Info
DER SOZIALISMUS STELLT SICH AUF DIE WENDE EIN
Seit 1981 geplant, ist der Entwurf eines neuen Parteiprogramms der KPdSU jetzt veröffentlicht worden. Es ersetzt das noch unter Chruschtschow 1961 verabschiedete III. Parteiprogramm und soll vom nächsten Parteitag der KPdSU verabschiedet werden.
Die Mühe gilt einem Bedürfnis, das westliche Demokratien überhaupt nicht kennen. Der sozialistische Staat erklärt im Namen seiner Partei, daß er mehr will, als mit den staatlichen Mitteln - Verfassung, Gesetze, politische Beschlüsse und ökonomische Direktiven - politische Macht auszuüben und sich dabei an den von ihm gesetzten rechtlichen Rahmen zu halten. Er zeigt sich nicht damit zufrieden, daß sich über sein Wirken die Gefolgschaft und der Gehorsam seiner Bürger von ganz alleine einstellen.
Die kommunistische Partei der Sowjetunion hat sich ein Programm und den sowjetischen Bürgern eine Perspektive gegeben, in der die Einheit von Staat und Uolk vor und über allen staatlichen Notwendigkeiten zum Ausdruck kommt: "Alles zum Wohl der Massen und zum Nutzen des arbeitenden Volkes!" Dieser Anspruch soll das Wirken der Partei anleiten, und an ihm soll jede staatliche Maßnahme gemessen und für gut befunden werden. Die Notwendigkeit und das Lebensrecht des sozialistischen Staates will das Parteiprogramm den Massen beweisen. Dazu führt es die Erfolge der Partei für den Aufbau des Sozialismus seit der Oktoberrevolution an und enthält Versprechungen, wie die Partei in nächster Zukunft die Bedürfnisse der Massen noch besser und tiefer zu befriedigen gewillt ist. Erfolge wie Versprechen gelten der Einsicht in den volksnützlichen Charakter des sozialistischen Staates und dessen allen bisherigen Gesellschaftsformen überlegener - Staatsidee:
"Nicht durch Krieg mit anderen Ländern, sondern durch das Beispiel einer vollkommeneren Organisation der Gesellschaft, durch den Aufschwung der Produktivkräfte, durch Schaffung all dessen, was der Mensch braucht, um in Glück und Wohlstand zu leben, gewinnen die Ideen des Kommunismus die Hirne und Herzen der Volksmassen" (Parteiprogramm 1961).
Als wäre diese Partei nicht die konkurrenzlos legitimierte Regierungspartei, nimmt sie sich im Namen des Sozialismus vor, die Menschen zu Kommunisten und sozialistisch regierbar zu machen. Die Wahrheit über den Sowjetstaat ist das Parteiprogramm der KPdSU deswegen auch nicht. Uersprochen und gewährleistet ist den sowjetischen Bürgern die Benutzung ihrer Arbeitskraft für den Aufbau des Sowjetstaates - mit dem Zusatz: damit er ihnen nützlich sein kann. Wozu ist sonst ein Staat gut, der mit seiner Gewalt die Sowjetmenschen erst auf das verpflichtet, was sie schon von sich aus wollen?
In Wirklichkeit ist das Parteiprogramm die Verkündung nicht der Staatsräson, sondern einer Staatsmoral, in deren Licht und von deren Standpunkt aus der reale Sozialismus Sinn macht. Dieser Glaube wird von der Partei zu einer ganz eigenen materiellen "Produktivkraft" erhoben. Der Gegensatz einer Realität des täglichen Sich-Bewährens an den vom Staat eingerichteten Lebens- und Arbeitsbedingungen und der leuchtenden Perspektive wird zum Motor des sozialistischen Fortschritts. Die tätig werdende Einsicht, den eigenen Nutzen mit lauter Tugenden des Verzichts - Aufopferung, Arbeitsdisziplin und Solidarität - zu befördern, ehrt dann den "sozialistischen Menschen".
