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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.

Korrespondenz
"VON KRITIK KEINE SPUR"

An die Redaktion der MSZ!

Als Politologiestudentin und Linke (undogmatisch und unorganisiert!) habe ich mir euren ellenlangen "Gegenstandpunkt" in der MSZ-Aprilausgabe unter dem stolzen Titel "Systemvergleich: Freiheit statt Diktatur" zu Gemüte geführt. Nachdem ich seit längerer Zeit die MSZ lese (auch schon die alte Variante "Politisches Magazin", in der man wenigstens noch einiges an Informationen über die Dritte Welt erfuhr), war ich echt gespannt, wie ihr es mit dem "realen Sozialismus" haltet, in dem meiner Meinung nach alles real ist, nur nicht der Sozialismus! Umso enttäuschter muß ich feststellen: VON KRITIK KEINE SPUR!!! Ganz im Gegenteil: Für alles, was ihr hier, m.M. nach zurecht, kritisiert, findet ihr für drüben eine Entschuldigung, die sogar den Parteifunktionären jede Menge zugute hält, z.B. sie wurden sich tatsächlich um Wohl und Wohlstand ihrer Bürger kümmern. Als einzige Kritik lese ich höchstens, daß der Plan nicht aufgeht. Dabei müßte man schon tiefer bohren: Kann denn sowas wie ein Plan überhaupt was bringen, wenn die schöpferische Initiative des einzelnen, die Phantasie und die selbstverantwortete Verwirklichung des Individuums im Plan der Partei nicht vorgesehen ist? Statt mehr Freiheit für die Leute drüben - entscheidend mehr als bei uns! - zu fordern, behauptet ihr einfach, die "Völker der Sowjetunion" brauchen keine Demokratie! Das ist nicht nur zynisch, sondern arrogant von eurem eigenen Standpunkt aus. Immerhin könnt ihr bei uns (noch) die MSZ unzensiert machen und eure Flugblätter verteilen. Das ist eine Voraussetzung für Radikal- und Systemopposition, die es im sogenannten realen Sozialismus nirgends auch nur in Ansätzen gibt. Auch was Wahlen betrifft, so sind die doch nicht einfach niederzumachen mit der Ausmalung der Farce und der Manipulation, mit der sie hier stattfinden. Man muß ja nicht sein Kreuz "gleichgültig gegen jeden Grund malen". Immerhin kann man ja auch eine wirkliche Alternative wählen. Ich denke dabei nicht bloß an die Grünen, die ihr sicherlich als "systemimmanent" ablehnt. Auch DKP, und ihr dürftet auch kandidieren, wenn ihr wolltet. Solche Minimalvoraussetzungen politischer Wirkungsmöglichkeiten sollte man nicht leichtfertig und überheblich abtun.

Mit (nicht immer) solidarischen Grüßen

M. H., Tübingen

Soviel Kritik, wie die Staatsgewalt erlaubt

An M. H.!

Erstens: "Als Politologiestudentin" sind Dir die Techniken und Ergebnisse des "Systemvergleichs" sicher vertraut. "Als Linker" sind sie Dir - so hätten wir gehofft - nicht sehr sympathisch: diese "Prüfungen", mit welchen Methoden die Benutzung und Betörung (= "Integration") der Leute durch und für die Staatsmacht besser gelingt; diese zielstrebige Verwechslung einer erfolgreichen Organisation der Staatsgewalt mit höchst ideellen Wohltaten für die Untertanen; diese "Kritiken", die östliche wie westliche Staatsführungen ganz gerecht an den gleichen Maßstäben messen - nämlich an den Idealen, die der freie Geist des Westens pflegt, weil sie seine Welt, die gewaltsame Einrichtung von Markt, Konkurrenz und Lohnarbeit und die Konkurrenz um die Ausübung dieser Gewalt, so passend verklären.

