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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.

Student 84
WODURCH SICH DIE ZUKÜNFTIGE ELITE AUSZEICHNET

Nicht die Studenten haben sich geändert, sondern die Zeiten, in denen und für die sie unverdrossen die Jahre zwischen Schule und Job an den Hochschulen runterreissen. Angepaßt, wie ihnen heute schon wieder zum Vorwurf gemacht wird, waren sie immer schon - immerhin ist Anpassungsfähigkeit das halbe Staatsexamen. Und an den "kritischen" 68ern ist die Republik nicht zugrundegegangen. Heute managen sie die führenden Stellen, in die die gegenwärtige Studentengeneration hinein will.

Etwas Besseres werden

Studenten haben Abitur, es also geschafft, dem Los, ein Arbeiter sein zu müssen, zu entrinnen. Sie meinen wie eh und je auch heute noch, das läge daran, daß sie klüger wären als die anderen, die kein Abitur haben. Selbst die Tatsache, daß sie ihre Reifeprüfung mit dem Besinnungsaufsatz 'Erwäge die Vor- und Nachteile der "Nachrüstung" und begründe kritisch ihre Notwendigkeit!' bestanden haben, hat sie an ihrer Auffassung über ihre auserlesene Intelligenz nicht irre werden lassen. Die Studenten gehen auch 1984 noch auf die Hochschule, um etwas Besseres zu werden, mögen sie sich und anderen auch noch so sehr vorheucheln, sie täten es aus Liebe zum Kind, aus Sorge um den Menschen oder die Menschheit, um sich zu bilden, oder gar aus Wissensdurst. An der Universität studieren sie dann, d.h. nach den Regeln der Studienordnung versuchen sie ihre Scheine zu machen und die Prüfungen zu bestehen. Vorlesungsbesuch, Besorgung von Skripten, eigene Mitschrift und die Lektüre von Lehrbüchern kurz vor der Prüfung bestimmen sich nach dem Ziel, den Abschluß zu schaffen oder sogar sehr gut zu schaffen. Daß manche, die jede Vorlesung besucht haben, selbst die um 9 Uhr in der Früh, dann doch durchfallen, bestätigt nur, daß der rechte Aufwand für den Ertrag gefunden werden muß.

Nichts Gewisses genau wissen

Doch was studieren sie, die Studenten? Eben das, was von ihnen verlangt wird, damit die Prüfungen klappen. Was von ihnen verlangt wird, sind außer in den Naturwissenschaften, wo ohne wirkliches Wissen über die Gesetze der Natur kein Diplom herauskommt, lauter Ideologien über Mensch, Gott und die Welt. Genauer: Sie müssen sich ein wenig auskennen in dem pseudowissenschaftlichen Ideologienreichtum, der an den Universitäten geforscht und gelehrt wird. Und sie müssen vor allem die rechte Haltung zu Glauben, Wissen und realer (Um-)Welt im Reich der Theorie beherrschen. Einerseits fällt ihnen das nicht schwer. Die paar bürgerlichen Grundideologien kennen sie von der Schule: Daß der Mensch nichts Gewisses wissen kann, weil er ein endliches Erdenwesen ist und mit seinem Willen und Bewußtsein von allem möglichen, selbst von seiner frühkindlichen Mutter, abhänge, wissen sie ganz genau. Daß jeder seine eigene Meinung haben darf und noch den letzten Unsinn als wissenschaftliche Ansicht vertreten kann, sofern er so tolerant ist, dasselbe auch anderen zuzugestehen, dieses Gebot, jede Einsicht relativieren sollen zu müssen, finden Studenten prima. Auf der Schule haben sie auch gelernt und sich einbilden lassen, daß ein Staat unbedingt notwendig, weil sonst Chaos, Demokratie idealiter die beste Staatsform sei, die Respekt verdiene, es eine Klassengesellschaft nicht mehr gebe und Erfolg oder Mißerfolg jedes einzelnen ganz vom Geschick der vielen Glücksschmiede abhänge (wofür die Studenten ja glauben, ein Beispiel zu sein). Diese paar moralischen Grundprinzipien der bürgerlichen Welt machen reif für's Studium. Sie werden von den bestallten wissenschaftlichen Lehrern nämlich nicht auseinandergenommen und ad absurdum geführt, sondern kräftig ausgebaut. Wenn dann noch beim Studenten die Überzeugung festsitzt, daß diese Prinzipien keine Dogmen sind, als Dogmatiker vielmehr solche abzuqualifizieren sind, die diese moralischen Allgemeinplätze nicht teilen, sondern kritisieren, kann eigentlich kaum noch etwas schiefgehen. Das gläubige Verständnis, mit dem die Studenten die komplizierten Windungen universitärer Ideologiebildung anhören, ist schon die halbe Miete.