Jetzt ist das alte Parteiprogramm, mit dem 1961 die Sowjetunion in die Phase des "vollendeten Sozialismus" eingetreten ist, zurückgezogen worden. Kundige westliche Beobachter wissen da gleich Bescheid: Chruschtschow habe damals den Mund zu voll genommen mit seinem Versprechen, schon bis 1970 die USA in der Produktion und beim Konsum überholt zu haben. Der neue Kremlzar ziehe jetzt das Versprechen zurück, um vor dem russischen Volk das Scheitern seines Systems zu vertuschen. Wenn drüben kein Luxus eingerissen ist, so liege das daran, daß Sozialismus ohne Marktwirtschaft und westliche Demokratie nicht gehe - siehe hierzulande. Und so können die Schlaumeier schon jetzt auch Gorbatschow "Scheitern" attestieren: Auch im neuen Programm fehlt diese "Reform".
Perspektive contra Realismus
Es könnte einem Sowjetbürger aus Kiew oder Odessa ja ziemlich gleichgültig sein, ob er heute schon im Kommunismus lebt - wie 1961 versprochen: "Die Partei verkündet feierlich: Die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben"; oder ob der "qualitative Sprung" noch etwas auf sich warten läßt und überhaupt dasselbe wie jetzt, nur besser ist:
"Die Entwicklung des Sozialismus, die immer umfassendere Erschließung seiner Möglichkeiten und Vorzüge, die Festigung der ihm innewohnenden allgemein-kommunistischen Merkmale - das ist die wirkliche Bewegung der Gesellschaft zum Kommunismus." (Neuer Entwurf)
Seine Lebensumstände ändern sich durch die ihm angebotenen Interpretationen nicht. Für das "eherne Gesetz" des Sozialismus: "Besser arbeiten, u m besser z u leben", stellt ihm sein Staat Arbeitsplätze, Leistungsanreize und Sozialeinrichtungen bereit, mit deren Hilfe er den in dieser Gesellschaft so beliebten Komparativ "besser, reicher, tiefer, voller" mit Leben erfüllen soll. Darüber stellt sich zwar nicht die "reiche Bedürfnisbefriedigung" im Alltag ein, aber die segensreichen Folgen von Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut, lernt der sowjetische Bürger auch nicht kennen.
Wenn seine Politiker allerdings eine neue Sichtweise des Sozialismus für geboten halten und deshalb das Parteiprogramm neu schreiben, so werden neue Notwendigkeiten, nach denen sich die Einheit des volksnützlichen Staats mit seinen Massen zu richten hat, angekündigt - aber nicht einfach so, sondern gerechtfertigt durch eine "schärfere Erfassung" des sozialistischen "Wesens".
Dem entspricht ein Parteiprogramm nicht mehr, das den gemeinsamen Beitrag von Massen und Partei zum Voranschreiten des Sozialismus höchst einseitig in Versprechungen ausgedrückt hat, was die Partei alles für ihre Sowjetmenschen leisten will:
"Die KPdSU stellt eine Aufgabe von weltgeschichtlicher Bedeutung: In der Sowjetunion einen Lebensstandard zu sichern, der höher ist als in jedem beliebigen kapitalistischen Land."
"Die Sowjetunion wird im ersten Jahrzehnt die Vereinigten Staaten von Amerika in bezug auf die Pro-Kopf-Produktion der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse überholen".
- und so fort durch alle Sphären der sozialistischen Produktion und Reproduktion. Bei diesem Vergleich ist den Theoretikern der Partei allerdings nicht einmal der kleine Unterschied zwischen gesellschaftlichem Reichtum und dem, was die Leute davon haben, aufgefallen!
Obwohl Chruschtschow auch damals nicht vergessen hat, womit die Partei dieses Versprechen einlösen wollte, mit der gesteigerten Arbeitsleistung ihrer Massen, erscheint das heutigen sowjetischen Politikern als "Voluntarismus" und damit als das glatte Gegenteil einer gesellschaftlichen Planung.
Von den einstmaligen Verheißungen: keine Steuern und Mieten mehr, Arbeitszeitverkürzungen und mehr Urlaub, mit denen über das eigene Volk hinaus der gesamten Menschheit der Wunsch nahegelegt werden sollte, im Sozialismus leben zu wollen, ist nichts übrig geblieben. Statt dessen liest sich das neue Parteiprogramm wie eine Bestandsaufnahme der "Möglichkeiten und Vorzüge" der sozialistischen Ökonomie. Sie gilt es zu intensivieren, weil sie den staatlicherseits an sie gestellten Ansprüchen nicht genügt.
