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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.

Gadafi gegen Großbritannien - USA gegen die Sandinisten
ZWEI UNVERGLEICHBARE FÄLLE VON GEWALT UND MORAL

"Drittwelt-Terrorist killt unschuldige Politesse"

Vor der Botschaft Libyens in London demonstrieren Gegner des Staatschefs Gadafi. Aus der Botschaft wird ungezielt geschossen. Unter anderen wird eine britische Polizistin getroffen. Sie stirbt im Krankenhaus.

Eine offenkundig absurde Schießerei. Alles deutet darauf hin, daß irgendwelche Typen in der Botschaft - seit längerem haben Gadafi-treue libysche "Studenten" und wer weiß wer sonst noch sich dort eingehaust angesichts der Demonstration gegen den verehrten Verfasser des "Grünen Buches " voll islamisch-antiimperialistischer Lebensweisheiten durchgedreht sind. Gadafi selbst sagt eine Untersuchung zu - die Botschaft untersteht insoweit ja libyscher Hoheit und erklärt sich bereit, "neutrale" Beobachter aus anderen Ländern zuzulassen.

Das alles hilft aber nichts. Der Vorfall wird als libysches Komplott eingestuft. Daß irgendein Zweck der Aktion nicht zu erkennen ist, macht nicht diese Interpretation fragwürdig, sondern die Sache für die maßgeblichen Gutachten nur schlimmer. Gadafi gilt als Drahtzieher, ja als Urheber eines Schießbefehls; das Latrinengerücht von einem entsprechenden Funkspruch, den ein amerikanischer Spionagesatellit Stunden vorher aufgefangen hätte, findet zwar im Ernst keinen Glauben, aber Billigung. Der Vorwurf wird um verschiedene Sprengstoff-Koffer, angeblich in Tripolis für London gepackt, erweitert. Die britische Regierung verlangt gegen alle diplomatischen Gepflogenheiten polizeiliche Hoheitsrechte über die Botschaft. Das gesteht Gadafi nicht zu; daraufhin bricht Premier Thatcher die diplomatischen Beziehungen ab. Gadafis ohnmächtige Antwort: in Zukunft dürfte die IRA in allen libyschen Städten Büros aufmachen... Einreisende Libyer werden fortan verhaftet, Diplomaten ausgewiesen. Das Urteil über Libyens Staatschef: 'unberechenbarer Drittwelt-Terrorist', wird diplomatisch wahrgemacht. Die europäische Einheit bewährt sich: Genscher streicht seinen Libyen-Besuch und wirkt so mit an der Einordnung dieses Staates und seiner Regierung als nicht mehr hinnehmbare weltpolitische Störenfriede.

