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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1984 erschienen.

Systematik

Buschhaus/Formaldehyd
UMWELTSKANDALE 497 und 498

Im Sommer 1984 sind die allmonatlichen Umweltschocker der Republik, die schon bisläng unter dem Titel "Herausforderung für den Staat" und nicht wegen der in Kauf genommenen Zerstörung der Gesundheit der Leute als öffentlicher Skandal zelebriert wurden, vollends ins demokratische Reifestadium eingetreten. Diejenigen Wirkungen der Schwefeldioxidemissionen des Kraftwerks Buschhaus oder des biologisch hoch aggressiven Gases Formaldehyd, denen das öffentliche Interesse gilt, das sind die Wirkungen auf die Umwelt der Regierungskoalition.

Buschhaus - Politischer Handlungsbedarf für die Koalition

Die Feuerungsblocks von Buschhaus, die Formaldehyd-Reaktoren der BASF lauter große Fettnäpfchen, in die unser tolpatschiger Kanzler, eines nach dem anderen, hineintappt.

Die üppig in die Luft geblasene Drecktonnage, die giftige "Massenchemikalie" sind ebenso wie die übrigen periodisch aufgebrachten, aber kontinuierlich erzeugten giftigen Resultate des kapitalistischen Produktionsprozesses allein eines: Anlaß zum öffentlichen Lamentieren über die "mangelnde Entschlußkraft des Kanzlers", die "umweltpolitische Profilneurose der FDP", den "beklagenswerten Zustand der Koalition" - kurz, zu Betrachtungen über die Glaubwürdigkeit des politischen Führungspersonals. Dem geschieht es nämlich ganz recht, so etwa jüngst die "Süddeutsche Zeitung", wenn sich angesichts seiner Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit bei den Untertanen "Umwelthysterie" ausbreitet.

Doch gottlob sind diese Anlässe gerade deshalb ebenso beliebig wie augenblicklich uninteressant, sobald der "politische Handlungsbedarf" gestillt, die Verantwortung gegenüber dem Volksganzen wahrgenommen ist. So wurde, per Kabinettsbeschluß und dessen aufwendig inszenierter Akklamation im Bundestag, das Kraftwerk Buschhaus - ohne Filter - zu einer segensreichen Einrichtung zur Vermindervng der SO2-Immissionen definiert, weil es, wie ohnehin von der Betreibergesellschaft geplant, ein älteres, weniger rentables und relativ zur Stromerzeugungskapazität noch dreckigeres Kraftwerk ersetzt, außerdem vorerst "nur" normale Braunkohle mit deren ansehnlichem Schwefelgehalt statt Salzkohle verfeuert wird. Und damit wäre das Thema abgehakt gewesen, wenn nicht die Justiz die "rechtlich unabweisbare" Betriebsgenehmigung formal kritisiert hätte. Jetzt geht Buschhaus doch noch nicht diesen Monat ans Netz - Kritiker dürfen sich noch ein Weilchen über unseren Rechtsstaat freuen, bis die Genehmigung rechtlich korrekt erfolgt. Auch für die einzig wahre Opposition in Sachen "Umweltschutz", die Grünen im Parlament, ist nämlich die genehmigte und inganggesetzte Immission von ein paar hunderttausend Tonnen SO2 dann kein übermäßig tauglicher Gegenstand des Protests mehr, wenn das parlamentarisch-rechtsstaatliche Verfahren zum Abschluß gekommen ist und per Anfragen, aktuelle Stunden, Bundestags-Sondersitzung zur Demonstration der eigenen Oppositionsrolle optimal ausgenutzt worden ist. Zumal sich der nächste Anlaß zum konstruktiven Anmahnen staatlichen Handlungsbedarfs bereits anbietet.

Formaldehyd - altes Gift mit neuem Reiz

Warum Formaldehyd, eine in ihrer Giftigkeit seit 100 Jahren bekannte, seit 80 Jahren in industrieller Massenproduktion hergestellte Substanz, ausgerechnet anno 1984 zu der Ehre kommt, zum Testmaterial für Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu avancieren, bedarf wohl einer Erklärung.