Einerseits unterscheidet sich das neue Programm, wenn es sämtliche Sphären der Produktion unter den Maßstab "Beschleunigung der sozialökonomischen Entwickung" stellt, gar nicht mehr groß von den Plänen und Kennziffern, mit denen der sozialistische Staat seine Produktion anleitet. Andererseits kommt das Programm als Perspektive erst recht zur Geltung. Es verpflichtet zu und ehrt den freien Willen und das tätige Bekenntnis der Massen zum gemeinsamen Werk, für das sie sich einen volksnützlichen Staat gegeben haben; so als wären die leidigen Mängel an der Produktionsfront nicht Folgen von gar nicht planmäßigen Direktiven und staatlichen Berechnungen, sondern Konsequenz fehlender sozialistischer (Privat-) Initiative. Die Erziehung zum sozialistischen Menschen gelangt zur programmatischen Ehre, die "Produktivkraft" zu sein, auf die die Partei setzt und an der sie ihre Mitglieder und die Werktätigen messen will
Sozialismus = Effektivität
Was sich der Reale Sozialismus heute ins Stammbuch schreibt und worin er sich als "beglückende Menschheitsidee" erfüllt sehen will, besteht in zwei Vorzügen. Er will sich in die Lage versetzen, den "technischen Welthöchststand der Produktion zu erreichen" - dies das Angebot der Partei -, und er gebietet über die Tugenden des sozialistischen Menschen, aus diesem Angebot für die staatliche Produktion und für sich etwas zu machen. Das Verdienst, das den Massen zufällt, ist erst einmal eine Produktion, auf die sie als ihre Leistung unter Leitung der Partei stolz sein können:
"Die Partei wird den Kampf um das Ansehen sowjetischer Wertarbeit aktiv unterstützen. Die Erzeugnisqualität muß eine Frage der Berufsehre und des patriotischen Stolzes sein."
Dazu verspricht die Partei die nötigen Vorleistungen zu liefern. Die moderne Form der Leninschen Elektrifizierungsparole ("Sozialismus = Sowjetmacht plus Elektrizität") lautet heute: "Automatisierung, Computer und Chemisierung". Verkündet wird das jetzige Erfordernis des Sozialismus so:
"Es ist eine neue technische Rekonstruktion der Volkswirtschaft zu verwirklichen und auf dieser Grundlage die materiell-technische Basis der Gesellschaft umzugestalten"... "Hebung der Volkswirtschaft auf ein prinzipiell neues wissenschaftlich-technisches und wirtschaftsorganisatorisches Niveau, ihre Überleitung auf den Weg der intensiven Entwicklung; Erreichung des Welthöchststandes in der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität, der Qualität der Erzeugnisse und der Effektivität der Produktion."
Nun wissen auch die Theoretiker der Partei, daß die Fortschritte der Ökonomie, auf die der sowjetische Staat gesteigerten Wert legt, nicht mit einem Parteiprogramm, sondern mit den "ökonomischen Hebeln", die einen so unschlagbaren Vorzug des Sozialismus ausmachen sollen, mit Fünf-Jahres-Plänen und mit staatlichen Vorgaben, befördert werden. Ins Programm gekommen ist der dringliche Wunsch des sozialistischen Staates nach einem "qualitativen Sprung" in seiner Wirtschaft, weil ihn sich die Partei gar nicht anders vorstellen kann, denn als erneuten Aufbruch der Massen: Das vorgenommene ökonomische Ziel sei nur mit dem qualitativen Sprung im Verantwortungsbewußtsein des "sozialistischen Menschen" zu erreichen. Darin geht das Parteiprogramm über eine bloße Planung hinaus, indem es den "sozialistischen Menschen" mit der Neufassung seiner Tugenden "Ordnung, Uneigennutz, Arbeitsdisziplin" zum Richtmaß des Sozialismus macht und die staatliche Gesetzlichkeit verstärkt darauf verpflichtet, den Parteiangehörigen und den Werktätigen die ihne wesensfremden Schwächen ablegen zu helfen. Was die Partei derzeit auf die Tagesordnung setzt, ist der Sozialismus als Erziehungskampagne ohne große Versprechungen.