Und als Leserin der MSZ "seit längerer Zeit" hättest Du Dir gleich denken können, daß wir die Frage "Diktatur statt Freiheit?" "aus aktuellem Anlaß" aufwerfen, um die darin vorausgesetzten und angewandten "Vergleichs"-Maßstäbe anzugreifen. Wenn wir damit den Wunsch enttäuscht haben, auch in unserer Zeitung doch mal die Erzideologie des NATO-Bürgers bestätigt zu bekommen, man hätte es hierzulande doch immerhin vergleiclisweise gut getroffen, dann ist uns das sehr recht. Verkehrt und im Ergebnis botmäßig ist nämlich die gerade unter "undogmatischen Linken" gepflegte Manier, Kritik an der Demokratie immer gleich zurückzunehmen, sobald ein moralischer Zeigefinger auf den Osten weist.

Zweitens: Deine eigenen Anmerkungen zu den demokratischen Wahlen in der Freien Welt sind ein Beispiel dafür. Du störst dich an "der Farce und der Manipulation, mit der sie hier stattfinden" - und empfiehlst uns gleich anschließend, sie als "Mindestvoraussetzung politischer Wirkungsmöglichkeiten ... nicht leichtfertig und überheblich abzutun", zumal doch "wirkliche Alternativen" zur Wahl stehen, "auch DKP" und sogar wir kandidieren dürften. Möchtest Du uns die Teilnahme an einer "Farce", einem staatlich organisierten "Manipulationsunternehmen" als Weg politischen Wirkens empfehlen?

Nein, Du denkst umgekehrt. Was Du an "Farce" und "Manipulation" entdeckt hast am freiheitlichen Wahlzirkus, das hältst Du für einen weniger wesentlichen Mißstand, der zu korrigieren wäre, wenn man - verstehen wir Dein "Zitat" so richtig? - "sein Kreuz" nicht "'gleichgültig gegen jeden Grund malt'"'. Genau dagegen wollten wir mit unserer "Ausmalung" allerdings auf etwas ganz anderes aufmerksam machen. Daß nämlich die Demokratie etwas anderes als Personalfragen der Macht und die Konkurrenz der Macher - sehr "wirkliche" Alternativen übrigens! - gar nicht zur Wahl stellt. Daß deswegen selbst eine "Basis- und Systemopposition", wenn sie sich die Wahl als "Voraussetzung" oder Methode ihres politischen Wirkens zu Herzen nimmt, die Lüge mitmacht, "'irgendwie' hätte der Wähler die Zweckbestimmung des fraglichen Amtes im Griff, indem ihm mit dem Wahlkreuz ein Urteil über die vergleichsweise Amtswürdigkeit der Personen zugestanden wird, die ihm als Alternative präsentiert werden" (S. 24, rechte Spalte). Daß also Personenkult zur demokratischen Wahl notwendig dazugehört, weil er ihr Gegenstand ist - daß es in Demokratien, die es nicht gibt, anders sein könnte, halten wir da für keinen guten Einwand. Und daß nicht der Wähler die Sünde der "Gleichgültigkeit" begeht, der sich zu seinem Wahlkreuz nichts Hohes einbildet, sondern daß jeder Tiefsinn beim Wählen sich an der schlichten Bedeutung blamiert, die das Grundgesetz und sämtliche Prinzipien und Gebräuche der Demokratie einem Wahlkreuz praktisch beilegen. Deswegen haben wir uns den Schluß erlaubt: Den Leuten drüben mag vieles fehlen - um die demokratischen Errungenschaften (mitsamt ihren dazugehörigen, sehr dogmatischen Idealen der Freiheit) braucht es ihnen wirklich nicht leid zu tun.

Drittens: Wir haben ein bißchen gegenübergestellt, was hüben und was drüben den alltäglichen Inhalt des Berufs 'Politiker' ausmacht und Du entdeckst Entschuldigung der Staatsfunktionäre drüben.

