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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1985 erschienen.

Systematik

Günter Wallraff
DIE GEGEN-ÖFFENTLICHKEIT IN PERSON

"Sämtliche Versuche oppositioneller Minderheiten in der BRD, durch die Entlarvung eindeutiger Praktiken... einen öffentlichen Skandal herbeizuführen, sind gescheitert." (MARXISTISCHE GRUPPE, Resultate Nr. 1/Neufassung..., 3 f)

Günter Wallraff hat es wieder einmal versucht mit einem Buch über seine Erfahrungen als Türke und Leiharbeiter Ali Levent Sinirlioglu in den Niederungen der bundesrepublikanischen Arbeitswelt. Er hat mehr Käufer, mehr Öffentlichkeit und mehr Zustimmung als je zuvor gefunden - bei kritischen Intellektuellen, Gewerkschaftlern, Lehrern, Staatsanwälten, Presse, SPD FDP CDU-Politikern - kurz: bei so gut wie allen bis auf die Springer-Presse, die beharrlich schweigt.

"Es ist erstmalig in der Bundesrepublik gelungen, über ein Buch eine proletarische Öffentlichkeit herzustellen." (Spiegel 46/85), meint Wallraff dazu selber. Ein unfreiwilliges Eingeständnis, wie wenig es doch braucht, damit dieser Radikaldemokrat ein Stück Gesellschaftsveränderung verwirklicht sieht. Das kommt daher, daß er sich mit Haut und Haar dem Ideal einer demokratischen Gegenöffentlichkeit verschrieben hat.

Seit zwanzig Jahren - aufdecken, entlarven, bekanntmachen...

"Schreiben ist Agitation mit Tatsachen... Keine Anklagen ins Blaue hinein richten, nicht 'Anzeige gegen Unbekannt' erstatten... die Dinge so beschreiben, daß jeder merkt, so was kann nicht erfunden sein, so weit reicht die Phantasie nicht, das ist wirklich passiert." (In Sachen Wallraff, 19)

"Keiner kann heute mehr so tun, als hätte er von alledem nichts gewußt." (Interview in 'interbuch', Mai 85)

"Ich war der Narr, dem man die Wahrheit unverstellt sagt." (Ganz unten, 12)

Wallraff ist ein Wahrheitsfanatiker eigentümlicher Art. Er will nicht die kapitalistischen Geschäftspraktiken und den Umgang mit Lohnarbeitern erklären, die Taten demokratischer Politiker analysieren, die verbreiteten Ideologien widerlegen, sondern mit 'Tatsachen' bekannt machen. Seit 20 Jahren ist er damit beschäftigt, unter größten persönlichen Opfern vor Ort zu recherchieren und öffentlich zu machen, daß es in kapitalistischen Betrieben schlimm zugeht, daß gegen Gesetze verstoßen wird, daß Unternehmer rücksichtslos ihr Profitinteresse geltend machen und dafür öffentliche Propaganda und politische Unterstützung verlangen; daß Strauß und Co. faschistische Generäle protegieren; daß griechische Obristen Gegner einsperren und foltern; daß Polizei und Staatsanwaltschaft beim Tod eines Demonstranten lügen und falsch ermitteln... und was es an allbekannten Alltäglichkeiten in einer funktionierenden Demokratie mehr gibt. Es macht ja wahrlich keine Schwierigkeiten, solche Vorkommnisse zuhauf aufzufinden.

Schwer macht es sich nur Wallraff selber: Muß man sich wirklich erst in Athen ins Foltergefängnis werfen lassen, um etwas über den Charakter der Militärdiktatur zu erfahren? Muß man erst selber zwei Jahre den Türken in deutschen Betrieben spielen, um die Brutalitäten auf den untersten und ständig ins Illegale ausgreifenden Stufen der Ausbeutungshierarchie kennenzulernen? Muß man erst einem General Spinola durch Verstellung Putschpläne und Beziehungen zu Strauß entlocken, um deren offen verkündeten Ordnungsfanatismus aufzuspüren? Muß man auch noch über die massenhaften täglichen Erlebnisse als türkischer Leiharbeiter hinaus mit List und Tücke auskundschaften, wieweit der Arbeitgeber im rücksichtslosen und ungesetzlichen Umgang mit seiner Türkenmannschaft zu gehen bereit wäre - bis zum lebensgefährlichen Einsatz in einem lecken Kernkraftwerk nämlich?...