Einerseits Kontrolle der Funktionäre:
"Es ist daraufhinzuwirken, den Leitungsapparat zu vereinfachen und seine Kosten zu senken, nicht gerechtfertigten Personalbestand zu verringern, Erscheinungen von Bürokratismus und Formalismus, von Ressortgeist und Lokalegoismus unablässig auszumerzen und sich ohne Verzögerung von inkompetenten und initiativlosen Mitarbeitern zu befreien. Unzuverläsiigkeit, Mißbrauch der Dienststellung, Karrierismus, Streben nach persönlicher Bereicherung, Vetternwirtschaft und Protektionismus müssen entschieden unterbunden und streng bestraft werden."
Andererseits Anleitung der Werktätigen:
"Die Partei wird beharrlich in den Arbeitskollektiven, bei jedem Werktätigen das Gefühl herausbilden, Herr des gesellschaftlichen Eigentums zu sein, wird alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz des sozialistischen Eigentums, zur Verhinderung jeglicher Versuche seines Mißbrauchs zu eigennützigen Zwecken... treffen."
Die Einheit von Perspektive und gesellschaftlicher Wirklichkeit hat Gorbatschow schon vordemonstriert mit der Amtsenthebung leitender Funktionäre wegen "erwiesener Unfähigkeit" und seiner Anti-Alkohol-Kampagne. Dieses jetzt zum Gesetz des Sozialismus erhobene Verhalten, das den gestiegenen Anforderungen der Ökonomie entspricht, ist um so mehr "objektiv notwendig", als der sowjetische Staat seine sozialen Dienste für sein Volk auch programmatisch unter den Zweck stellt, unter dem er auch schon früher seine Sozialpolitik betrieben hat:
"Die Partei betrachtet die Sozialpolitik als wirkungsvollen Hebel zur Beschleunigung der Entwicklung des Landes, zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft - und der gesellschaftlichen Aktivität der Massen, zur Herausbildung des neuen Menschen und zur Durchsetzung der sozialistischen Lebensweise, als wichtigen Faktor der politischen Stabilität der Gesellschaft. Sie geht davon aus, daß die Sozialpolitik zunehmenden Einfluß auf das Wachstum und die Erhöhung der Effektivität der Wirtschaft, auf alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens haben wird."
Dafür muß man nüchtern in die Zukunft blicken. Von sich aus und aus einer grundsätzlichen Kritik am patriotischen Willen ihrer Massen sind die sowjetischen Politiker nicht darauf gekommen, die Verheißungen des alten Programms aus dem Verkehr zu ziehen und die Effektivität und die dazu passende Arbeitsmoral zur leitenden Perspektive des Sozialismus zu erheben. Das 'immer mehr und immer besser' könnte im real existierenden Sozialismus getrost seinen langsamen Gang gehen. Die Wechselfälle des kapitalistischen Geschäfts mit seinen Krisen und Aufschwüngen samt den Problemen, die demokratische Politiker daraus entnehmen und ihr Volk ausbaden lassen, sind dort immerhin abgeschafft.
Allerdings hat der Freie Westen den sowjetischen Politikern in den letzten Jahren immer massiver einen Wettstreit angetragen, den diese durchaus nicht wollen, dem sie sich aber stellen. Die Konkurrenz zum kapitalistischen Westen, von der sich Chruschtschow einmal gewünscht hat, sie könnte auch mit der Waffe der überlegenen Vorzüge des sozialistischen Systems bestritten und entschieden werden, ist heute auf den harten Kern der politischen Selbstbehauptung des Sozialistischen Lagers reduziert, der einer NATO gegenübersteht, die von Koexistenz nichts hält und den Krieg vorbereitet. Die daran gewachsenen Ansprüche des sowjetischen Staates an seine Ökonomie, nicht eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit der sozialistischen Wirtschaft, stand beim neuen Entwurf Pate; auf seine Weise setzt das neue Parteiprogramm den Sozialismus als Vorkriegswirtschaft auf die historische Tagesordnung. Ohne Not nehmen kommunistische Politiker von der Verkündung der Beweise, daß sich der Sozialismus auch neben dem staatlich verwalteten Wirtschaftswachstum für die Massen lohnt, nicht Abschied; in ihren Augen ist das ja immerhin das überzeugendste Argument für den sozialistischen Weg.