Sehen wir einmal davon ab, daß das Be- und Entschuldigen sowieso nicht unsere Sache ist - uns liegt daran, den "Job einer politischen Führungskraft" durch seine Erklärung zu kritisieren; Richter über die Moral hingebungsvoller Amtsträger mögen wir gar nicht sein. Dein Vorwurf, wir hätten "für alles, was ihr hier... kritisiert,... für drüben eine Entschuldigung" gefunden, geht fehl, weil wir das, was wir hier kritisieren, drüben gar nicht entdecken. Mit der Abschaffung der Kapitalisten und ihrer Konkurrenz nach eigenen sachlichen Zwangsgesetzen hat das Politikmachen drüben einen gründlich anderen Inhalt bekommen als hier.

Und welchen? Hier hättest Du gerne gelesen, daß die Machthaber sich um Wohl und Wohlstand ihrer Bürger einen Dreck kümmern. Woher weißt Du das bloß? Aus den einschlägigen Spiegel-Reports vielleicht die ihre Stories über Korruption und Mißwirtschaft aus sowjetischen Zeitungen zusammenstellen! - ? Und was meinst Du, worum sie sich statt dessen kümmern? "Um ihre Karriere!" denkst Du wahrscheinlich - aber wie und worüber macht man drüben denn Karriere? Mit "Unterdrücken" jedenfalls genauso wenig wie hierzulande!

Viertens: Unsere Kritik am realsozialistischen Wirtschaften hast Du entweder überlesen (für diesen Fall zwei Lektüretips: Die alte MSZ Nr. 6/82: Systemvergleich theoretisch und: Abweichende Meinungen zu Polen, München 1982). Oder Du hast am Ende gar nicht die Kritik gemerkt, an Feststellungen wie: "Geld und Kredit, Preise und Löhne sind - trotz aller blockübergreifenden Ideologien - ein für allemal keine geeigneten Mittel noch 'Hebel', um die Bedürfnisse der Menschen, ihre Arbeitsmittel und ihren Arbeitsaufwand zu ihren Gunsten aufeinader zu beziehen" (S. 27, rechte Spalte).

Wir fürchten letzteres. Denn Dein Einwand gegen den "Plan der Partei", der da "tiefer bohren" möchte, ist ziemlich verkehrt geraten. Möchtest Du im Ernst einen Wirtschaftsplan, der "die schöpferische Initiative des einzelnen, die Phantasie und die selbstverantwortete Verwirklichung des Individuums" gleich mit vorsieht? Dann bist Du bei den Planern drüben - genau richtig! Denn das haben die schon längst drauf, ausgerechnet bezüglich der Arbeit, die sie verordnen, über "Schöpfertum" und "Selbstverwirklichung" zu schwärmen; und auf die "selbstverantwortete Initiative" ihrer Werktätigen verlassen sie sich mehr als genug, denn die brauchen sie für die Bewältigung ihres Widersinns einer Wirtschafterei nach Gewinnplänen. Daß diese "nicht aufgehen", gehört ins Reich der offiziellen Selbstkritik ihrer Urheber und stellt nicht unseren Einwand dar.

So hast Du's natürlich nicht gemeint. Aber was hast Du denn gemeint? Wenn Du an zu wenig Freizeit gedacht haben solltest, dann laß' die abendländischen Phrasen. Und wenn du möchtest, daß die Planer wie ein Haufen Sozial-Gouvernanten das Leben ihrer "Selbstverwirklicher" betreuen sollten, dann bist Du wirklich in jeder Kirche besser aufgehoben als im "Sozialismus".

Fünftens: Der Fortgang Deines Briefes zeigt übrigens, wozu Deine Phrasen über "Schöpfertum" und "Phantasie" einzig und allein taugen. Dir taugen sie dazu, gleich im nächsten Satz den "Völkern der Sowjetunion" einen Nachholbedarf an Demokratie anzuhängen: nach einer Herrschaftsform, an deren Praxis Du Dich so ungern erinnern läßt - im Namen der Phantasie womöglich? Und noch zwei Sätzchen weiter bist Du bei einem "immerhin", das wir von Leuten wie Kohl und Weinberger nur allzu gut kennen: "Die NATO verteidigt auch die Freiheit, gegen sie zu demonstrieren." Mit Verlaub, deswegen ist das Militärbündnis nicht zustandegekommen. Sachdienliche Hinweise auf die genuinen Leistungen westlicher, demokratisch inszenierter Gewalt hast Du leider nicht einmal den von Dir so geschätzten "Informationen" über die Dritte Welt entnommen. Denn daß es sich bei dieser Welt der dritten Art um ein Werk der relativ besten aller politischen Ordnungen handelt, war von unserer Seite gewöhnlich die "Information".