Der bis zur Selbstaufgabe betriebenen Dokumentationssucht liegt offensichtlich die Verwechslung von Wahrheit mit authentischer Erfahrung, von Überzeugung mit persönlicher Anschauung, von Gründen mit unzweifelhaften Tatsachen zugrunde. Diese Verwechslung beruht auf einer erzdemokratischen Täuschung über den Geistes- und Gemütszustand demokratischer Bürger. Wallraff will nicht zur Kenntnis nehmen, daß all solche, ihm geradezu ungeheuerlich vorkommenden Fakten, im Prinzip aller Welt längst geläufig sind, wie ihm selbst übrigens ja auch. Daß um sie deshalb kein Aufhebens gemacht wird und die Öffentlichkeit nicht mehr davon wissen will, weil sie längst eine Interpretation parat hat: Es handelt sich um wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten sowie (un)vermeidbare mißliche Begleiterscheinungen, Gesetzesverstöße und leidige Auswüchse. Die Öffentlichkeit weiß sich eben mit ihren moralischen Ansprüchen an Politik und Wirtschaft den gültigen Interessen verpflichtet. Wenn Wallraff Wahrheit mit glaubwürdiger Bekanntmachung bisher unbekannter Tatsachen verwechselt und solche Tatsachenfeststellung für dasselbe wie Anklage hält, dann kann er sich offenbar gar nicht vorstellen, daß die Mehrheit im Lande mit dem Wissen um solche Zustände in der Demokratie widerspruchslos leben könnte. Er unterstellt ihr, daß sie - nur entschieden genug aufmerksam gemacht - all das genauso empörend finden muß wie er selber oder zumindest eigentlich finden müßte. Damit verläßt er sich ganz auf einen staatsbürgerlichen Gerechtigkeitssinn und demokratischen nstand, dem er durch möglichst drastisches und unwiderlegliches Material 'die Augen öffnen' will über die wahren Zustände in dieser Republik. Diese Sorte 'Aufklärung' besteht also darin, die angeblich beständig hinters Licht geführten Bürger ständig Wallraffs eigene enttäuschte Hoffnungen in das demokratische Gemeinwesen am entsprechend dargebotenen Material nachempfinden zu lassen.

Der herzensguten Meinung über die demokratische Mehrheit entspricht auf der anderen Seite eine ebenso schlechte Auffassung von der kapitalistischen Wirtschaft.

Der Kapitalismus - ein System zynischer Machenschaften

"Nennen wir Unordnung und Willkür beim Namen... wir sprechen vom Kapitalismus, von jenem ziellosen, konzeptionslosen Wirtschaftssystem, das hierzulande 'freie Marktwirtschaft' genannt wird. Eine treffende Bezeichnung, denn die Wirtschaft und die sie Lenkenden sind tatsächlich frei, sie sind nahezu das einzig wirklich freie in diesem Land: sie haben die Freiheit zu wuchern und zu fälschen, zu hehlen und zu stehlen, zu vergiften und zu unterdrücken, alles Leben im Keim zu ersticken, sie haben die Freiheit von Amokläufern, die noch keiner gebremst hat." (In Sachen Wallraff, 14 f)

"Eine wirklich offene, durchdemokratisierte Gesellschaft, in der diese imaginären Warnschilder vor den Fabriktoren 'Vorsicht, Sie verlassen den demokratischen Sektor der BRD' entfernt wären, würde sich der Kontrolle ja nicht entziehen, sondern geradezu dazu auffordern." (In Sachen Wallraff, 69)

In den Geschäftsgrundsätzen der abstrakten Reichtumsvermehrung, denen die Herstellung nützlicher Gebrauchswerte und die Bedürfnisse der Produzenten untergeordnet sind, entdeckt der Moralist einen einzigen zynischen und verbrecherischen Verstoß - gegen menschenfreundlichere Weisen des Arbeitens und Konsumierens. Daß sich seine hehren Vorstellungen eines demokratischen Rechts auf ein erträgliches und einvernehmliches Werkeln und Leben für die Mehrheit der Bürger an den betrieblichen Realitäten des Einsatzes von Lohnarbeitern gründlich blamieren, sieht er schlicht umgekehrt: Die kapitalistischen Zustände sind eine einzige Ungehörigkeit gegen seine demokratischen Werte einer modernen Gesellschaft, in der Würde, Anerkennung und materielle Besserstellung jedem von Rechts wegen zustehen; denn durch das "System der grenzenlosen Ausbeutung und Menschenverachtung" (Ganz unten, 255) wird der Mehrheit dies (Menschen-)Recht beständig vorenthalten. Miese Arbeitsbedingungen, persönliche Schikane und Gesetzesbruch, nationalistische Vorurteile, ungemütliche Reproduktionsumstände, Verschleiß von Gesundheit und Natur, alles steht letztlich für das Generalurteil: An diesen Zuständen blamiert sich die Republik; sie widersprechen einer wahren Demokratie - also ist die dort außer Kraft gesetzt und selber laufend in Gefahr.

"Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt - in unserer Demokratie. Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden." (Ganz unten, 12)

Man weiß gar nicht, worüber man mehr den Kopf schütteln soll: über die Blauäugigkeit, mit der Wallraff nach 20 Jahren Erfahrungen immer noch nicht klug geworden ist; was hat er denn eigentlich erwartet, wenn er als ausländischer Leiharbeiter loszieht?! Über die Selbstverständlichkeit, mit der er die modernsten demokratischen Fabrikzustände zu den eigentlich überholten Unmenschlichkeiten vergangener Epochen zählt. Über die Unerschütterlichkeit, mit der er demokratische Verhältnisse als einen Gegensatz zu rassistischen Urteilen rechtlicher Sortierung und politischer Organisation proletarischer Dienste für Wirtschaft und Staat ansieht.

Oder darüber, daß der unverbesserlich Gutgläubige sich solche 'Verstöße' nur aus persönlichen Charakterschweinereien, üblen Machenschaften, Heimlichkeiten und verbotener politischer Kumpanei erklären kann. Mit dem untrüglichen Instinkt eines aufrechten Demokraten entdeckt er überall "feudalistische" "Herrenreitertypen", geheime Mauscheleien zwischen Wirtschaftsmanagern und Politikern, öffentlichkeitsscheue Geheimniskrämerei.

Bloß, daß Kapitalisten auf die politische Unterstützung ihrer besonderen Geschäftsinteressen auch etwas außerhalb des legalen prinzipiellen Einverständnisses von Politik und Wirtschaft drängen; daß sie solche Beziehungen und Freundschaftsdienste nicht gerade an die große Glocke hängen; daß das kapitalistische Fabrikregime immer noch mit Befehl und Gehorsam funktioniert; daß zur Entscheidungsbefugnis und zum betrieblichen Überblick auf der einen Seite stures und geistloses Arbeiten auf der anderen gehört - all das heißt noch lange nicht, daß der kapitalistische Betrieb eine gegen die allgemeinen Interessen und die Demokratie gerichtete Veranstaltung zynischer Dunkelmänner wäre. Genau so faßt Wallraff das aber auf. Überall entdeckt er fehlende politische Kontrolle und fehlende öffentliche Überwachung; überall vermißt er die Beteiligung derjenigen, denen seiner Auffassung nach dieses Wirtschaftssystem eigentlich doch dienen sollte: Überall bemängelt er das Versagen der politisch Verantwortlichen, die - ausgerechnet! - eigentlich die Machenschaften der Wirtschaft herren in anständige rechtliche Schranken zu weisen hätten und auch ihr eigenes Treiben den mündigen Bürgern zur Prüfung und Korrektur vorlegen müßten.

Und da die Politiker in Verfolgung des nationalen Interesses alles andere tun, hat der Anwalt demokratischer Kontrolle längst eine dritte Instanz im Sinn, die Licht in das menschenfeindliche Zusammenspiel von Profitinteressen und korrupten Politikern bringen soll, das sich angeblich ganz im Geheimen vollzieht: die Öffentlichkeit. Freilich, da weder die Kapitalisten noch die politischen Herren das Licht der Öffentlichkeit scheuen, sondern umgekehrt in der ihre Absichten kundgeben, Maßstäbe nationalen Erfolgs, geschäftlichen Fortschritts und notwendiger Opfer fürs Volk propagieren und damit durchaus auf Verständnis stoßen, hat sich auch diese Instanz in den Augen von Wallraff gehörig blamiert.

Die Springer-Öffentlichkeit - Lüge, Manipulation um des Geschäftswillen

"Auch in diesem Buch geht es um Gewalt, um eine besondere 'geistige' Spielart, die keiner Molotow-Cocktails und Maschinengewehre bedarf. Die Opfer sind Menschen, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Würde... Opfer einer Maschinerie, die geistige Gewalt automatisch produziert..." (Der Aufmacher, der Mann der bei BILD Hans Esser war, 9)

"Opfer dieses Prozesses der Manipulation sind erstens das Publikum, der BlLD-Leser... und zweitens der BlLD-Knecht, der einfache Reporter oder Redakteur." (155)

So wie Wallraff als Menschenfreund den Betriebsalltag zu einer einzigen Beleidigung und Erniedrigung der Menschenwürde stilisiert, so dämonisiert er umgekehrt als demokratischer Aufklärungsfanatiker die Öffentlichkeit für die Massen, Paradebeispiel Springer-Presse, zu einer dazu passenden menschenvernichtenden Veranstaltung. Dem authentischen Nachweis, daß BILD lügt, erfindet, das Volk entmündigt und Leute in den Tod treibt, hat er vier Monate als Reporter in einer BlLD-Redaktion geopfert, Gipfelpunkt seiner Selbstverleugnung.