Krieg gegen Nicaragua - ein US-internes Verfassungsproblem

Der amerikanische Präsident entsendet zu großangelegten Manövern Truppen nach Honduras, Kriegsflotten in die Karibik und vor die Pazifikküste Nicaraguas. Geübt wird "Invasion" sowie das Abfangen gegnerischer Schiffe - auch gleich am wirklichen feindlichen Objekt. Gedeckt durch diese Massenansammlung von Militär, rüstet der amerikanische Geheimdienst Söldner und nicaraguanische Regierungsgegner für einen terroristischen Kleinkrieg gegen Nicaragua aus, arrangiert und koordiniert ihre Einsätze; die Luftüberwachung im Manövereinsatz hilft dabei. Gegen Vorratslager, Öltanks, Dörfer, Regierungstruppen werden gezielte Anschläge unternommen. Die Häfen Nicaraguas werden vermint; die Beschädigung mehrerer Schiffe bringt den für Staat und Volk überlebenswichtigen Seeverkehr vorübergehend ganz zum Erliegen, beeinträchtigt ihn, ebenso wie die Fischerei, dauerhaft. Eine Rebellenarmee in Costa Rica, auf amerikanische Vermittlung durch Israel mit sowjetischen Beutewaffen ausgestattet, besetzt vorübergehend einen Küstenzipfel an der Karibik; ihr Häuptling verspricht vor mitgereisten amerikanischen Fernsehkameras, was der CIA ihm aufgetragen hat, nämlich die alsbaldige Ausrufung einer Gegenregierung - nach imperialistischer Sitte der erste Schritt, um eine Intervention als Bürgerkrieg ins Land hineinzutragen; gleichzeitig setzt der CIA mit Hilfe der costaricanischen Polizei den allzu autonom agierenden Anführer Pastora unter Nachschub-Schwierigkeiten und damit unter den Druck, mit Washingtons bevorzugter Bürgerkriegsarmee, den von Honduras aus operierenden Figuren aus Somoza-Zeiten, gemeinsame Sache zu machen, Ergänzend führt das US-Außenhandelsministerium mit Kreditstreichungen und Embargos aller Art einen Wirtschaftskrieg gegen Nicaragua. Mit den verschiedensten Methoden, alle wohldosiert angewandt, kriegen die von Somoza befreiten Nicaraguenser "bewiesen", daß es höchst schädlich und lebensgefährlich ist, vom Reich der demokratischen Freiheit als Feind eingestuft zu werden.

Zu sämtlichen dieser Aktionen bekennt die US-Regierung sich offen. Die Millionen für "verdeckte Operationen" gegen die sandinistische Regierung in Managua werden im amerikanischen Kongreß und in der Weltpresse öffentlich verhandelt. Der oberste Befehlsgeber im Weißen Haus nimmt sich jede passende Gelegenheit, um sich das Recht auf die ökonomische wie militärische Bekämpfung der nicaraguensischen Staatsmacht zuzusprechen. Der Rechtstitel lautet: Gefährdung der amerikanischen Sicherheit durch gute Beziehungen der Sandinistas zu erklärten Feinden Amerikas. Das offene Bekenntnis der US-Regierung zur Unterstützung kriegerischer Aktionen gegen Nicaragua nimmt die angegriffene Regierung zum Anlaß, beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Klage gegen die USA einzureichen. Da alle idealen Normen des Völkerrechts für diese Klage sprechen, kontert die Reagan-Regierung mit dem Vorwurf, den Sandinistas ginge es um den "Mißbrauch" des Gerichts zu Propaganda-Zwecken. Richtig gelesen ein dreifaches Eingeständnis: Was dort zur Sprache kommt, ist Propaganda gegen die USA, weil es sich um nachweisliche und zugegebene Kriegshandlungen handelt; es ist bloß Propaganda, weil den Verhandlungen und Sprüchen des Gerichts eine in letzter Instanz bloß moralische Bedeutung zukommt; und es ist ein "Mißbrauch", weil das Völkerrecht und seine quasi-juristische Überwachungsinstanz für eine antiimperialistische Moral tatsächlich nicht gedacht und eingerichtet sind. Zur Klarstellung des letzteren Punktes spricht die US-Regierung dem Gericht die Kompetenz zur Beurteilung mittelamerikanischer Affären ab, und zwar gleich auf zwei Jahre, womit der Zeitraum für die amerikanischen Aktivitäten bei den südlichen Nachbarn abgesteckt wäre.

Trotz aller amerikanischen Übergriffe kann Nicaragua sich härtere Gegenmaßnahmen als die hilflose Beschwerde in Den Haag nicht leisten; nicht einmal den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den USA. So bleibt es der Reagan-Regierung überlassen, hier eine ausgesuchte Ungeheuerlichkeit dicht vor dem Abbruch der Beziehungen zu begehen. Die neuernannte Botschafterin Managuas wird zurückgewiesen. Ihr "Verbrechen": sie hat als Lockvogel bei der Ausschaltung eines Oberschlächters der alten Somoza-Regierung mitgewirkt - und der war ein CIA-Agent.