So war es auch für die KPdSU nicht schwer mitzubekommen, daß der "friedliche" Handel zum "gegenseitigen Nutzen der Völker" die heile Welt nicht ist, als die sie mit sich einstellendem Nutzen bei den kapitalistischen Gegnern Versöhnung stiften sollte. Das Parteiprogramm bringt diese Einsicht mit dem Wunsch, verstärkt Handel zu treiben, um die eigene Ökonomie schneller voranzubringen, harmonisch zusammen:
"Die Partei sieht die gleichberechtigte und gegenseitig vorteilhafte ökonomische Zusammenarbeit von sozialistischen und kapitalistischen Staaten als natürlich und nützlich an, geht jedoch zugleich davon aus, daß die Entwicklung der sozialistischen Integration stärker dazu beitragen muß, die Gemeinschaft in technischer und ökonomischer Hinsicht gegenüber feindlichen Aktionen des Imperialismus, den Einflüssen von Wirtschaftskrisen sowie anderen negativen, dem Kapitalismus innewohnenden Prozessen unverwundbar zu machen."
Polen läßt grüßen!
Sozialismus = Weltmacht Sowjetunion
Der nützliche Dienst des sozialistischen Staates, an dem sich einstmals der Wunsch aller Völker nach Sozialismus entzünden sollte
"somit wird der Sowjetstaat der ganzen Welt ein Beispiel wirklich vollständiger und umfassender Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen geben" (1961) -,
fällt heute mit der Existenz seiner Staatsgewalt zusammen. Sie ist die Garantie der real existierenden sozialistischen Gesellschaft und nur darin noch Hüter und Vorbild eines menschheitlichen Wunsches, der mit objektiver Notwendigkeit den "überholten" Imperialismus von der geschichtlichen Bühne "hinwegfegen" sollte. Ihrer historischen Verantwortung für den sozialistischen Menschen entspricht die Sowjetmacht in ihrem Willen, sich gegen die Feindschaftserklärung der NATO zu behaupten. Die für das Volk erreichten historischen Erfolge fassen sich heute darin zusammen, daß die zur Weltmacht "aufgestiegene" Sowjetunion schon die "grundlegende Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses" ist.
Als atomare Großmacht vom Gegner Rücksicht verlangen zu können und bisher gefunden zu haben - freilich nur so, daß die NATO alles daran setzt, dieses Hindernis zu überwinden -, das ist die Errungenschaft, an der sich die Überlegenheit des Sozialismus erweisen soll.
Die alten revisionistischen Schlachtengemälde von einer Welt, in der die Arbeiter aller Länder und ihre kommunistischen Parteien, die Völker und alle fortschrittlichen Kräfte zusammen mit der brüderlichen Hilfe der Sowjetunion gegen den Hauptfeind der Menschheit stehen, sind damit verabschiedet; nicht weil das damals schon nicht die Wahrheit war, sondern weil die Partei auf Anstrengungen, diese Hoffnung wirklicher zu machen, verzichtet hat. Der edle Wettstreit um die menschenfreundlichste Gesellschaft, genannt "friedliche Koexistenz", zu der die Sowjetunion zu Chruschtschows Zeiten auch einmal ganz unideologische Mittel beigetragen hat, ist heute abgelöst durch die historische Mission der Weltfriedensmacht, den Westen zur Koexistenz zu zwingen. Dabei kennt die Sowjetunion nur einen Ansprechpartner: die USA. Denen soll das Friedensangebot der UdSSR einleuchten, daß sich wegen der russischen Waffenarsenale und der Verteidigungsfähigkeit der SU ein Weltkrieg nicht lohnen können soll. Weil die Sowjetunion auf
"die im Zusammenhang mit der wachsenden Aggressivität des Imperialismus komplizierter werdenden außenpolitischen Bedingungen" - eine schöne Verdopplung!
