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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1984 erschienen.

Systematik

Fußball EM 1984
LAUTER VERRÜCKTE IM DIENST DER NATION

Als Toni Schunnacher bei der letzten WM dem Franzosen Battiston mit beiden Knien und mit voller Absicht ins Gesicht sprang, hätte man ihn nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verknacken und nach sportlichen Gesichtspunkten für immer vom Platz stellen müssen wegen erwiesener Brutalität. Im wirklichen Leben geht es aber darum, wieviel Tore unser Toni im Auftrag Deutschlands verhindert. Hermann Neuberger spricht ein Machtwort: "Toni ist unsere Nummer 1!" Fraglich ist die Position des Keepers überhaupt nur deswegen geworden, weil mit dauernden Pfeifkonzerten in den französischen Stadien zu rechnen war. Ob da nicht die Nerven des Tormannes das Flattern anfangen? Nein, sagen die Mannschaftsführer. Für die Nervenstärke Tonis spricht ja seine wohlkalkulierte Brutalität...

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Manche Nationalspieler überkommt nach eigenem Bekunden beim Anhören der Nationalhymne ein tiefes Schaudern. Andere Spieler treffen schon zitternd im Trainingslager ein: "Nach allem, was ich von Falkenmayer gehört habe, ist er ein J unge, der früh gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen. Aber als er zu uns kam, zitterte er am ganzen Körper." (Rummenigge) Dieses Zittern verläßt sie anscheinend während des ganzen Spieles nur, wenn es darum geht, "beinhart zur Sache zu gehen". Als Glücksfall wird dann gefeiert, wenn eine Mannschaft "trotz der großen Belastung" und "trotz des Wissens, worum es geht" einen guten Fußball hinlegt.

Ansonsten wird fachmännisch zwischen nötigen und unnötigen Fouls unterschieden und der Standpunkt vertreten: "Hauptsache aus einer verstärkten Abwehr heraus gewonnen!"

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Nicht ganz entschieden ist die Frage, ob sich die Spieler verrückt machen, oder ob sie verrückt sind. Wahrscheinlich beides.

Da rennen lauter Psycho- Idioten herum, die dauernd gefragt werden, ob sie nicht besonders bescheiden oder betont selbstbewußt auftreten müssen, damit es ihnen dann richtig in die Beine fährt und sie nicht "unter ihren Möglichkeiten" bleiben. Sie fragen sich dann selber auch nie, wie gut oder schlecht sie spielen, sondern ob sie den Erwartungen des heimischen Volkes entsprechen und sich vor den Ausländischen nicht blamieren: "Als der Peter Briegel verletzt war, war ich plötzlich dabei. Da habe ich mir gesagt: Jetzt darfst du bei der Nationalelf nicht vor Ehrfurcht sterben das ist deine Chance." (Brehme) Und dann wundern sie sich, wenn sie Lähmungserscheinungen in den Oberschenkeln kriegen, wenn der gegnerische Verteidiger vor ihnen auftaucht: Schließlich sollen sie ja nicht bloß den umhacken, sondern gleich eine ganze gegnerische Nation. "Sobald Allofs den Bundesadler auf der Brust trägt, spielt er wie der letzte Heuler... Deshalb Jupp: Lob den Jungen mal! Er wird's dir mit gutem Fußball danken." (Max Merkel in BILD)

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"Kalle, sei ein Egoist!" fordert Breitner in seiner Zeitungsspalte den Rummenigge auf. Wegen der Nation soll er mehr an sich denken - nur so springen Tore heraus. Prompt rennt Rummenigge im Trainingslager herum und erzählt jedem, daß sein nationaler Auftrag wohl darin bestünde, in die Spitze zu gehen, weniger mannschaftsdienlich zu spielen, nicht abzugeben, nicht die Nebenleute in gute Schußposition zu bringen - und ob ihm das auch als selbstlose Hingabe an die Sache gewürdigt wird. Selbstverständlich, ist die Antwort, wenn er halt Tore schießt - so weit kommt es aber nicht, weil er sich vorher immer in fremde Beine verknotet. Dann war er eben zu eigensinnig. Die Leier geht von vorne los. Mehr Egoismus, weniger Egoismus, oder was?