Bloß, vor lauter Glauben an journalistische Sorgfaltspflicht und Respekt vor den ewigen Opfern des Systems täuscht er sich auch hier über Charakter und Leistung öffentlicher Ideologienbildung. Daß dieser Journalismus die freiwilligen und unfreiwilligen Storylieferanten sowie die Leser - die "Primitivos", wie Wallraff W. Boenisch zitiert - mit"zynischer Verachtung" bedenkt, heißt noch lange nicht, daß solche Öffentlichkeit als Verstoß gegen volksfreundliche Wahrhaftigkeit richtig kritisiert wäre. Es sind schließlich gültige Ordnungsmaßstäbe, Ansprüche auf gute Führung, wirtschaftlichen Erfolg, nationale Größe, ein moralisch einwandfreies Volk und alltäglichen Anstand, die da mit Wahrheiten und Lügen gefüttert, erweckt, unterhalten und am Leben gehalten werden. Gerade auch die ruf- und existenzgeschädigten BlLD-Opfer beweisen ja nur die Gültigkeit der Anstandsregeln, an denen sie blamiert und für deren Bestätigung sie sensationell und unmittelbar verständlich zur Story aufbereitet werden. Freilich, wer demokratische Massenpresse an einer Berichterstattung mißt, mit der aufgeklärte Schreiber den 'wahren' Bedürfnissen ihrer Adressaten gerecht werden und ihnen mit Respekt, Verständnis und gerechtem Zorn gegen die Mächtigen im Lande Aufklärung und Unterstützung zukommen lassen sollen, für den sind die 'kleinen Leute' in der BILD- Redaktion und die von ihnen zum Thema gemachten 'kleinen Leute' samt den Lesern gleichermaßen Opfer eines undemokratischen "BILD-Systems".

Damit ist das Weltbild des radikalen Journalisten Wallraff vollständig. Für ihn ist die Gleichsetzung von Ausbeutung mit menschen- und öffentlichkeitsfeindlichen Machenschaften, die Gleichsetzung der täglichen Berichterstattung einer staatstragenden 50-Pfennig-Presse mit Ausbeutung und die Gleichsetzung von beidem mit Machtmißbrauch keine bloße Metapher. Beides ist Teil gesellschaftlicher Unterdrückung, der Verhinderung von Demokratie und Massenbewußtsein: Kapital und Politik scheuen das Licht der Öffentlichkeit, und eine korrumpierte Presse erspart ihnen, an selbiges gezerrt zu werden. Dagegen kämpft Wallraff.

Gegenöffentlichkeit - Bloßstellen im Namen des Volkes

"Die dargestellten Fälle sind keine Ausnahmen. In ihnen zeigen sich Grundmuster des Systems, das gerade im Bereich der Produktion Autorität und Hierarchie aufrechterhalten und Demokratie verhindern will... Sorgen Sie mit dafür, daß bekannt wird, was vertuscht werden soll. Öffentlichkeit ist ein Mittel, um Macht und Herrschaft, Willkürmaßnahmen und Unrechtsentscheidungen der Repräsentanten des Kapitals einzudämmen. Achten Sie darauf, wenn an Ihrem Arbeitsplatz, in Ihrem Betrieb Gesetze verletzt werden. Kontrollieren Sie die Kontrolleure!

Wenn Sie ähnliche Fälle schildern können, Dokumente haben oder Erlebnisberichte, informieren Sie mich bitte. Sie tun damit den ersten Schritt zur Veränderung der Verhältnisse. Schicken Sie Material an..." (Aufruf)

"Wenn die vorliegende Inszenierung dazu beiträgt, die Wachsamkeit und Kontrolle der Öffentlichkeit und einzelner Medien diesen Geheimwelten gegenüber zu verstärken und zu sensibilisieren, hat es den Aufwand gelohnt." (Ganz unten, 254 f)

Der Mann nimmt seine Sache mit der Bloßstellung undemokratischer Machenschaften wahrhaftig so ernst, daß er zwischen Bekanntmachen, Anprangern und Kontrollieren, zwischen anklagender Menschenfreundlichkeit und staatsanwaltlichem Spürsinn auf der Suche nach Verstößen, zwischen Beschwerdewesen gedeckelter Proleten, journalistischen Recherchen und Widerstand nicht mehr recht unterscheiden kann und will. Er glaubt eben unerschütterlich daran, daß die Mächtigen eigentlich nicht in aller Öffentlichkeit zu ihrem Treiben stehen könnten, also auch - vor den geistigen Richterstuhl eines öffentlichen Gewissens gestellt, angeklagt und verurteilt - sich Hemmschwellen auferlegen müßten.