Von der Mühe falschen Denkens

Andererseits bereiten die Höhen und Tiefen der Theorie, in die sich die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften fortgesponnen haben, den Studenten keine unerheblichen Schwierigkeiten - nicht nur den Erstsemestern. Sie erscheinen ihnen sehr kompliziert, auf das meiste wären sie nie selbst gekommen, mit vielem wissen sie zunächst oder für immer kaum etwas anzufangen. Da kommt es nicht selten vor, daß Student X seine Vorlesungsmitschrift beim nochmaligen Durchlesen (falls er sich dieser Anstrengung überhaupt unterzieht) einfach nicht kapiert, weil er schon in der Vorlesung keinen roten Faden entdeckt hat. Und Studentin G, die auf der Schule hervorragende Inhaltsangaben verfaßt hat, schaut in das Heft ihres Nachbarn, der schon zwei Sätze aufgeschrieben hat - sie weiß partout nicht, was sie von dem Gesagten zu Papier bringen soll. Sie hat nicht verstanden, wie und warum der Professor die ihr bekannte Ideologie von der Knappheit der Güter unbedingt in einer quadratischen Funktionsgleichung unterbringen will oder weshalb ein anderer Professor den menschlichen Geist, von dem sie bisher dachte, etwas Göttliches sei an ihm, wie den tierischen Instinkt als Pfeilhagel an die Tafel malt, wo die spitzen Dinger rein und rausfliegen. Student Z wiederum, Student der Politologie, denkt in der Vorlesung einfach zu oft an das Parlament in Bonn und hat so seine Schwierigkeit, die Funktionsstrukturen politischer Bedingungsfaktoren aufzufassen. Er versteht - noch - nicht, daß das Vorgelesene mit der wirklichen Politik nichts zu tun hat, sich vielmehr in idealen Theoriekonzepten der Möglichkeit von Politik herumtreibt.

Doch ist das kein Grund, das Studium abzubrechen. Verstehen brauchen und sollen sie den vorgetragenen Unsinn, der von Sinn nur so tropft, ja gar nicht. Das würde ja heißen, sie kämen den Unwahrheiten der Ideologien auf die Spur. Verständnis ist gefragt, und gläubiges Verständnis bringen sie zuhauf mit. "Aha", sagen sie sich, "so sieht der das. Eine originelle Betrachtungsweise!" Sie merken, daß es noch ganz viele Ansätze und Sichtweisen desselben gibt, die alle nicht das Ganze packen können, aber doch etwas sind. Also knallen sie sich die diversen Lehrmeinungen, von denen der Professor oder die Prüfungsordnung meint, daß sie bei aller Unfertigkeit Bedeutung hätten, in den Kopf, um sie mehr schlecht als recht in der Prüfung nennen zu können. Oft reicht ja schon, daß man von der Funktionstheorie soundso weiß, ohne zu wissen, wie sie läuft. Wenn dann die unvermeidlichen Seminar- und Diplomarbeiten zu schreiben sind, werden die Studiosi schon mitbekommen haben, daß das gestellte Problem nur unzureichend umschrieben ist, wenn sie weniger als eine gewisse Zahl theoretischer Ansätze der Wissenschaft anführen; daß sie auf keinen Fall behaupten dürfen, sie hätten es gelöst. Weiter werden sie gelernt haben, daß es sich empfiehlt, die eigene Meinung sehr vorsichtig und bescheiden unterzubringen, am besten, indem man einen schon vorhandenen wissenschaftlichen Ansatz ein wenig favorisiert und im Ausblick auf seine Lücken hinweist, die aber anderswo schon teilweise berücksichtigt seien oder dem immer strebenden Bemühen der Wissenschaft noch viel zu tun übrigließen. Man selbst sei aber nicht so vermessen behaupten zu können, auch nur die Möglichkeit eines ab schließenden Urteils in klaren Umrissen zu sehen. Natürlich bietet sich immer an, mit einem offen versteckten Opportunismus der Eitelkeit des Professors, bei dem man schreibt, zu schmeicheln, indem man dessen Einfällen einen vordergründigen Platz zuweist.

