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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1985 erschienen.

Systematik

US-Kriegsstrategien in Nicaragua
DER SANDINISMUS: ZUM SCHEITERN VERURTEILT - VON DER FREIEN WELT

Vor der UNO-Vollversammlung forderte Staatspräsident Daniel Ortega die USA auf, entweder ihre "terroristischen Aktivitäten" gegen sein Land einzustellen oder Nicaragua "offiziell" den Krieg zu erklären. Zur Zeit plant Reagan keines von beidem. Er will mehr: Die totale Niederlage der nicaraguanischen Revolution, militärisch, politisch und moralisch.

Die Vereinigten Staaten von Amerika unterhalten ein Heer von Söldnern, das sie ausbilden, ausrüsten und ins Gefecht geschickt haben, um die Regierung Nicaraguas zu stürzen. Die alte Nationalgarde des Diktators Somoza marschiert wieder mit allen ihren einschlägigen Erfahrungen, aber diesmal nicht auf Befehl einer Familie, sondern im Geiste der gesamten demokratischen Völkerfamilie. Die Regierung der USA hat die Frontstaaten Honduras und Costa Rica in Militärlager verwandelt und einen Wirtschaftsboykott gegen Nicaragua verhängt. Die Führungsmacht der Freien Welt versucht systematisch, die Kapitulation der sandinistischen Regierung zu erzwingen. Für diesen Zweck ruiniert sie das Land, terrorisiert die Bevölkerung und sorgt für jede Menge Not und Elend.

Soweit die hinlänglich bekannte Lage auf dem Kriegsschauplatz. Der öffentlichen Meinung in den großen Demokratien Europas reicht dies allerdings nicht aus zur Beurteilung der "Lage" in Mittelamerika. Bis hin zu den "Freunden Nicaraguas" in linken und grünen Kreisen diskutiert man Nicaragua als Problem, das die USA und der Freie Westen mit dem Sandinismus hätten, und problematisiert mit. Die heiße Frage nämlich, ob man als guter Demokrat, Christ, Menschenrechtler und Deutscher überhaupt reinen Gewissens für die Sandinisten sein kann.

Diese Fragestellung ist bereits der ganze Hammer. Sie unterstellt nämlich, daß schon viel Sympathie für ein Regierungsprogramm vonnöten sei, um den mörderischen Zugriff der Freien Welt auf ein ganzes Volk zu kritisieren. Jeder Fehler, den man an der Sandinisten-Regierung entdeckt, liefert umgekehrt einem so problembewußten Menschen ein Stückchen Rechtfertigung des Terrors, den die USA mit ihren Wirtschaftsboykotts, Sabotagetrupps und "Freiheitskämpfern" über das Land verhängt haben. So enthält die Fragestellung schon das Prinzip aller Antworten: Im sandinistischen Nicaragua möchte man als freiheitsbewußter Mitteleuropäer auch nicht gerade zu Hause sein - also ist das Opfer des Kriegs in Mittelamerika selber nicht freizusprechen.

So stellt sich - bei allen deutschen Vorbehalten - ein gewisses kritisches Verständnis für die US-Politik ein, die Militäraktionen durch Söldner und viel Elend als Strafe für Nicaragua festgelegt hat. Und dieses Verständnis kann nur wachsen, je länger der Krieg dauert und je mehr die Opfer zunehmen. Denn um so weniger kann ein gesitteter Mensch der regierenden Partei Recht geben, die trotzdem stur an ihrem Selbstbehauptungswillen festhält - gegen die vom Westen hergestellte "Lage".

Da ist zum Beispiel der Wirtschaftskrieg gegen Nicaragua, der vom Handelsboykott bis zur Sabotage vornehme wie weniger vornehme Abteilungen umfaßt. Hier handelt es sich ganz offensichtlich um eine sehr wirkungsvolle Waffe zur Schädigung eines Staates, dessen Regierung wahrheitsgemäß als ihr Ziel angibt, daß sie die Wirtschaft dafür einsetzen will, die Lebensbedingungen und die sozialen Verhältnisse ihrer Bürger zu verbessern. Nicht bloß die Finanzmittel der Regierung werden geschädigt und damit die Verwirklichung ihres Piogramms verhindert; auch die Hoffnungen werden ganz handfest "widerlegt", die das Volk auf seine neuen Regenten gesetzt hat! und nach wie vor setzen soll. "Der Rückhalt des Regimes in der Bevölkerung schwindet", notiert der aufgeklärte Beobachter, sagt vielleicht sogar noch den Grund dazu - und findet es gar nicht zynisch, wenn er zusammenfassend die Diagnose "gescheitert!" stellt. Klar, andere Regime, die die Freie Welt mit viel Sympathie behandelt, können nicht so leicht "scheitern", schon gar nicht am überhandnehmenden Elend ihrer Untertanen, weil sie erst gar keine Abhilfe versprechen und schon gar nichts von der Erfüllung dieses Versprechens abhängig machen - deswegen fangen sie sich ja auch keinen westlichen Handelskrieg ein. Der würde ja eine nützliche Herrschaft treffen - also, im Unterschied zum Fall Nicaragua, ein unschuldiges Opfer.