Daß die Demokratie Dagegensein zugestehen würde, womöglich sogar als "Voraussetzung" dafür eingerichtet wäre, ist, gelinde gesagt, eine Täuschung. Sie richtet eine Konkurrenz konstruktiver Meinungen übers Wer und Wie des Herrschens! - ein; sie überwacht mit ihrem Verfassungsschutz alles, was diesem nicht konstruktiv genug erscheint; und sie nimmt sich nach eigenem Bedarf die Freiheit, den Gebrauch der zugelassenen Meinungsvielfalt als Mißbrauch zu unterbinden. Deswegen gibt es auch den Hinweis auf die staatliche Toleranz nur in zweierlei Sinn: als Mahnung, Dankbarkeit vor Kritik gehen zu lassen oder als Drohung, kurzen Prozeß zu machen.

Sechstens: Wir sind weder unarrogant noch unzynisch genug, den Sowjetmenschen die Demokratie an den Hals zu wünschen und "mehr Freiheit" für sie zu "fordern" - von wem eigentlich ? Die NATO bereitet gerade den Export einer ersten Lieferung vor! -, bloß damit wir uns, gesetzt wir wären in Rußland tätig, keine neuen Agitationsmethoden auszudenken bräuchten. So bescheiden und menschenfreundlich sind ohnehin nur Leute, die hier wie drüben ihr Lebtag bestenfalls so; viel Kritik üben, wie die jeweilige Staatsgewalt ihnen erlaubt.

Die MSZ-Redaktion

"Fröhlicher Gelehrtenpluralismus" zum "Waldsterben"

Liebe Leute von der Redaktion,

zu Eurem Artikel "Die verstaatlichte Natur" in der MSZ Nr. 4 (April 1984), insbesondere zur Abteilung "Umweltforschung im Dienst von Staat und Eigentum" paßt eine Diskussionsrunde von Gelehrten, die ich zufällig in der Zeitschrift "bild der wissenschaft" (12/1982) abgedruckt fand. Diskutiert wurde das "Phänomen Waldsterben", eingeladen waren Vertreter aus den Bereichen Wissenschaft, Politik und Kapital, allesamt Forstexperten, also Leute, die es wissen müssen. Um nur die eindrucksvollsten Stilblüten dieser Sorte Wissenschaft vorzustellen, zitiere ich auszugsweise aus den Beiträgen der Diskussionsteilnehmer:

Zunächst ein Prof. Schütt mit Lehrstuhl für Forstbotanik an der Uni München zu der eingangs von "bild der wissenschaft" gestellten spannenden Frage, ob und wenn ja, wie genau der Schaden zu bestimmen sei:

"Als wir mit unseren Untersuchungen begannen, waren wir noch weit davon entfernt, anzunehmen, daß dies eine Umwelt-Angelegenheit ist. ... Mit der Schätzung von Immissionsschäden im Wald ist das so eine Sache. Ich habe mehrfach erlebt, dar Forstbeamte ihren Wald als nicht geschädigt eingestuft haben, obwohl die Bäume bei genauer Untersuchung alles andere als gesund waren. Das ist ja auch ganz logisch (!). Welcher Förster gibt schon gerne zu, daß in seinem Wald etwas nicht in Ordnung ist. ... Sicherlich haben wir Beobachtungsnetze, und durch sie kann der Krankheitsverlauf minutiös erfaßt werden. Aber diese Netze können in gar keiner Weise dazu beitragen, ein objektives Bild über die Verteilung der Schäden zu vermitteln." ( Auch das wohl ganz logisch) "Hier sind wir auf den letzten Mann vor Ort angewiesen. Dieser letzte Mann vor Ort ist über die Dinge nicht informiert." (Hier versagt wahrscheinlich das Kommunikationssystem.) "Bisher ist die subjektive Komponente ganz eindeutig dominierend. Man muß aber dazu übergehen, die Dinge objektiv zu erfassen..." - Vorher muß man natürlich die Unsicherheit über die Eindeutigkeit von Objektivität bzw. Subjektivität beseitigen usw. Und zur Frage, woher diese Schäden denn jetzt kommen: "Als Wissenschaftler sagt man es nicht gerne, aber es gibt in diesem Zusammenhang mit Sicherheit einen unbekannten Faktor, den wir noch nicht ermittelt haben..."