Demokratisch-imperialistische Bedenklichkeiten

Das alles hilft jedoch nichts. Für den kritischen Teil der Weltöffentlichkeit und die skeptischen Verbündeten der USA ist und bleibt das gezielte gewaltsame Eingreifen Amerikas in ein fremdes Land der Mißgriff von Individuen, nicht Programm, Beschluß und Vorgehen eines ganzes Staatswesens. Niemand empfiehlt eine Lösung der diplomatischen Beziehungen; niemand versteigt sich zu dem Urteil "Erstwelt-Terrorismus". Im kritischsten Fall wird dem Präsidenten eine beträchtliche antikommunistische Verblendung vorgeworfen - und das läuft noch allemal auf eine Entschuldigung der staatlichen Macht hinaus, die er befehligt.

- Punkt 1: Als Kritik versteht sich die Sorge, durch Zuschlagen ließen sich "die Probleme Mittelamerikas nicht lösen". Diese Sorge teilt mit der "kritisierten" Politik etliche selbstverständliche Voraussetzungen. Zuerst die, daß die USA für Mittelamerika zuständig sind, daß es also die Washingtoner Regierung ist, die mit allem, was sich dort abspielt, "Probleme" hat, für deren "Lösung" sie sorgen muß. Zweitens die Auffassung, daß es sich dabei um das "Problem" unkontrollierbarer Unordnung und Unruhe handelt, für dessen Bewältigung einer interessierten Staatsgewalt durchaus ihr Militär einfallen kann. Erst dann scheiden sich die Geister. Den "Kritikern" erscheint gewaltsame Ruhestiftung nicht gründlich genug - ein aufschlußreicher Zugang zu den "sozialen Ursachen" der "Unruhe", an denen die USA sich stören!

- Punkt 2: Die Sorge geht nicht nur soziologisch in die Tiefe, sondern auch historisch in die Zukunft. "Vietnam" wird beschworen, um vor den möglichen "unabsehbaren Konsequenzen" einer "Vernichtung" zu warnen: vor einem aufwendigeren militärischen Einsatz, dessen Erfolg nicht sicher wäre - und der noch gar nicht stattfindet. Auch so entfernt die "Kritik" sich zielstrebig von der Betrachtung der brutalen Schäden, die die US-amerikanische Kriegsmaschinerie den Bewohnern Nicaraguas und ihrer Regierung tatsächlich zufügt. Die werden sehr relativ: das "eigentlich" Schlimme - ein Einmarsch, ein langwieriges Schlachten ohne Erfolgsgarantie... - droht zwar, aber es droht ja erst...

- punkt 3: Dem Staatswesen USA "als solchem" sind die "Miß"- und "Fehlgriffe" bei der "Behandlung" des Mittelamerika-"Problems" sowieso nicht anzulasten. Denn in den USA selbst gibt es doch eine Opposition gegen Reagan: Das Repräsentantenhaus und sogar der Senat haben die Verminungsaktion mißbilligt - dabei haben sie die Millionen für "verdeckte Aktionen" gebilligt. Der ehrwürdige Vorsitzende des Senatsausschusses für Geheimdienstfragen hat seinen Rücktritt angekündigt - wegen der Ungeheuerlichkeit, bloß unzureichend und zu spät informiert worden zu sein über die subversiven Vorhaben der CIA. Deswegen hat er diese furchtbare Drohung auch zurückgezogen, nachdem CIA-Chef Casey sich für die Zurückhaltung und Fälschung von Informationen entschuldigt hat. Aber was soll's: s gibt Opposition. Beweist das nicht, daß es gar nicht die Nation, sondern bloß die Reagan-Clique ist, die sich da an Nicaragua vergreift?