Kein Wunder, daß er mit seinem "Skandaljournalismus" die unterschiedlichsten Interessenten anspricht: Staatsanwälte, die seine Nachforschungen auf gerichtsverwertbares Material abklopfen und seine Methoden rechtlich begutachten; Betriebsräte und Gewerkschaftler, die seinen Sozialreports mühelos Propagandamaterial für mehr Mitbestimmung in Betrieb und Sozialpolitik entnehmen; Arbeiter, die für Beschwerdeanliegen ihn als richtige Adresse ansehen; eine Öffentlichkeit, die sich als der theoretische Wächter über Gerechtigkeit und Sozialordnung aufführt. Und alle sind sie Wallraff irgendwie recht und lebendige Beweise einer zunehmenden "Sensibilisierung" gegenüber den unhaltbaren Zuständen.

So häuft er auf der einen Seite Skandalfall auf Skandalfall, statt auf seine Erlebnisse auch nur einen theoretischen Gedanken zu verschwenden. Auf der anderen entdeckt er selber zielstrebig lauter hoffnungsvolle Unterschiede zwischen den unmenschlichen gesetzlosen Zuständen 'ganz unten' und den (angeblich allein) gewerkschaftlich mitbestimmten etwas weiter oben; zwischen "Bild" und einer verständnisvolleren Presse. Wenn nur "zwei von 12.000 Prozessen" gegen illegale Leiharbeit vorankommen; wenn er den Vorzeigeredner auf gewerkschaftlichen Veranstaltungen machen soll; wenn Thyssen die feste Anstellung von ein paar seiner Leiharbeitskollegen verspricht - schon sieht Wallraff darin einen Erfolg und gibt sich zuversichtlich über Fortschritte im "System der grenzenlosen Ausbeutung und Menschenverachtung":

"Ab heute, davon bin ich überzeugt, arbeitet kein Ausländer mehr ohne Staubmaske." (Weltwoche, 24.10.)

Sehr ordnungs- und gesetzeskonform sowie hoffnungslos gutgläubig nimmt sich hier die großartige Kontrolle der Menschenverächtei durch die sensibilisierte Demokratie aus. Wie immer, wenn Rigorismus auf praktische Abhilfe aus ist, wird er äußerst bescheiden - und versteht noch die billigste Erledigung seiner Weltverbesserungsvorhaben durch staatsdienliche Rechtsprechung und öffentliche Heuchelei als Schritt in die Zukunft, als kleinen eben. Vor lauter Freude über die so nun doch nicht erwartete Aufmerksamkeit merkt er nicht einmal, daß er diesmal mit seinem Buch einen wirklich für jedermann ohne weiteres brauchbaren und bewältigbaren öffentlichen 'Skandal' aufgedeckt hat. Für gerichtliche Ermittlungen, öffentliches Mitleid und soziale Gerechtigkeitsphrasen eignet sich "Ganz unten" bestens, weil es von Thema und Machart her darauf ausgerichtet ist - bloß immer noch ein bißchen ernster, grundsätzlicher und aufrichtiger gemeint als bei seinen Ausschlächtern.

Ernst machen mit seinem Radikalismus eines öffentlichen Fürsprache- und Anklägerwesens im Namen des Volkes, stellvertretend für eine zum Schweigen verurteilte Mehrheit, das macht Wallraff nur bei sich selber. Für sich persönlich denkt er den volksfreundlichen Idealismus zu Ende, die wahren Arbeiterinteressen und -leiden zu Gehör und sie damit selber zum Sprechen bringen zu wollen. Dabei kommt natürlich alles andere heraus als vorm Betrieb Arbeiter gegen "das System" aufzuhetzen. Als Mann der Öffentlichkeit Sprachrohr der Entrechteten sein, als Nicht-Arbeiter und Meinungsbildner die Differenz zu ihnen und ihren Gegensatz zur Öffentlichkeit aufheben, heißt das eigentümliche Anliegen - und das ist, um auch noch die ärgerlichste Seite des Aufklärers Wallraff aufzuführen, mit all seinen Härten und Rücksichtslosigkeiten gegen die eigene Person ein Persönlichkeits- und Literaturprogramm. Das Programm nämlich, sich persönlich gemein zu machen mit den bitteren Erfahrungen und dadurch wirklichkeitsnah literarisch wirken zu können.