Genauso oder so ähnlich werden Studenten zu ausgebildeten Akademikern. Daß sie, wie es heißt, in Rechtschreibung mangelhaft sind, 'Interesse' nicht trennen können, 'Muttermahl' sehr sinnentstellend so wie hier schreiben, in Allgemeinbildung ungenügend, so daß sie nicht wissen, warum Hitler den Krieg verloren hat (im Vertrauen: Weil er statt eines Langstreckenbombers das Zwitterunding schneller schwerer Jagdbomber bauen ließ und erfahrene Generäle entließ) - diese Bildungsmängel stören den erfolgreichen Studiengang der Studenten kaum. Wo statt Wissen Skepsis gegenüber jedem Wissen gefragt ist, da stellt sich schon die rechte Schreibweise ein. Und wo Alltagsmoral in komplizierten wissenschaftlichen Sätzen verlangt ist, da ist die ideologische Bildung allgemeiner als mancher denkt. Wer gelernt hat, daß eine geteilte Nation ein Gebilde mit einem Riß ist, dem zur vollen Funktionsfähigkeit die Ganzheit abgeht, muß der noch wissen, wo in Schlesien das nördlichste Weinanbaugebiet Europas liegt?

Mann, wie kritisch!

Studenten sind natürlich schwer kritisch. Das sind sie ihrer auserlesenen Gebildetheit schuldig. Damit meinen sie, daß man auch andere Meinungen hört und auch vieles für verbesserungswürdig hält. Richtig kritisch werden sie, wenn die professoralen Einsichten, die sie inhalieren, ziemlich grundsätzlich angegriffen werden; wenn jemand daherkommt und behauptet, er wüßte etwas und nicht gleich hinzufügt, vielleicht wär's auch gar nichts; wenn sie in ihrer stumpfsinnigen Vorlesungshörigkeit durch ein paar Hinweise auf die Sauereien der NATO aufgeweckt werden. Dann haben die gläubigen Anhänger des wissenschaftlichen Skeptizismus sogleich den Vorwurf des Dogmatismus auf der Zunge. Dann wissen die Studenten, die brav studieren, was ihnen der Dozent an Unsinn vorerzählt, plötzlich ganz genau, daß ihnen mit Gewalt eine fremde Meinung aufgezwungen werden soll, wo sie doch längst eine eigene hätten. Schon längst hätten sie sich mit der weltweiten Aufrüstung selbständig beschäftigt und fordern Nichteinmischung in ihre freie Meinung. Die besteht dann vor allem darin, daß man unbedingt weiter die Vorlesung hören will - wenn der Professor das auch will. Wenn der sich bereit erklärt, mal über anderes als Soziologie oder Psychologie zu reden, ist das natürlich etwas anderes. Wo sie sonst die Schnauze nicht aufmachen, mag ihnen das Vorgetragene auch noch so blöd vorkommen, bei Kritikern, die sie sofort als fehl am Platze identifizieren, werden sie mutig und legen sich schon mal ins Zeug. Oder sie demonstrieren Interesselosigkeit - es gehört ja nicht zum Prüfungsstoff.

Wenn sie sich sonst mal engagieren, egal für was, soll das schon was sein. Die studentische Sinnfrage des Studiums vermögen sie an Betonuni, überfüllten Hörsälen, Frieden, Umwelt oder Frau gleichermaßen zu stellen. Darüber würde das Studium sinnlos, wenn nicht gar das ominöse Subjekt 'die Menschheit' darunter leidet. Schlechte Studienbedingungen und drohende Akademikerarbeitslosigkeit bauschen sie sicher zum drohenden Unheil für die Menschheit auf. So - heucheln Humboldts späte Humanisten - könnten sie die wichtige gesellschaftliche Funktion der Intelligenz nicht erfüllen.