Da ist zum anderen die Verwandlung weiter Teile des Landes in Schlachtfelder, vorgenommen durch die Kampftruppen der Contras, gelegentlich auch Militär der Nachbarländer unter US-amerikanischer Beratung. Das hat angefangen an der Nordgrenze, wo die seither bekannten und beliebten Miskito-Indianer siedeln. Sie wurden von den Sandinisten evakuiert - und geben damit den Stoff ab für die erste große Menschenrechtskritik an der neuen Regierung, die auch auf die hiesigen Solidaritätskomitees voll durchgeschlagen hat. Denn erstens waren die Mittel zur Neuansiedlung der Miskitos spärlich bemessen; zweitens wurden auf diese Weise zwar Menschenleben geschont, dafür aber die Kultur der Miskitos geschädigt, die nur in den Sümpfen Nordnicaraguas authentisch gedeiht. Noch dazu blieb die Absicht der Sandinisten, die Bevölkerung im Norden vor dem Krieg zu bewahren und ihn selber besser führen zu können, ohne Erfolg, weil der Imperialismus mittlerweile ganz Nicaragua zum Kampfgebiet gemacht hat. Deswegen interessiert sich angesichts der Fortschritte des Krieges auch niemand mehr für die paar Indianer - und erst recht nicht für die anderen Konsequenzen des Contra-Terrors. Zum Beispiel bewirken die Kämpfe auf dem Lande eine massenhafte Flucht der Campesinos. Diesmal handelt es sich nicht um eine organisierte Evakuierung durch die Regierung, sondern um eine Vertreibung durch ihre Gegner. Denn der Auftrag für die Söldner lautet, die Häuser der Bauern zu verbrennen, ihre Felder anzuzünden und die Überlebenden aus den Dörfern zu vertreiben: "Geht nach Managua und schaut, ob euch eure Comandantes etwas zum Fressen geben!" So wird der Ring des finstersten Elends um die Hauptstadt mit jedem Tag breiter. Hier lagern Leute, die ohne alles gekommen sind in eine Stadt, in der es an allem mangelt, weil der Krieg alles verschlingt. Selbstverständlich interessieren solche eindeutigen Kriegsergebnisse in den Hauptstädten der Freien Welt niemanden - oder wenn, dann als erneuter Beweis, daß der Sandinismus "nicht überlebensfähig" ist.

Daß er auch nicht überlebenswürdig ist, darüber läßt die Freie Welt sich gerne durch die Notstandsmaßnahmen "aufklären", mit denen die Regierung den Kriegszustand zu bewältigen versucht. Da entdecken die alleroffiziellsten "Freunde" Nicaraguas im Westen, Mitterrand in Paris und Wischnewski in Bonn, sogleich einen viel grauierenderen Mangel in Nicaragua als Brot oder ein Dach über dem Kopf fürs Volk. In Managua sind jetzt wieder einmal die Menschenrechte schwer gefährdet, weil die Regierung einige Bürgerrechte aufgehoben hat. Das jüngste Verbrechen der Sandinisten: Sie lehnen es - noch immer! - ab, aus dem ökonomischen Zusammenbruch und der Ausweitung des Kriegsgeschehens auf das ganze Land die richtige Konsequenz zu ziehen und in Kapitulationsverhandlungen mit einer "Opposition" einzutreten, die mit einer Abteilung bewaffnete Überfälle ausführt, mit einer zweiten zwischen Washington und Managua hin- und herpendelt und die in Gestalt der katholischen Bischofshierarchie ihren vorgeschobenen legalen Kopf hat, der unverfrore und ganz öffentlich die Subversion betreibt. Statt also aufzugeben, "entlarvt sich das Regime" wieder einmal: Es wird "endgültig diktatorisch" (FAZ), ist "dem Totalitarismus gefährlich nahegekommen" (Christ Geißler).

Das also ist der aktuelle Stand des amerikanischen Nicaragua-Kriegs. Die noch zu Beginn des Jahres erörterte Frage: 'Wann erledigen die USA den Sandinismus durch eine großangelegte militärische Operation?' heißt heute: 'Wie lange können sich die Sandinisten noch halten?' Die Eroberung Managuas durch die Marines bleibt eine Lösung; eine andere ist die interne "Opposition", die - mit Unterstützung von Kongreß und Präsident der Vereinigten Staaten unter dem Beifall der Christdemokratischen und Liberalen Internationale, gegen die kritischen Bedenken der Sozialistischen, mit dem Segen des Papstes und mit dem Bischof von Managua als Galionsfigur - exakt das Gleiche fordert wie die bewaffneten Truppen der CIA und der Somozisten. Der Westen verfügt über eine Alternative zum Sandinismus, die dem US-Kongreß Kriegskosten einsparen kann und der freien NATO-Welt Bauchschmerzen über ein US-"Abenteuer", das etwas länger dauern würde als der Grenada-"Spaziergang": eine "Opposition", die in Nicaragua von den Kanzeln der Kirchen herab ein "Ende des Krieges" fordert - so als läge die Entscheidung darüber überhaupt noch in den Händen der Regierung Nicaraguas. Der christlich verlangte "Friede" ist nichts als der Ehrentitel für die Rückkehr der alten Schlächterprinzipien an die Macht - deren Anwälte im Land und auswärts vermissen deswegen immerzu schmerzlich die "Freiheiten" und "Menschenrechte".