Proletarische Öffentlichkeit - moralische Erziehung oben und unten

"Und ich zeige in meinen Arbeiten ja doch auch immer, daß es eine Befriedigung verschafft, es auch Spaß macht, es eine sinnliche Freude ist, wenn du dich als Schwächerer absolut mächtigen Institutionen gegenüber behauptest..." (SZ, 24.10.)

"Dieser David-Goliath-Effekt treibt nicht nur mich an, er wirkt offenbar auch ansteckend auf meine Leser..." (Interbuch, Mai 85)

"Ich spürte, daß ich auch entrückt war von meinem Ausgangspunkt und es deshalb nötig hatte, meinen Standort neu bestimmen zu können, um meine Empörung, auch meine Wut wieder umsetzen zu können." (SZ, 24.10.)

"Dann tauche ich wieder unter, dann lege ich die bürgerliche Hülle wieder ab, weil es sonst nicht mehr stimmt und ich auch vor mir selber unglaubwürdig würde." (In Sachen Wallraff, 92)

Das ist nun allerdings eine eigenartige Weise, das "bessere Mögliche ins Auge zu fassen" und "die Mächtigen" zu "kontrollieren". Wallraff glaubt nämlich an den guten kleinen Mann, der den mächtigen Institutionen hilflos ausgeliefert ist und Mutzuspruch und ein Vorbild braucht, um sich seiner Möglichkeiten bewußt zu werden. Als jemand, der es sich ohne die unbedingte Abhängigkeit vom Betriebsherrn leisten kann, will er beispielhaft vorführen, daß sie zu überlisten sind, die Allmächtigen, Allwissenden, und daß man ihnen mit ein bißchen Witz und Raffinesse auf die Schliche kommen kann. Freilich, Widerstand von unten wird da zur literarischen Phrase und zum heimlichen Rollenspiel - bevor der Autor dann seine Publizität in der bürgerlichen Öffentlichkeit, also bei seinen eigentlichen Adressaten, den gar nicht mehr widerständlerischen gewerkschaftlichen Propagandamühlen leiht.

Auf der anderen Seite verschreibt er sich die Verwandlung vom 'privilegierten Bürger'in einen unterprivilegierten Proleten als ziemlich verrücktes Selbstverwirklichungsprogramm. Immer mal wieder ganz handfest den Standpunkt des Opfers einnehmen, sich selber zum Betroffenen machen, das braucht offenbar dieser Menschenfreund, der bei aller Verstellung partout nicht heucheln, aber auch nicht ein Stück weit über seine mitfühlenden Urteile hinausdenken will, um sein humanitäres Gefühlsleben und seinen Gerechtigkeitssinn so richtig in Wallung zu halten. - Und um als kritischer "Wortarbeiter" vor sich und seinen schriftstellerischen Ansprüchen glaubwürdig zu bleiben.

Literaturmoral - Böll radikal

"...da ist auch der Bruch zwischen Journalismus und Literatur. Journalismus ist immer etwas Gefiltertes, von außen Abgeschautes, und nur das wirklich existentiell Erlebte, was einen in der eigenen Existenz auch bedroht, kann sich im Schreiben so umsetzen, daß es eine ganz andere Durchdringungskraft erreicht." (In Sachen Wallraff, 105)

"Die genau beobachtete und registrierte Wirklichkeit ist immer phantastischer und spannender als die kühnste Phantasie eines Schriftstellers." (Neue Reportagen, 133)

"Vor allem das Mittel des Kontrastierens, das auf Widersprüche und Brüche der Realität hinweist, setzt den Leser in die Lage, selbst... Schlußfolgerungen zu ziehen." (Neue Reportagen, 134)

"Ein Widerspruch wäre gewesen: von der Stadt, von den Steuerzahlern gefördert - von ein bißchen Schickeria genutzt, ansonsten dem Verfall preisgegeben. Widerspruch löst Gedanken aus ..." (Der Aufmacher, 42)

Wer Parteinahme für die Ausgebeuteten mit Fürsprecherschaft für sie im bürgerlichen Lager verwechselt, wer mit Bewußtmachen von Arbeitern die moralgerechte Lieferung von Anschauungsmaterial ihrer eigenen Scheiße meint, für den ergibt sich auch der Übergang zur entsprechenden Gestaltung der Anschauungen recht zwanglos. So preist Wallraff seine Enthüllungen und Erfahrungsberichte zuguterletzt als die bessere - eben wirklichkeitsgetreuere und wahrhaftigere Literatur: Schreiben, richtig Schreiben ist Demokratie schaffen. So meint er auch noch das uralte holde Literatenproblem des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit gelöst zu haben - zugunsten einer nicht bloß erbauenden, garantiert echten, garantiert überzeugenden und lebensnahen Anklageliteratur, die immer auch mehr als nur theoretisch wirkt. Deshalb versteht er seine Reportagen und öffentlich gemachten Erfahrungen und Recherchen als angemessene Form für diesen gar nicht so aparten intellektuellen Anspruch. Bis in die Stilmittel hinein was er für einen 'Widerspruch' und damit schriftstellerisches Parademittel hält - dokumentiert er damit allerdings, daß er ein hoffnungsloser Idealist mit Menschheitsbotschaft ist.