Daß dieses Gas, je höher die Konzentration in der Atemluft und je länger die Einwirkung, desto nachhaltiger die Schleimhäute der Atemwege reizt und zerstört und so deren Abwehrkräfte gegen andere Giftstoffe und Infektionen schwächt, ist nicht nur nichts Neues. Diese Eigenschaft hat sich sogar schon in staatlichem Handeln niedergeschlagen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz setzte einen Wert der maximal zulässigen Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) für Formaldehyd fest, 1 Teil auf eine Million Teile Luft, wohl nicht ganz zufällig die Konzentration, ab der der stechende Geruch des Gases leistungsmindernd unangenehme Ausmaße annimmt. Daß damit Schleimhautreizungen ausgeschlossen wären, ganz zu schweigen von den massenhaften Hautallergien, die durch Formaldehyd ausgelöst werden, behauptet niemand und ist auch nicht bezweckt. Aber ein Grenzwert ist gesetzt, der entweder "nur kurzzeitig" oder nur unter Verwendung von Atemmasken überschritten werden darf und so die Produktionskosten des Kapitals ebenso kalkulierbar macht wie das Gesundheitsrisiko der Arbeiter.

Mit diesen bekannten - und in Kauf genommenen - Wirkungen gab sich jener fruchtbare Zweig der Krebsforschung, der die Welt nach - in feiner Abstufung "krebserzeugenden", "krebsfördernden", "krebsverdächtigen" Substanzen durchforscht, jedoch nicht zufrieden. Im Tierexperiment wurde 1980 in den USA festgestellt, daß Ratten, die täglich einer hohen Formaldehydkonzentration ausgesetzt sind, nach zwei Jahren, nachdem ihre Schleimhäute zerstört, sie selbst vergiftet und weitgehend hinüber sind, auch noch Krebsgeschwülste auf der Nasenschleimhaut entwickeln. Ob aus diesem Ergebnis der Schluß gezogen werden soll, Formaldehyd erzeuge beim Menschen Krebs, ist seitdem Gegenstand eines munteren Wissenschaftspluralismus jener staatlichen, mit Naturwissenschaftlern bestückten Institutionen, die die schädlichen Wirkungen der Vor-, End- und Abfallprodukte des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht nur ermitteln, sondern gleich auch noch unter dem Aspekt der Verantwortung gegenüber Volkswirtschaft und Volksgesundheit beurteilen sollen: Bundesgesundheitsamt, Umweltbundesamt, Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Deutsches Krebsforschungsinstitut Heidelberg etc. Bundesgesundheitsminister Geißler hat bereits seine freudige Entscheidungsbereitschaft in der Frage: krebserzeugend oder nicht? für die nächsten Monate angekündigt.

Unter "Krebsgefahr" als Synonym für Bedrohung der Volksgesundheit schiebt sich hierzulande nichts. Weil sich die aber letztlich immer und überall einstellt, stellt sich irgendwo - zumal "angesichts der volkswirtschaftlichen Tragweite" von Entscheidungen - auch wieder umgekehrt die Frage, ob es sich da nicht um ein gottgegeben hinzunehmendes "Lebensrisiko unserer Industriegesellschaft" handelt...

Warum muß Buschhaus ohne Filteranlage in Betrieb genommen werden?

Wegen des Stroms? Ach was! Wegen des Stromgeschäfts? Gott bewahre! Einzig und allein -

Wegen der Arbeitsplätze!

Sagt jedenfalls die Betreibergesellschaft, die das geschäft macht. Und die Braunschweigische Kohle-Bergwerk-AG, die ebenfalls ihr Geschäft macht. Und Ministerpräsident Albrecht, der das Drecksgeschäft genehmigt. Und der zuständige Sekretär der IG Bergbau, der gleich gehörig übertreibt und gegen diese "Umweltschützer" hetzt, "die aus Deutschland einen reinen Agrarstaat machen wollen."

Und wenn die alle das sagen, dann muß es ja wohl stimmen,

- daß "Arbeitsplätze geschaffen" werden, wenn ein neues Kraftwerk zwei alte ersetzt;

- daß "Arbeitsplätze gesichert" werden, wenn mit halb so viel Kohle gleich viel Strom erzeugt, also das Stromgeschäft in Schwung gebracht wird;

- und daß Vergiftung kein zu hoher Preis ist für die Gnade, sich an einem Arbeitsplatz nützlich zu machen.