Angesichts dieser schier unüberwindlichen Schwierigkeiten weiß sich unser um harmonische Zusammenarbeit zwischen den politisch Verantwortlichen und Naturforschern bemühte Professor nicht mehr anders zu helfen, als resümierend auf einen gar undemokratischen Gedanken zu verfallen:

"Solange sich nicht jemand an die Spitze stellt, der etwas von der Sache versteht, werden wir noch lange auf einen Durchbruch warten müssen."

Nicht ganz und doch ganz derselben Meinung die Herren Staatsmänner; Dr. Günther Hartkopf, Staatssekretär im Bonner Innenministerium:

"Was nun letztlich für die Waldkrankheit verantwortlich ist, weiß keiner der Wissenschaftler ganz genau. Die Experten, die sagen, es sei lediglich das SO2, tragen nur einen Glaubenssatz vor sich her. Die mangelnde genaue Kenntnis darf nun aber nicht dazu führen, daß wir nichts tun." - Das findet auch sein Kollege, Alfred Dick, Staatsminister im Ministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen in München: "Ich wehre mich... dagegen, daß man die staatliche Seite immer wieder der Untätigkeit bezichtigt. Wir haben schon einiges getan... Wie wir das Problem auch drehen und wenden, es fehlt in jedem Fall das letzte Glied in der Kette, dennoch wird man politische Entscheidungen treffen müssen."

Worauf der geschätzte Bürger Gift nehmen kann! Das sei gegen all jene gesagt, die in der Tat zu Unrecht dem Staat Untätigkeit vorwerfen. Am besten bestätigt in den Worten unseres Experten für Kapitalentwicklung und Umweltzerstörung:

"Wir meinen, daß kohle- und schwerölbefeuerte Wärmekraftwerke künftig bedarfsgerecht durch Kernenergie abgelöst werden sollten. Denn (!) Kernkraftwerke emittieren keine Schadstoffe wie S02 oder Schwermetalle. Wir verkennen dabei nicht, daß es auch bei der Kernenergie Schwierigkeiten gibt. Die Frage der sicheren Beherrschung radioaktiver Strahlenbelastung ist deshalb für uns von höchster Bedeutung. ... Das Kabinett hat beschlossen, daß die Betriebszeiten von kohle- und schwerölbefeuerten Wärmekraftwerken und damit auch die Emissionen von Säurebildnern durch den bedarfsgerechten Einsatz von Kernenergie auf das unvermeidbare Maß verringert werden."

Im Klartext: Der Staat nennt die Grenzen, innerhalb derer die Gefährdung und Zerstörung der menschlichen Gesundheit und seiner natürlichen Lebensgrundlagen bei der Verfolgung der geschäftlichen Zwecke in Tauf genommen werden darf. Und weil der Einbau von Rauchgasentschwefelungsanlagen ebenso wie der Lebensunterhalt des Arbeiters als "Kostenfaktor" behandelt wird und Kosten, die unnötig sind für den geschäftlichen Erfolg, vermieden werden müssen, erfolgreiches Geschäftemachen also die rücksichtslose Ausnutzung von Land und Leuten gebietet, verfährt der Geschäftsmann - in unserem Fall vertritt ein Dr. Jochen Seeliger den Gesamtverband des Deutschen Steinkohlebergbaus - streng nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dieses Verfahren läßt den Doktor vom Bergbau das frech behauptete Absterben des Deutschen Waldes erstmal grundsätzlich in Zweifel ziehen:

