gegen die Altersrente abgegeben werden..."

Kollektivierung posthum.

Sozialistische Schulung der Arbeitsmoral

mit Materialismus und Gerechtigkeit:

"Die materielle Grundlage unserer Erziehungsarbeit stellt das Prinzip der Entlohnung nach Qualität und Quantität der geleisteten Arbeit dar. Niemals unterschätzen wir die Rolle und den großen Einfluß der materiellen Interessiertheit auf die Stimmung der Menschen... Es wäre aber vereinfacht, würden wir das ganze Problem der sozialistischen Erziehung auf die unmittelbare persönliche materielle Interessiertheit zurückführen. Deshalb stellt der Kampf für gerechte und sozialistische Beziehungen in den Betrieben, der Kampf gegen Entstellungen in unserer Politik, gegen die Verletzung der Staatsdisziplin, gegen die Cliquenwirtschaft und den Diebstahl einen untrennbaren Bestandteil unserer Erziehungsarbeit und unserer Propaganda der Idee und der Ethik des Sozialismus dar."

Wenn man immerzu in den Wald so hineinbrüllt, dann brüllt es eben irgendwann mal genauso widerlich moralisch zurück.

Sozialistischer Politiker, aufgeklärt

Scheißsozialismus, macht die Leute unregierbar.

"Der Pole hat von dem Sozialismus all das genommen, was für das Leben bequem ist. Die Idee der Gleichheit zum Beispiel. Das spiegelt sich dann in der Produktion wieder, aber auch in der Eifersucht, im Neid. Warum verdient der andere mehr als ich? Diese Mentalität, die jahrzehntelang gewachsen ist, jetzt zu verändern, ist gar nicht einfach. Zuerst muß man die Bevölkerung daran gewöhnen, daß Preisanhebungen etwas ganz Natürliches sind. Unseres Erachtens kann es keine vernünftige Volkswirtschaft ohne Preissteigerungen geben..." (Der bis vor kurzem amtierende Vizepremier Rakowski)

Polnische Protestformen

- Wallfahren und "Messen für das Vaterland" vorbeten;

- Kreuze in Staatsgebäude hineintragen - das ärgert die Regierung, wenn sie Lust dazu hat;

- russische Denkmäler und Gräber verschandeln - das ärgert die Sowjetunion;

- wilde Denkmäler errichten, Gedenksteine setzen oder einmauern, damit man sie dann hat;

- gute Gräber schmücken, z. B. die der Offiziere von Katyn (sollen von den Russen umgebracht worden sein) - das ärgert die Sowjetunion und die Regierung ein bißchen;

- Blumenkreuze legen, abräumen lassen und jeden Tag wieder legen - das beschäftigt die Ordnungskräfte;

- Alkoholstreiks, dem Staat durch rigoroses Nicht-Besaufen zeigen, daß er einen nicht zum Alkoholismus zwingen kann. Diese Kampffront wird leider von den Massen nicht so gerne angewendet, nur von Kirche und Solidarität empfohlen.

- Protestfasten gegen steigende Lebensmittelpreise. Diese Kampfform zieht wiederum beim Adressaten Staat nicht besonders, weil es ihm wurscht ist, ob seine Bürger aus Protest oder nur so fasten.

- Wallfahren und Messen lesen, sternmarschmäßig aus allen Ecken Polens nach Tschenstochau zu Fuß - das behindert immerhin den Verkehr ganz schön.

Wie die Partei das Volk hereinlegt

Wenn die öden moralischen Prinzipien einmal feststehen, wird die Phantasie sehr produktiv. Zuweilen waren selbst für jeglichen Antikommunismus aufgeschlossene Westkorrespondenten in Polen erstaunt über die da blühende Gerüchteküche. Wenn der Feind feststeht, sind noch die unsinnigsten Konstruktionen über dessen hinterhältige Manöver glaubwürdig. Elementarvarianten waren die Vorstellungen, daß überhaupt alle polnischen Güter in die Sowjetunion wandern, gültig auch bei Hafenarbeitern und Eisenbahnern, die die Fracht nach Westen verladen.

Eine weitere als Gerücht kursierende Erfindung: Die Russen hätten die Solidarität ganz absichtlich zugelassen, um mit ihrer Hilfe Gierek absetzen zu können, der ihnen zu westfreundlich gewesen wäre. Oder: Früher hat die Partei einmal Rockmusik ein bißchen unterdrückt. Das war natürlich menschenunwürdig. Jetzt läßt sie verdächtig viel Rockmusik spielen. Schlußfolgerung:

"Die Rockmusik füllt die von Schule und Arbeit freie Zeit voll aus. Sie absorbiert das Denken, hilft Energie zu entladen, lenkt Gefühle, sie schränkt Interessen ein..." (eine freie Musikzeitung Zdanie)

Fazit: ein ekelhafter Anschlag auf die Mensclienwürde... Oder: ein führender intellektueller Vertreter der Opposition, Adam Michnik, erklärt, warum die polnische Regierung ihr Volk dazu auffordert, massenhaft zu wählen:

"Wozu dienen den Kommunisten die Wahlen? Um das Personal auszuwechseln? Nein, dazu brauchen sie keine Wahlen.