Was Wunder, daß ihm Literatur und Leben, Recherche und Persönlichkeitsbildung, Schriftstellerei und Solidarität mit den Ausbeutungsopfern unentwegt durchein andergehen; daß er schreibt, um aus dem Erlös Spendenkonten zu füllen; daß er zur solidarischen Unterstützung aufruft, um daraus neue Bücher zu verfertigen - und daß die moralische Wirkung zwar eine ungeheure ist, die praktische Hilfe für die, denen nicht zu helfen ist, allerdings kaum das normale Sozialhilfemaß übersteigt:

"Vergangenen Donnerstag hat Wallraff die ersten 22 seiner ehemaligen Arbeitskollegen von den Verleiher-Firmen Remmert und Vogel zum Einstellungsgespräch beim Thyssen-Personalchef begleitet." (Spiegel 46/85)

In zwanzig Jahren hat Wallraff mit all seinen Erfahrungen also nichts dazugelernt - außer daß seine aufopfernde Tour garantiert wirklichkeitsgetreuer Anklagen an die Gesellschaft ihn immer mehr persönliche Kraft kostet.

Die Gegen-Gegenöffentlichkeit - schwer positiv

Zum Beispiel "Der Spiegel"

"Der Under-Cover-Autor ist eingedrungen in eine kriminelle Szene von Menschenhändlern, die an der Notlage der Fremden verdienen - Geschäftemacher, die den Fiskus um Steuern, Krankenkassen und Sozialversicherungen um Beiträge und Arbeiter um ihren Lohn prellen." (43/85) (Genau in der Reihenfolge!)

"...innerhalb der ersten zwei Wochen 647.258 Exemplare... womöglich Weltrekord... der 'Stern'... vergebens um einen Vorabdruck bemüht" (46/85)

Und wer hat den richtigen Riecher gehabt, sich das Vorabdrucksrecht gesichert und kann jetzt schon die ersten Leserbriefe veröffentlichen von wegen "ohnmächtiger Wut", "Skandalzustände;' und so? "Der Spiegel" natürlich - in aller Solidarität unter Enthüllungsjournalisten. Der eine macht, blöd und menschenfreundlich wie er ist, die Drecksarbeit vor Ort; der andere berichtet vorab exklusiv darüber und registriert hinterher den durchschlagenden Erfolg bei Publikum und Beschuldigten. Ach, sind sie wieder einmal - dank der Aufmerksamkeit des "Spiegel" - ins Fettnäpfchen getreten, die Dunkelmänner von der Industrie und die Tölpel vom "Stern"!

Zum Beispiel die "Süddeulsche Zeitung"

"Günter Wallraff. Sie sind mit diesem Buch wieder zu ihren Anfängen zurückgekehrt... Was haben Sie eigentlich in dieser jahrzehntelangen Arbeit über sich selber erfahren?... Ihren früheren Selbstekel, auch Ihre Todessehnsüchte... man merkt, das ist ein Mensch, der erleben kann. Wo sind Sie heute als Autor angekommen?" (23.10.)

Der Feuilletonschreiber, nicht umsonst Herausgeber eines Buches über Wallraff, kennt sich einfach aus in den feinen Übergängen vom guten Journalismus zur Literatur. Sein Gespür für die Schwierigkeiten beim kulturfähigen Erleben und für die geistige Vita einer Autorenpersönlichkeit ist untrüglich. Da läßt es sich gut nach Wallraff fragen, getreu seiner Bitte, "nicht so sehr über ihn, sondern über sein Buch zu berichten". Der so Angesprochene redet, gebildet wie er ist, genauso mit. So schnell ist man von der Moral bei der moralischen Erbauung.

Zum Beispiel alle guten Lehrer im Sozialkunde-, Deutsch- und Ethik-Unterricht

Einst waren Frischs "Andorra" oder Bölls "Katharina Blum" die Fibeln, aus denen zur Mündigkeit verurteilte Jungbürger lernen mußten, wie vorurteilsbeladen und unmenschlich doch der Mensch sein kann. Der ewige Jude und so. Jetzt gibt's den beleidigten und erniedrigten Türken Ali. An dem kann man soziales Gewissen einüben, die Auswüchse der "anonymen Leistungsgesellschaft" zum Lernziel erheben und die Gleichgültigkeit von "uns allen" in einer Unterrichtseinheit verhackstücken.