richtig reagiert, nämlich mit
"der Notwendigkeit der Erhöhung der Wachsamkeit, der Gewährleistung der Sicherheit des Landes und neuer und noch beharrlicherer Anstrengungen, die auf die Zügelung der Kräfte der Aggression, auf die Einstellung des Wettrüstens, die Befreiung der Menschheit von der Gefahr einer nuklearen Katastrophe, die Festigung des Friedens auf der Erde gerichtet sind",
sollen die USA aus ihren Interessen heraus dazu bewegt werden, auf die Erringung der militärischen Überlegenheit zu verzichten und gemeinsame Abrüstungsschritte zu unternehmen. An der Wahrheit des Parteiprogramms soll auch ein Reagan nicht vorbeikommen:
"Eine historische Errungenschaft des Sozialismus war die Herstellung des militärstrategischen Gleichgewichts zwischen der UdSSR und den USA, der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO. Dies festigte die Positionen der UdSSR, der Länder des Sozialismus und aller progressiven Kräfte und machte die Hoffnungen der aggressiven Kreise des Imperialismus auf den Sieg in einem nuklearen Weltkrieg zunichte."
Die Versuche "des Imperialismus, die Positionen des Sozialismus zu erschüttern und soziale Revanche im Weltmaßstab zu nehmen", will die SU nicht zulassen - und ausgerechnet dieser wahrgenommenen Gegnerschaft entnimmt sie die Gewißheit, daß sich kein Staatsmann des Freien Westens mehr der heutigen Menschheitsaufgabe "Frieden" entziehen könne: Das Wettrüsten führt zu nichts, weil wir dagegenhalten! Und dieses Ärgernis für westliche Politiker, das sie zu immer besserer Aufrüstung drängt, klagt die Sowjetunion als gemeinschaftliches Interesse ein, an dem sie ihre Gegner als unwillige und sich verweigernde Verhandlungspartner entlarvt.
In dieser Einschätzung ist das Parteiprogramm sehr pragmatisch geworden. Das Friedensprogramm des Sozialismus hängt allein an den "ureigenen Interessen" der USA und ihrer bedeutenden Mitmacher, von denen die UdSSR sie überzeugen will, und es hängt von den eigenen Machtmitteln ab, die der anderen Seite den Dialog gebieten. Der einstmals gefeierte Internationalismus ist darüber zur marginalen Pflichtübung geworden. Dafür, daß die Bruderparteien in den westlichen Ländern inzwischen Parteigänger ihrer Nationen geworden sind, zeigt die KPdSU volles Verständnis, "berücksichtigen" sie doch "die nationale Spezifik und die konkrete historische Situation". Diese Liberalität, die ein Chruschtschow nicht leiden konnte - der hat noch auf ideologischer Linie und dem Kampf gegen abweichende Meinungen als Programmpunkt der Partei bestanden -, ist freilich dasselbe wie die offizielle Kundgabe, daß die Bruderparteien im Westen in der weltpolitischen Kalkulation der UdSSR keine Rolle mehr spielen. Genauso wenig mag sie im Ernst noch auf die fortschrittlichen Kräfte und die unabhängig gewordenen Staaten setzen, die auch im neuen Programm die kommunistische Welttendenz belegen. Sie will sie weder überzeugen noch gewinnen. Weil sie praktisch auf das "Kräfteverhältnis" gar nicht mehr setzt, das unabhängig von Warschauer Pakt und NATO die politische Richtung der Welt auf das Endziel Sozialismus verschieben können sollte, sind die im neuen Parteiprogramm erwähnten Bündnispartner in ihrer Zahl sogar noch gewachsen. Es graust den kommunistischen Parteitheoretikern heute weder vor den sozialdemokratischen Parteien mit ihrem gar nicht alternativen Bekenntnis zur Unverzichtbarkeit der NATO, noch vor Bewegungen, denen als höchste Kritik Umwelt einfällt.
Das Kapitel des alten Programms "Der Kampf gegen die bürgerliche und reformistische Ideologie" hat die Partei jetzt in die Mottenkiste des Sozialismus gelegt.