Kindisch engagiert

Bei solchem Engagement führen sie sich wie Kinder auf. Da wird schon mal in einem alma-mater-Sarg ohne Bafög drin das doch so nützliche Studium symbolisch zu Grabe getragen. Andere legen sich mit einem löchrigen Schirm vor die Mensa, um auf die Wohnungsnot der Studenten aufmerksam zu machen. Friedenswochen zeichnen sich durch das friedliche Nebeneinander von normalem Studienbetrieb und einer Sitzmahnkette vor dem germanistischen Institut aus - anschließend singt ein Dichter in 001 Friedenslieder, u.a. eines, das die Frauen der Fachschaft Geographie ganz allein verfaßt haben. Hier eine Song-Veranstaltung mit echt nicaraguanischen Liedern, dort ein Film über die Greuel von Hiroshima - zum 7-ten Male. Die Intelligenz mimt Anteilnahme. Wenn ein Friedensforscher Afheldt in salopper Form mit eingestreuten Soldatenwitzen vorführt, wie er sich eine andere Vaterlandsverteidigung vorstellen könnte, sind alle begeistert. Kritische Hinweise darauf, daß der gute friedliebende Mann gerade über eine Stunde nur über Strategie, über eine andere Art und Weise des Tötens und Sterbens geredet hat, will man nicht hören. Da beklatscht man schon lieber das Bekenntnis des Redners zum lieben, guten Vaterland. Wahrscheinlich glaubt niemand, daß das vorgelegte alternative Verteidigungskonzept irgendwie zum Tragen käme. Aber was soll's - man war mal wieder auf Erbauung in Sachen Frieden.

Fachschaftsmütter rennen mit Urnen durch die universitäre Gegend. Es fehlen noch 300 Stimmen, damit 10.000 Studenten sich für das Audimax als atomwaffenfreie Zone ausgesprochen haben. Die weinerliche Bitte: 'Ihr müßt aber jetzt auch aktiv mitarbeiten, wo Ihr doch Eure Stimme abgegeben habt, weil sonst sind wir 8 vom Komitee 'Studenten für den Frieden' so allein!' kennt man schon. Sie bleibt ohne Echo. Die meisten Studenten kriegen den intelligenten Zirkus eh nur am Rande oder gar nicht mit. Sie studieren, latschen mal bei einem Ostermarsch mit, wählen vielleicht zum Teil auch Grün, weil's in ist und als kritisch gilt. Ansonsten sind Studenten auch nicht normaler als andere. Manche leben umweltbewußt, andere joggen - höchstwahrscheinlich wegen des 'in corpore sano', wieder andere schließen dem Tanzkursus in Rock'n roll jetzt den in Tango an. Probleme mit Freund und Freundin, mit der Prüfung, dem späteren Job haben sie sicher. Dabei zeichnet sie höchstens aus, daß sie über alles so saudumm daherreden, am liebsten psychologisch: Selbstbewußtsein, selber was machen, sich wo wiederfinden, etwas ganz irre finden und so. Tja, den Spiegel lesen sie auch noch. "Birne" Kanzler Kohl des Amts für eigentlich unwürdig zu halten, überhaupt Politikern angebliche Erfolglosigkeit zu bescheinigen, das mögen unsere Studenten. Für solch' unterwürfige Stilkritik haben sie Bildung übergenug.

Die Elite der Nation

Man sieht, mit den Studenten ist schwer was los. Ihr Wissen ist umgekehrt proportional ihrer braven Angepaßtheit, die sie mit der großen Politik und der kleinen an der "Massenuniversität " ganz gut fertig werden läßt. Diese vollentwickelten Persönlichkeiten sind eben die zukünftige Elite der Nation und glauben auch noch - was genau paßt -, sich diesen Status selbst verdient zu haben.

"Die Studenten sind ein närrisches Volk, dem man nicht feind sein kann und das sich mit einigem Geschick recht gut lenken läßt." (Goethe an Schiller, 5.7.1802)