"Unsere Unterhaltung zeigt, daß wir es in dem Bereich des Baumsterbens mit vielen Unsicherheiten zu tun haben. Das liegt daran, daß das Phänomen ziemlich neu ist. In dieser Hinsicht sind wir uns sicherlich einig. Andererseits aber muß ich fragen, wie man zu der Auffassung kommt, daß es um den Wald heute ungleich schlechter als früher bestellt ist. Wo liegen die Vergleichsdaten aus früheren Jahren? Wie krank ist der Wald im Normalzustand? Man kann ja nicht ins Blaue hinein reden und sich nur auf subjektiv ermittelte Beobachtungsdaten stützen."

Wetten, daß derselbe Mann beim "Phänomen Wirtschaftskrise" ganz ohne Daten auskommt, um das felsenfeste Urteil zu verkünden, daß es "uns" zu gut geht und "wir" über unsere Verhältnisse gelebt haben! Zudem hat der Herr Dr. Seeliger für alle, die bis jetzt für Strom, Gas und Heizkohle teures Geld bezahlt haben, eine ganz besondere Überraschung parat. Mitten in der kapitalistischen Marktwirtschatt muß es einen Fleck geben, wo kommunistisch geplant wird:

"Ich komme aus einem Wirtschaftszweig, der eigentlich nichts anderes tut, als von früh bis spät die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen zu befriedigen: Rohstoffe zur Gewinnung von Wärme, Licht und Kraft bereitzustellen (!)."

Der neugierig gewordene Leser muß ein paar Sätze später jedoch enttäuscht feststellen, daß dies alles nichts als Lügen sind, der Doktor ein unverschämter Heuchler ist und ein Zyniker dazu.

"Welchen Nutzen wir bei einer vorweggenommenen Umrüstung der Kraftwerke haben, weiß niemand. Was es kostet, kann ich Ihnen sagen: zusätzlich fünf Milliarden bei der Investition und zwei bis drei Milliarden jährlich Betriebskosten."

So viel Aufwand, nur um den Menschen und seine "Umwelt" vor Schadstoffen zu schützen? Nein, das liegt nun wirklich nicht im Interesse des Verbandes..., pardon, der Menschen!

Das philosophische i-Tüpfelchen auf den munteren Meinungsaustausch setzt ein Mann namens Carl Amery, dessen Beruf mit "Publizist" angegeben wird. Dieser hat folgendes zu vermelden:

"Es gibt den schönen Satz, daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Ich habe den Eindruck, daß man vor lauter Ursachen die Hauptursache des Waldsterbens nicht mehr erkennt. Bis wir mit viel Akribie die Ursache-Wirkungs-Beziehung eines bestimmten Zusammenhanges wissenschaftlich herausbekommen haben, treten in unserer Zivilisation völlig neue Zusammenhänge auf. Wir hinken also mit unserer Forschung immer hinterher. Ich bin der Auffassung, daß das Waldsterben durch unsere Zivilisation an sich hervorgerufen wird und glaube, daß wir künftig damit leben müssen."

Falls dies nicht alles als Witz gemeint ist, so wird der arme Herr Amery wohl tatsächlich in den nächsten Jahren noch mindestens zwanzigmal seine Auffassung revidieren müssen - wegen der "völlig neuen Zusammenhänge"! Was ihn allerdings nicht daran hindert, die längst gefallenen politischen Entscheidungen samt der verschiedenen Reaktionen von Geschädigten auf der einen und Nutznießern auf der anderen Seite mit folgender ideologischer Glanzleistung zu begleiten:

"Ich meine, die einzige Alternative kann hier nur heißen, daß wir einen Kulturentwurf schaffen, der auf einer anderen ethischen Rangordnung basiert."