Um irgend jemandem einzureden, eine gesellschaftliche Legitimation für ihre Aktivitäten erhalten zu haben? Nein. Niemand - einschließlich der Ehefrauen wird dies glauben... Diese Operation 'Wählen' ist dai nächste Glied in der Kette der Aktivitäten, die M. F. Rakowski als 'Brechung des moralischen Rückgrats' bezeichnet hat. Dem gleichen Zweck dient der 'Krieg um die Kreuze'. Wenn man den Menschen das Kreuz nimmt, will man sie brechen, will man sie erniedrigen und demütigen...

In dieser Zeit der Lügen und Gewalt, bewahrt Würde. Diesen kostbarsten aller Schätze, die wir von unseren Vätern übernommen haben, gebt weiter an unsere Kinder. Schaut euch um. Seht den Menschen in die Augen..."

1984, aus de Gefängnis heraus geschrieben. Logo, daß so einem polnischen Kohlhaas die Tatsache, daß er wegen dem an Polen durchexerzierten Gegensatz von NATO und Warschauer Pakt sitzt, als ein Anschlag auf sein unbeugsames moralisches Rückgrat vorkommt.

Der polnische Kalender

fällt, wie es sich bei einem so ungewöhnlich religiösen, aber auch mit allen Unsitten des historischen Denkens begabten Volk gehört, enorm feiertagshaltig aus. Im folgenden eine unvollständige Liste, von denen einige allen gehören, einige kommunistisch oktroyiert sind, also eher Schand- als Feiertage, was man aber auch begehen kann.

1. Mariä Huldigung durch drei Könige

4.3. Kosciuszko (Nationalheld) schwört 1794 in Krakau seinen Eid gegen die russische Fremdherrschaft.

... Karwoche und Ostern, Mariä Jesus gestorben und auferstanden 1.5. Tag der Arbeit, Grund genug, gegen die Maidemonstrationen der Partei zu demonstrieren

5. Fest der Mutter Gottes als Königin Polens

5. Jahrestag der Verfassung Polens 1791, Staatsakt als Polen gerade einmal nicht geteilt war

5. Jahrestag der "Wiedergewinnung der Oder-Neiße-Gebiete", (staatlich)

5. Hl. Stanislaus von Krakau, polnischer Schutzpatron, weil als Bischof von einem König umgebracht. Leider war der König kein Russe, sondern Pole.

1.5. Tag des Hüttenwerkers

0.5. Mariä irgendwas

6. Fronleichnam

3.6. "Rückkehr der Kirche in die Oder-Neiße-Gebiete"

8.6. Posener Aufstand, 1956

0.6. Tag der Werftarbeiter

5.7 Schlacht bei Tannenberg/Grunwald. Die deutschen Kreuzritter fix und fertig gemacht

20.7. Nationalfeiertag (kommunistisch): Gründung des Lubliner Komitees zur Befreiung Polens, 1944

8. Nationalfeiertag (antikommunistisch): Warschauer Aufstand 1944

5.8. Mariä nochwas

8.8. Das "Wunder an der Weichsel", 1920, Pilsudski schlägt die Rote Armee

0.8. Erster polnischer Aufstand gegen die Russen, 1794

1.8. Danziger Abkommen. Geburtstag der "Solidarität"

9. Erntefest. Tag des Bauern

2.9. Mariä sowieso

5.9. Tag der Arbeiterwallfahrt nach Tschenstochau

10. Walesas Geburtstag

0.10. Hl. Popieluszko, letztlich vom KGB ermordet. Unverständlicherweise vom Vatikan noch nicht einmal selig gesprochen

2.10. Tag des polnischen Heeres (kommunistisch), Sturm auf Lenino gegen die Deutschen, 1943

6.10: Karol Wojtyla in Rom zum Papst gewählt, 1978

1.11. Unabhängigkeitstag, Pilsudski 1918, im fünften Anlauf ein eigener polnischer Staat gegründet

9.11. Fähnrichsaufstand, 2. polnischer Aufstand gegen die Russen, 1830

12. Hl. Barbara, Tag des Bergmanns

3.12. Verhängung des Kriegsrechts 1981 (Schand- und Gedenktag)

6.12. Arbeiteraufstand an der Ostseeküste, 1970

4.12. Polnisches Karpfenessen