Tut es natürlich nicht, objektiv betrachtet; eher im Gegenteil. Tatsächlich hat und verfolgt die amerikanische Nation keine anderen Interessen als diejenigen, die die zuständige Regierung als solche definiert. Für die Gültigkeit solcher Definitionen kommt es nicht auf Wahrheit oder Irrtum an, sondern auf die demokratisch erworbene Macht, die ganze Nation danach handeln zu lassen. Die demokratische "Gewaltenteilung" sorgt ersichtlich nicht dafür, daß die antikommunistische " Besessenheit" des Präsidenten scheitert, sondern dafür, daß a) alle demokratischen Formbestimmungen eingehalten werden, daß b) alle Alternativpläne zu Reagans Politik nichts als Alternativen imperialistischer Kontrolle über Mittelamerika enthalten, und daß c) selbst solche "Opposition" die Minderheitenposition oder, wo Mehrheit, folgenlos bleibt. Selbst wenn Repräsentantenhaus und Senat dem Präsidenten etwas verwehren, gibt es das nötige demokratische Gesetz, das den Führer der Nation von der Befolgung dieses Beschlusses entbindet. Eine kritische demokratische Öffentlichkeit und Opposition stellt dieses Verhältnis aber lieber auf den Kopf. Und das so gründlich, daß die unverdrossen praktizierte Kriegspolitik der USA gegen Nicaragua vollends verschwindet hinter dem angeblichen Organ- und Verfassungsstreit, den Reagan um seine Mittelamerika-Politik mit dem Kongreß auszufechten hätte. Darf der Präsident denn das? - das ist die Frage, in die alle Bedenklichkeit gegen die USA in Sachen Nicaragua sich auflöst.

Fazit: Einerlei Maß

Wenn ein Libyer in London durchdreht, dann steht fest: er hat auf persönlichen Befehl von Gadafi gehandelt. Dementis und Entschuldigungen werden nicht akzeptiert: Terroristen glaubt man nicht - dafür traut man ihnen alles zu.

Wenn CIA-Beamte und -Söldner in Nicaragua auf Befehl aus Washington Chaos und Elend stiften, dann steht fest: an irgendeiner Stelle dreht der amerikanische Problembewältigungsapparat ein wenig durch. Entschuldigungen werden konstruiert, selbst wenn der Präsident sie offiziell dementiert: Einer Demokratie traut man einen Krieg dann am wenigsten zu, wenn sie ihn gerade führt.

Wenn Gadafi der IRA seine Unterstützung zusagt, weil Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zu ihm abgebrochen hat, macht er sich lächerlich und unmöglich. Wenn Reagans Leute in und um Nicaragua herum eine Guerilla-Bewegung aufziehen, finanzieren und in ihre Aufgaben einweisen, so ist das ein problematischer Weg zur Befriedung Zentralamerikas.

Wenn Libyen diplomatische Bräuche noch nicht mal verletzt, von Großbritannien aber dessen angeklagt wird, so schließt es sich aus der zivilisierten Völkerfamilie aus. Wenn die USA das Völkerrecht für nichtig erklären, sobald seine Ideale mit amerikanischen Interessen kollidieren könnten, haben sie, und sei es im Schlechten, Maßstäbe gesetzt.

Zweierlei Maß? Nein: Zweierlei Fälle. Nämlich ganz unterschiedliche Fälle staatlicher Macht. Die eine gibt die Probleme an, die andere Staaten dann haben; führt die Kriege, nach deren Ergebnis die anderen sich richten; entscheidet über die praktische Gültigkeit von Richtlinien, die die übrigen Staaten binden. Die andere eben nicht.

Gemessen werden beide an demselben Maß. Nämlch genau an dem: ob sie die "Weltlage" definieren oder sich darauf einzustellen haben; ob sie durch ihre Gewalt Recht setzen oder mangels Gewalt kein Recht kriegen; ob die Moral sich nach ihren Interessen richtet oder ihre Moral nach fremden Interessen eingeschätzt wird. Ab dann kommt es nur noch auf eins an: daß man - sei es als Macher eines Stücks Weltpolitik, sei es als Inhaber eines Stücks öffentlicher Meinung - auf der richtigen Seite steht!