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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1985 erschienen.

Von Sekten und Seuchen
NOCH ZWEI KOSTEN DER FREIHEIT

Dem Verstand eines durchschnittlichen Zeitungslesers wird hierzulande nichts erspart. Wo es um seine alltäglichen Dienste geht, soll er 'einsehen' und das sogar für eine prima Wahlwerbung halten, daß seine Interessen vor so wichtigen Anliegen wie denen "der Wirtschaft" und "der Verteidigung" auf jeden Fall nichts zählen. Ausgerechnet auf Gebieten, wo es um überhaupt nichts geht, soll er dagegen alles als seine Angelegenheit betrachten, sich mordsbetroffen vorkommen und sich eine höchstpersönliche Meinung bilden. Auf diese Weise kommen Sachen zu Ehren, die man - mangels freier Presse - anderswo womöglich gar nicht kennt. Ob das ein Nachteil ist?

Bhagwan

z.B. ist eine Figur der 'Zeitgeschichte' die sich schon seit Jahren der breitesten Aufmerksamkeit erfreut, obwohl der Grund dieser aufgeregten Begutachtung durchaus nicht ohne weiteres ersichtlich ist.

Das, was er macht, betreiben Dalai-Lamas und sonstige Woytilas schließlich auch, ohne daß es ihnen jemand zum Vorwurf machen wollte. Wer hat denn schon etwas dagegen, jungen Leuten "Sinn", eine gemeinsame "Aufgabe" und die irgendwie immer dazugehörige Uniform zu verpassen? Wie der indische Opa seine Seelenfängerei organisiert, ist ebensowenig außergewöhnlich, bestenfalls eher dilettantisch im Vergleich zur Konzernpolitik des Heiligen Petrus. Was soll also an Psychoübungen in Kleingruppen anstößig sein, wenn wöchentliche Bußorgien auf Massenbasis als ehrenwert gelten? Und der Angriff auf 99 Bhagwan-Rolls-Royce zielt doch auch nicht auf Abschaffung der Kirchensteuer, die für etwas größer dimensionierte Petersdöme und sonstige Werke der Nächstenliebe verschleudert wird! Ja, noch nicht einmal der kleine Unterschied zur Amtskirche rechtfertigt das öffentliche Getue um den bärtigen Guru: Wen stört es denn eigentlich wobei, daß es immer wieder Leute gibt - z.B. Bhagwan-Fans -, die "aussteigen" und sich neben den attraktiven Angeboten des Arbeitsmarkts häuslich einrichten? Das könnte denjenigen, die mit ihrem Auskommen offenbar zufrieden sein sollen, doch ganz und gar gleichgültig sein.

Darf es aber nicht! Stattdessen werden immer wieder Hilferufe besorgter Eltern kolportiert, deren Kinder dem Bhagwan "verfallen" sind, und großartige Erleichterung ist angesagt, wenn ihm die Chefsekretärin mit der Vereinskasse abhaut, als ob das jetzt irgendetwas (wohl, daß hier auch nur mit Wasser gekocht wird) beweisen würde. Und der Schluß ist immer derselbe: Ohne den Inhalt des belaberten "Mißbrauchs" einer großen Würdigung zu unterziehen, soll man die Bhagwan-Story als einziges Gleichnis für "mißbrauchtes Vertrauen" zur Kenntnis nehmen - und daraus womöglich den kindischen Schluß ziehen, daß man es mit der Liebe zu Gott, Arbeit, Vaterland aber genau richtig getroffen hat.

