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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1984 erschienen.

Systematik

Korrespondenz
"DESWEGEN IST DIE FORDERUNG DOCH NICHT SCHLECHT"

Sehr geehrte Redaktion,

neulich habe ich vor dem Betrieb ein Exemplar "MSZ" geschenkt bekommen. Den Artikel "Streik zum Abgewöhnen" zur laufenden Tarifrunde habe ich zweimal durchgelesen. Ich bin seit 9 Jahren Mitglied der IG Metall. Ihr könnt mir glauben, daß mir an der Gesellschaft auch einiges stinkt. Viele Punkte in Eurem Artikel drücken schon das aus, was auch ich mir gedacht habe. Besonders im letzten Teil, wo Ihr die Probleme der Gewerkschaftsführung mit der CDU-Regierung besprecht, habt Ihr sicher einiges klargestellt. Inzwischen habe ich in der "MAZ", die ich vom gleichen Verteiler kriege, der immer hier verteilt, Euren Artikel zu den Urabstimmungen in Nord-Württemberg und Hessen gelesen. Da steht, man soll bei sowas nicht mitmachen. Ruft Ihr damit zum Boykott der Urabstimmung auf oder sollen die Kollegen da den Streikbrecher machen!

Wenn ich jeden Tag in der Zeitung lese, was die Unternehmer sagen, oder in der Tagesschau, dann kriege ich eine Wut. Wie die die Gewerkschaft angreifen, fühle ich mich selbst als "Arbeitnehmer" verarscht. Ich kann mir nämlich eine 35-Stunden-Woche sehr gut vorstellen und sehr gut für mich! Daß die Gewerkschaft beim erstbesten Kompromißvorschlag abschließen wird, glaube ich auch. Aber deswegen ist doch die Forderung nicht schlecht. Solltet Ihr nicht auch aufrufen für ein Ja bei der Urabstimmung (möglichst 100%) und dafür bei jeder Urabstimmung dann mit Nein stimmen, wenn die 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich nicht erreicht worden sind? So könnte man doch die Tarifkommissionen zwingen, den Streik bis zu einem echten Ergebnis durchzuführen. Das sollten sich auch die Kollegen von der MAZ überlegen.

Viele Grüße, W., München

Dieser Streik ist eine programmierte Niederlage für Arbeiter

Lieber W.,

damit klar ist, wofür wir sind: Um zu produzieren, was die Arbeiter brauchen und das ist mehr, als sie heute kriegen -, dürfte eine 10-Stunden-Woche für jeden ohne Leistungsdruck reichen. Echte fünf Stunden weniger, und dafür echt mehr Lohn, das wäre schon ein Schritt dahin.

1. "Daß die Gewerkschaft schon beim erstbesten Kompromiß abschließen würde", glauben wir nicht. Denn um einen Kompromiß zu schließen, müßte man erst mal was fordern. Würde die Gewerkschaft fünf Stunden weniger Arbeit fordern, dann wären zwei Stunden weniger ein Kompromiß, und zwar ein schlechter. Aber die Gewerkschaft will ja von vornherein ein Ergebnis, das nur "so" aussieht wie ein Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung. Sie will durch Lohnabstriche beweisen, wie "solidarisch" sie mit den Arbeitslosen ist. Wo soll da ein Kompromiß liegen? Umgekehrt: Der Streik wird hingezogen, bis das Ergebnis, das heute schon feststeht - flexible Arbeitszeit nach Unternehmerwunsch, dafür vielleicht zweieinhalb Freischichten pro Jahr -, erkämpft aussieht.

Denn die Gewerkschaft vertritt in Wahrheit nicht eine richtige Forderung zu matt. Die 35 mit der lachenden Sonne darüber ist ihr Symbol für eine grundverkehrte Forderung. (Alles Weitere dazu steht nochmals im nebenstehenden Artikel.)

Um den Arbeitskampf der IG Metall in die richtige Bahn zu bringen, kann deshalb der Abstimmungs-"Zwang", ihn zu verlängern, nie und nimmer das richtige Mittel sein - selbst wenn das überhaupt gelingen könnte. (Nebenbei: Laut IGM-Satzung reichen schon 25% Ja-Stimmen zum vorgeschlagenen Tarifergebnis, um den Streik abzublasen. Daran zeigt sich doch, über welche Handlungsfreiheit dieser Verein per innergewerkschaftlicher Demokratie gegenüber den Mitgliedern verfügt!) Erfolg bringt ein Streik nicht durch seine Länge, sondern durch den Willen und das Geschick, den Nerv des Gegners zu treffen: das Wachstum des Reichtums, den die Gewerkschaft immer so liebevoll "unsere Wirtschaft" nennt. Und so meint sie's auch. "Unsere Wirtschaft" will sie durch Lohnverzicht und gerechtere Arbeitszeitverteilung fördern; selbst durch einen Arbeitskampf will sie "unserer Wirtschaft" um keinen Preis schaden. So geführt, kann der Streik Monate dauern: Der einzige Schaden, der dadurch zunimmt, wäre der der vertretenen Arbeiter.

Solange die betroffenen Arbeiter den Streik als eine Angelegenheit betrachten, die die Tarifkommissionen durchzuführen haben - und nicht sie selber -, solange haben die Kommissionen der Gewerkschaft auch alle Freiheit, Streikgeschehen und Streikergebnis so hinzudrehen, wie sie es wollen. Mit dem schlechtesten aller Karteileichen-Argumente, der "Treue zur Gewerkschaft", hat die IG Metall den Streik angeleiert - dann wird sie ihn damit wohl auch noch abblasen können.

Und wenn es bei der dafür nötigen Urabstimmung viele Nein-Stimmen gibt, dann zwingt das die Tarifkommissionen zu nichts, sondern wertet sie auf. Sie deuten das als nachträgliche Rückenstärkung für den verkehrten Kampf, den sie geführt haben: "Seht da, so groß ist noch immer die Unzufriedenheit!" Nur dafür sind Urabstimmungsstimmen gut.

4. Lassen sich die Argumente 1. bis 3. wirklich als Ermunterung zum Streikbrechen mißverstehen? Wer sie eingesehen hat, der hat gerade bei diesem Streik mehr als genug zu tun. Z.B. um seine Kollegen zurechtzustupsen; die Gewerkschaftstreuen und erst recht die, die gar nichts anderes im Kopf haben als "Wir wollen arbeiten!" Da hat man ganz bestimmt keine Zeit vom Interesse ganz zu schweigen -, seinen Ausbeutern den "Streikbrecher" zu machen.

MSZ- und MAZ-Redaktion