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Die einfache Aussage: "Wir haben verloren, weil wir schlechter spielten", ist ums Verrecken nicht zu haben. Nicht einmal ein menschlich verständliches "Pech gehabt, Schwamm drüber!" Nein, es müssen sich tausend Gründe dazu ausgedacht werden, warum es (mal wieder) nicht geklappt hat. Ziemlich der blödeste, ab er gern geglaubt: "Wir haben es versäumt, ein Tor zu schießen." Und warum: "Dann kam die Angst, weil wir das Tor nicht schossen, das 0:0 doch nicht halten zu können." (Jupp Derwall nach der Niederlage gegen Spanien) Also weil wir verloren, wußten wir schon gleich, daß wir verlieren könnten, also verloren wir auch prompt. Allgemeines Kopfnicken. Wenn es die Bodenverhältnisse, das Wetter oder die Überhärte des Gegners mal nicht waren, dann waren es die Konzentration, der Nicht-Zusammenhang der Mannschaftsteile, eine merkwürdige Passivität Rummenigges - vielleicht doch das Wetter. Damit wird immer nur beteuert, eigentlich hätten wir das Spiel ohne weiteres gewinnen können, ja müssen. Die Gründerfinderei speist sich aus dem Selbstbewußtsein von Größenwahnsinnigen, die den nationalen Auftrag einfach umdrehen: Wenn die deutsche Nation in Europa bombis dasteht, dann müssen doch auch die deutschen Kicker erste Klasse sein. Lauter als Kritik getarnte Entschuldigungen werden vorgebracht, warum man auch weiterhin an seiner Nationalmannschaft festhalten muß: Nicht, weil sie gut spielt, sondern weil sie gut spielen könnte - was sich allein schon dadurch beweist, daß sie die Nationalmannschaft ist. Die simple Haltung, macht es mir Spaß, das Spiel anzuschauen, ist verboten. Erlaubt und geboten ist hier ein viel größerer Anspruch: Die Elf hat Leistung zu bringen für die Ehre der Nation. Darauf hat jeder Deutsche ein gutes Recht. Allerdings auch die Pflicht, sich um "seine Jungs" zu kümmern.

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Am perfektesten macht das der "Spiegel". Er will gemerkt haben, daß die deutschen Kicker dumm sind. Sie ergötzen sich am liebsten an Videofilmen und freuen sich über den Besuch Helmut Kohls im Trainingslager. Sie fügen sich willig dem Vögel-Verbot Hermann Neubergers - "Ich kann von Männern, die ihr Land vertreten, verlangen, daß sie sich 3 Wochen zusammenreißen" -, lassen sich die Köstlichkeiten des Ein-Stern-Restaurants, in dem sie beherbergt sind, vorenthalten und begnügen sich statt dessen mit dem üblichen: "Steaks, Salat, Kartoffeln, Brot, Eier, Wurst, Käse." Will der "Spiegel" damit sagen, daß auf dem Fußballplatz lauter kommunistische Einsteins, die es mit der Moral locker halten und sich alle leiblichen Genüsse reinziehen, antreten sollen? Nein, was die kritischen Redakteure vermissen, ist der überwältigende, der rauschende Erfolg, weswegen sie für einen geschickteren Umgang mit den ungehobelten Instinktklötzen plädieren (wofür Derwall ja überhaupt nicht das feine psychologische Gespür hat): Sollte man ihren Trieben nicht mal gezielt nachgeben? Vielleicht schießen sie dann besser! Zum Beweis bedient sich das intellektuelle Blatt eines Mitglieds der deutschen Elite, das schon immer durch geistige Brillanz bestach:

"Profiboxer Rene Weller sagte:,Mir schadet es, wenn mir im Trainingslager die Decke auf den Kopf fällt, aber nicht, wenn ich Spaß habe. Wenn ich eine Frau treffe und will mit ihr schlafen, dann tu ich das auch noch eine Stunde vor dem Kampf'.

Geschadet hat es ihm offensichtlich nicht. Boxer Weller ist Europameister."

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Die Staatsmänner wissen, was sie an solchen nationalen Großereignissen haben. Die Anteilnahme am Schicksal der deutschen Mannschaft ist ja immer ein sicheres Indiz für eine sehr grundsätzliche Übereinstimmung mit Deutschland. Für dessen "Schicksal" entscheidet sich in einem Fußballspiel überhaupt nichts. Schmidt und Pertini bei der letzten WM in Spanien und jetzt Kohl im deutschen Trainingslager verstehen sich darauf, der Nationalmannschaft viel staatliches Wohlwollen entgegenzubringen und zugleich die nötige Distanz zu wahren: Gewinnen sollen sie schon, aber es gibt Wichtigeres auf der Erde. Letzteres ist den Politikern vorbehalten, was sie gerade dann deutlich machen, wenn sie sich einmal mit den Vergnügungen des gewöhnlichen Volkes gemein machen.