Nützlich - für das Geschäft der Buschhaus-Betreiber, für das geschäft der Kohle-AG, für die "Zonenrandförderung" des Herrn Albrecht und für das Weltbild der Bergbau-Gewerkschaft.

"Als die niedersächsische Landesregierung 1978 den Bau der 850 Mio. Mark teuren Anlage genehmigte, schrieb sie der BKB den mit 300 Metern höchsten Schornstein der Bundesrepublik vor. Der Dreck sollte möglichst gut verteilt und möglichst weit weg verteilt werden... Der Wind kommt meist aus dem Westen und trägt den Dreck der Schlote aus Wolfsburg, Salzgitter und Hannover in die Gegend von Helmstedt und über die DDR bis nach Berlin." (Stern)

PS 1:

Öffentliche Auregung gab es übrigens noch, weil "unsere (West-)Berliner Luft" durch Buschhaus und ähnliche Dreckschleudern mehr und mehr verpestet wird. Komisch, liegt da nicht noch irgendwas dazwischen - zwischen der "Zonengrenze" und West-Berlin?

PS 2:

Die "Umweltproblematik" wünscht sich Kanzler Kohl als zentrales Thema beim für September geplanten Honecker-Besuch. Dankenswerterweise sorgt die niedersächsische Regierung dafür, daß der Gesprächsstoff im 'innerdeutschen Dialog' nicht ausgeht. Das schafft Gemeinsamkeiten!

Eine verblüffend einfache Lösung

"Albrecht rät Mutter: Ziehen Sie aufs Land

Mit einem barschen Brief an eine Braunschweiger Lehrerin, deren beide Töchter an der Reizhustenkrankheit Pseudokrupp leiden, hat der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) reagiert. Wenn nach eigenen Angaben der Lehrerin die Krankheitssymptome bei ihren Kindern vergingen, sobald sie 30km von Braunschweig seien, dann müsse sie sich fragen lassen, wie sie glaube verantworten zu können, daß sie mit ihren Kindern in der Stadt lebe. 'Erfordert es nicht das Wohl ihrer Kinder, daß Sie aufs Land ziehen?'" (Frankfurter Rundschau)

Das ewig grinsende Keks-Gesicht macht das schon lange und nimmt die Strapazen einer täglichen Fahrt zum Dienst in Kauf. Deswegen ist ihm auch die öffentliche Erregung über seinen Brief "unverständlich". Seinen Regierungssprecher ließ er erklären:

"Der Ministerpräsident hat eine legitime Frage gestellt. Nicht nur der Staat hat Verantwortung für die Kinder, sondern auch die Eltern."

Eine schöne Teilung der "Verantwortung": Der Staat sorgt für den Dreck, und die Leute schauen zu, wie sie damit fertig werden. Dumm dran sind nur die Anwohner von Buschhaus. Sie leben schon auf dem Land.

Die "Süddeutsche Zeitung" hat übrigens an Formaldehyd (und an den übrigen Skandalsubstanzen der letzten Zeit) noch eine andere Wirkung entdeckt:

die umweltpolitische Reizüberflutung,

die in die "Apathie", aber auch, schlimmer noch, in systematischen Mißbrauch führen könne:

"Warum, wenn schon Formaldehyd verboten werden soll, bleibt das Rauchen erlaubt? Hier tritt ein bedenklicher Zug der gegenwärtigen Umweltdebatte zutage. Wann immer man ein industrielles Produktionsverbot verlangen, die Verantwortung kollektivieren und anonymisieren kann, liegen die Forderungen schnell auf dem Tisch. Wenn aber ein allseitiger individueller Konsumverzicht das Problem lösen würde, wenn also nichts anderes als die Verantwortung des einzelnen hervorgehoben wird, bleibt es ziemlich still. Solange dieses Ungleichgewicht bestehen bleibt, macht sich auch der Verdacht breit, Umweltfragen würden zugleich als System- und Machtfragen behandelt und propagandistisch verwertet."

Es ist ja schön und gut, daß der einzelne dank der klar entschiedenen System- und Machtfrage gefälligst seine Haut, Schleimhäute, Organe etc. auf den Arbeitsmarkt zur produktiven Konsumierung durch das Kapital zu tragen hat, statt sie im individuellen Konsum unverantwortlich zu strapazieren. Aber denkt denn keiner mehr an die Arbeitsplätze in der Zigarettenindustrie? Döding!