Zum Beispiel "Die Zeit"

"Wallraff auf seinem knochenbrechenden Marsch durch die unwürdigsten Niederungen der modernen Arbeitswelt... Genial. Seine Bravour droht den Wahrheitsgehalt in den Schatten zu stellen, die wahren Opfer, Türken und Arbeiter ohne Starruhm, bleiben bei dieser furiosen sozialanklägerischen Höllenfahrt beinahe als Sensationsstatisten auf der Strecke." (1.11.)

Man kennt sie ja, die Wahrheitsfanatiker von der "Zeit", die jede Schweinerei in deutschen Betrieben in schlichten Worten anprangern; ein selbstloses Herz für unbekannte Türken, wer hat's denn, wenn nicht die Geister um Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt. Kurz: Kultur muß Kultur bleiben, und zuviel Öffentlichkeit für Arbeiterfragen - und das auch noch in höheren Kreisen, wo "die Zeit" beheimatet ist -, das muß "die Zeit" einfach stören. Natürlich nur im Interesse der Arbeiter.

Zum Beispiel die "Frankfurter Allgemeine"

"Wer sich als Türke bei einem deutsch-türkischen Fußballspiel in den deutschen Zuschauerblock setzt, der kann nicht erwarten, daß es ihm dort besser ergeht als einem Dortmunder, der sich, als Dortmunder erkenntlich, in den Block der Schalker Fans setzt... Es steht zu erwarten, daß Wallraffs Erfolg... die leidige Diskussion beeinflußt, die derzeit über den sogenannten Under-Cover-Agenten geführt wird, den in zwielichtige Gruppen eingeschleusten Polizeibeamten... Warum soll es Rauschgifthändlern besser gehen als illegalen Vermittlern von Leiharbeitern?" (24.10.)

Bloß nicht so zimperlich sein! Wo geholzt wird, da fallen nationalistische Späne, und wo Ordnung herrschen soll, da muß ausspioniert werden. Klar kennt die "Frankfurter Allgemeine" den kleinen Unterschied zwischen Wallraffs Maskeraden und den Rauschgiftagenten. Genau den meint sie ja. Etwa so: Wenn schon spioniert wird, dann doch bitte nicht durch Kritiker von Geheimdienst, Unternehmern und Rechten, sondern gefälligst durch den Geheimdienst selber. Der könnte ja beispielsweise Wallraffs 'Machenschaften' und 'Hintermänner' aufdecken, falsche Informationen ausstreuen und so die Industrie endlich vor solchen Umtrieben bewahren. Ist schließlich doch alles schon mal probiert worden!

Zum Beispiel "Bild" und Springer-Presse

Die stellen intern klar: "Bild kümmert sich selbst genügend um die Türken im Lande." Mit einem gut dosierten und für jede politische Konjunktur empfänglichen Rassismus bekanntlich. Den hat ja Wallraff einst zwar nicht auf den Begriff gebracht, aber als "Hans Esser" ausgekundschaftet. Das vergißt ihm der Konzern nie und verläßt sich dabei auf seine eigene millionenschwere proletarische Öffentlichkeit rechtschaffener Deutscher, die er nach Kräften pflegt.

Zum Beispiel

läßt sich auch Wallraffs journalistische Methode in Frage stellen - "WAZ-Frage der Woche. Wallraff: Heiligt der Zweck die Mittel?" -; oder problematisieren, daß alle bloß Wallraffs Methode problematisieren - "Frankfurter Rundschau": "...es werden - wie fast nach jeder Wallraff-Veröffentlichung - Fragen gestellt: 'Darf der das überhaupt? Ist diese Recherchier-Methode redlich?'". Und überhaupt, kann man öffentlich thematisieren: "Wie würde die Öffentlichkeit... darauf reagieren?" ("Vorwärts")

Nur eins darf man nicht: Wallraffs ehrenwertes Anliegen zu ernst nehmen

Spenden z.B. gehören in die Abteilung 'Adventskalender guter Werke' und fallen in die offizielle Zuständigkeit für Mexiko-Erdbeben, Afrika-Dürre und Indien-Überschwemmung. Da spendet man garantiert ohne den bitteren Beigeschmack einer Kritik an irgendeinem Verantwortlichen, also reinen nationalen Gewissens. Um mehr als moralische Betätigung geht es ja keinesfalls, und im Fall Wallraff lieber um Kultur, Recht und Ordnung, anständigen Nationalismus und ein bißchen demonstratives 'Versteh Dich' für Türken und andere soziale Auswüchse.