AIDS

wiederum ist eine Krankheit, die binnen kurzem die Illustriertenspalten weitaus rascher und gründlicher verseucht hat, als es ihre Viren beim Krankengut schaffen konnten. Das statistische Menetekel vom 100%igen Durchseuchungsgrad, der - einmal vorausgesetzt, daß über fünf Ecken die gesamte Weltbevölkerung miteinander schläft - in nicht allzu ferner Zukunft erreicht wäre, ist zwar hinreißend blöd. Und außer dem sinnigen Ratschlag, die Leute sollten einen Lebenswandel besser vermeiden, den sie eh nicht praktizieren, ist von den Gesundheitsbehörden auch kein Seuchenalarm ausgegeben worden. Aber darauf scheint es auch schon gar nicht anzukommen, da die "Lustseuche" ohnehin in jedem Stadium ihrer publizistischen Verbreitung für immer neue und andere "Einsichten" gut war: Zunächst gestattete sie pikante Einblicke in die internationale Homo-Szene - da gibt's vielleicht Sachen. Dann sorgte Rock Hudson selbst vom Sterbebett aus noch für ein wahres Feuerwerk öffentlicher Anteilnahme - 1. ist auch in Hollywood nicht alles Gold, was glänzt, 2. der arme Mann, 3. ist jetzt überhaupt spendenwilliges Mitgefühl gefragt, 4. Promiskuität, wohin man schaut, 5. Pariser sind die Mutter der Porzellankiste, 6. das Geschäft mit der Lust geht auch nicht mehr so gut, usw. Und seit die Mediziner noch ein paar Übertragungswege mehr entdeckt haben, ist (eigentümlich, wo die Bedrohung doch so umfassend sein soll!) allmählich die Unterhaltungsebene erreicht - das anspruchsvolle Publikum wird serienträchtig über die historisch bewiesene Sterblichkeit des Menschen aufgeklärt, und Hausfrauen erkundigen sich in BILD nach Todesrisiken beim Einkauf.

Übermäßig ernst scheint den ganzen Krampf also niemand zu nehmen (außer denjenigen natürlich, die sich wirklich angesteckt haben) - egal soll die Sache aber auch keinem sein, ein bißchen Meinungsbildung nach dem Motto "Was bedeutet AIDS für mich/dich/uns alle?" wird schon absolviert. Die Antworten können frei aus dem oben in Auszügen genannten Angebot gewählt werden, so genau kommt's nicht drauf an - eine doppelte Moral erschließt sich aus AIDS (nicht anders als beim Krebs und beim Raucherhusten) ja in jedem Fall, wenn eine Krankheit einen schon was 'lehren' soll: Erstens besteht wieder mal Grund zur Dankbarkeit, wenn's einen nicht erwischt. Und zweitens darf man wieder ein bißchen zufriedener mit der eigenen Lebensführung sein - jetzt schützt sie auch noch vor AIDS!

Das Interesse an Sekten und Krankheiten

paßt also wunderbar in die politische Landschaft des Jahres 1985.

beruht es ganz offenbar darauf, daß die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig, zwischen dem, was mit der eigenen Lage zu tun hat, und was einem gleichgültig sein kann, zielstrebig zerstört wird. Themen werden aufgeworfen, nicht damit man sich um sie kümmert - wie und wozu auch? -, sondern um in der Wahrnehmung von "Problemen" Verantwortung zu zeigen und die Welt ganz in Ordnung zu befinden.

wird also nichts von einem Interesse aus beurteilt, das man hat und in dessen Verfolgung man auf Schranken stößt; statt dessen wir urteilslos alles mögliche für "interessant" gehalten, weil man sich grundsätzlich beteiligt fühlen will. So weiß man dann zwar über nichts Bescheid, hat aber zu allem eine Meinung, die darin besteht, daß längst fertige moralische Maßstäbe tatsächlich auch auf den letzten Furz passen.

ist dieser Anschein von Betroffenheit nur zu haben, wenn man die Welt von lauter Abstraktionen aus betrachtet. Sich und die wirkliche Situation, in der man sich mit seinen Vorhaben befindet, findet schließlich keiner wieder, wenn er sich mit Bhagwans oder Todkranken befaßt; und die erregen seine Aufmerksamkeit auch nur einen Fernsehbericht lang. Aber "die Jugend", "die Volksgesundheit", "die Sexualmoral" und sonstige Gespenster, das sind Subjekte, um die man sich sorgen kann - wenn es nur noch auf den Anstand und die Gutigkeit der Menschen ankommt.

"Es gibt Höheres als Gut und Geld", diese von jedem Politiker jeden Tag verbratene Frechheit schmeckt offenbar noch einmal so gut, wenn einfache Staatsbürger sie unter fachkundiger Hilfestellung der Presse ganz privat und garantiert unpolitisch nachvollziehen.

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Soeben wird gemeldet: "Alle lieben Boris!"