Mehr als die Existenz und die Behauptung des Sozialismus in den Grenzen der "Sozialistischen Staatengemeinde" will die Partei als leuchtende Perspektive ihrer Notwendigkeit gar nicht mehr anführen. Und im Programm legt sie sich Rechenschaft darüber ab, daß selbst das kein Faktum, sondern eine Aufgabe ist, die immer mehr Anstrengung fordert:
"Um die Position des Sozialismus zu schwächen, die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten und vor allem zur Sowjetunion zu stören setzt der Imperialismus ein ganzes System differenzierter politischer, ökonomischer und ideologischer Maßnahmen ein, versucht er aus auftretenden Problemen Profit zu ziehen und nationalistische Stimmungen für seine subversiven Ziele zu nutzen."
Auch die Einheit des Sozialistischen Lagers gibt es nur, soweit die Macht der Sowjetunion reicht, diese zu sichern. Einen freiwilligen Abgang aus der Weltgeschichte verspricht das Parteiprogramm nicht. Umgekehrt weiß und verkündet die Partei, daß auch sie einen für sie einleuchtenden Kriegsgrund kennt, wenn nämlich die andere Seite das mit dem militärischen Gleichgewicht gesicherte Lebensrecht des Sozialismus aufkündigt. Auf dieser Position beharrt die UdSSR gegenüber dem Westen - nicht nur bei Verhandlungen:
"Das Gipfeltreffen ist für Verhandlungen bestimmt, und zwar für Verhandlungen auf der Grundlage der Gleichheit, und nicht für die Unterzeichnung eines Aktes über jemandes Kapitulation, zumal wir gegen Amerika keinen Krieg, nicht einmal einen Kampf verloren haben und ihm absolut nichts schulden." (Gorbatschow über Genf, Interview mit "Time")
Um diesen Erfolg zu behaupten, setzt sie mit dem Parteiprogramm neue Notwendigkeiten des Sozialismus als moralische Ansprüche in die Welt.
So hat sich der Schwung des alten Parteiprogramms mit seiner Zufriedenheit darüber, daß der Sozialismus zumindest als der von der Sowjetunion angeführte Ostblock real geworden ist, sehr normalisiert. Realistisch ist der neue Entwurf deswegen aber nicht geworden. Es ist eben ein Unterschied, die sowjetischen Bürger über die Zwecke des Gegners der sozialistischen Gesellschaft aufzuklären und sie für die Einsicht in darüber notwendig gewordene Schritte des eigenen Staates zu agitieren; oder Retouchen an der Welttendenz vorzunehmen, damit die Realität des existierenden Sozialismus mit der "wissenschaftlichen Begründung" zusammenpaßt, die aus einer ganzen Staatsgewalt ein Hilfsmittel für die Moral des "sozialistischen Menschen" macht.
Bis zum Parteitag im März 1986 ist jetzt die Diskussionskampagne über den neuen Entwurf in allen Arbeitskollektiven und Parteigremien angelaufen. Für westliche Begutachter wieder einmal ein Beispiel für das Schauspiel einer "inszenierten" Zustimmung des Volkes, die russische Politiker erzwingen, weil ihnen die wirkliche = demokratische Übereinstimmung mit ihm fehle. Inszeniert ist die Kampagne ungefähr so wie die Wahlen hierorts; auch die sind ein staatlicher Hoheitsakt und finden statt, wenn die Regierung sie ansetzt. An den bis jetzt in Leserbriefen veröffentlichten Änderungsvorschlägen läßt sich feststellen, daß die mit dem Programm Angesprochenen seinen Inhalt begriffen und gebilligt haben.
"In dem Absatz: 'In jeder Vereinigung, in jedem Betrieb und an jedem Arbeitsplatz müssen die Reserven für die Steigerung der Arbeitsproduktivität maximal ausgenutzt werden' soll eingefügt werden: 'in jedem Ministerium und jeder Behörde'..."
Dieser Gerechtigkeitsfanatismus von unten ehrt das Programm - nicht abzusehen, warum die Partei Angst vor der Stimme ihres Volkes haben sollte. Wo doch die Pflichten so allseitig verteilt sind.