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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.

Systematik


ELITE - DER FRÜHJAHRSSCHLAGER AUF DEM DEMOKRATISCHEN MEINUNGSMARKT

Ein korpulenter Herr, der in Bonn den Beruf des Außenministers ausübt, rechnet es sich selbst hoch an, das Theater eingeläutet zu haben. Er ist stolz und glücklich über eine Tat, die Mut erfordert, weil sie für den Täter das Risiko in sich birgt, unbeliebt zu werden. Bei all denen, die sich in der Welt eingehaust haben und auf die Einhaltung von lauter Tabus achten, die ihnen heilig und vorteilhaft erscheinen. Genscher, Hans-Dietrich, am 10. April des Jahres 1984:

"Das Wort 'Elite' darf dabei kein Tabu sein. Es erscheint mir außerordentlich bedeutsam, daß die Diskussion in unserer Öffentlichkeit über meine Forderung nach Elitenbildung dieses Tabu endlich gebrochen hat."

Eines ist sicher: Unter Minderwertigkeitskomplexen leidet der gute Mann nicht. Er hält sogar den Rest der Welt für so bescheuert, daß sie ihm sein Selbstlob, als Tabubrecher aktiv geworden zu sein, dankt. Und in gewisser Weise ist dieser Dank auch schon abgestattet worden - in Gestalt einer Debatte darüber, ob "wir" nun auf "unsere" Elite aufpassen müssen oder nicht, wenn "wir" unsere Zukunft nicht vergeigen wollen. Das kommt freilich nicht von der - Schwere des nationalen Problems, das der Minister entdeckt haben will. Und schon gleich nicht von der Wucht des Gedankens, der einen umtreibt, der "Elitenbildung fordert". So verwegene Einfälle wie der, daß aus Deutschland-West nichts wird, wenn ihm die Erfinder, Dichter, Denker und Führungskräfte ausgehen, dürften an manchem Stammtisch der Nation als anerkannte Münze zirkulieren. Daß in der Gemeinde, im Betrieb, im Theater und im Kirchenleben die "Persönlichkeiten" genauso aussterben wie im deutschen Fußball, weiß doch mittlerweile jedes Arschloch. Wenn jetzt darüber öffentlich gerechtet wird, so hat das nur einen Grund: Einer, der zur Elite zählt und es zu "Verantwortung" gebracht hat, bringt es noch mit der landläufigsten "Idee" zu einem publikumswirksamen Thema. Amt und Würde des Stifters verbürgen die Wirkung.

Die "Forderung" und ihre Begründung

Hans-Dietrich Genscher hat zwar überhaupt nichts zu fordern in dem Sinn, wie das für Leute gilt, die immerzu ein wenig zu kurz kommen und deshalb Kritik an den maßgeblichen Instanzen üben. Der Minister regiert nämlich, und dieses Handwerk erschöpft sich im Entscheiden: Was der Mann durch seine Unterschrift absegnet, macht sich für sehr viele - im schönen Deutschland und, wegen der Mittel dieser unserer Nation, auch auswärts - als Vorschrift bemerkbar. Wenn er seine Absichten als Forderung vorträgt, so tut er das mit der berechnenden Kunst demokratischer Machthaber, sich mit dem moralischen Plus eines Kämpfers auszustatten. In der Beseitigung von Mißständen mutig und vorneweg seinen Mann zu stehen - das ist dem regelmäßigen Besucher von NATO-Tagungen und Wirtschaftsgipfeln geläufig, weil sich dieses Bild des Politikers in der Konkurrenz um die Macht eben nicht ersetzen läßt. Werbung, auch die um Stimmen bei und zwischen Wahlen, ist Selbstdarstellung. Die Definition der Probleme, die "es" zu lösen gilt, erfolgt streng nach der Regel, daß der Entdecker und Formulierer einer Aufgabe auch der geeignetste Bewältiger ist. Insofern hat unser Außenminister nichts anderes gefordert als seine Zuständigkeit für die dringlich erforderliche Elitenbildung. Ein Schiffschaukelbremser, Müllmann oder Arbeitsloser wäre mit der Förderung von Eliten wohl auch hoffnungslos überfordert! Wie sollten sie das auch anstellen?

Damit ist freilich noch nicht geklärt, was er sich da für einen Auftrag zugeschanzt hat und welche enorm gewichtigen Gründe dafür sprechen, daß man ihn machen läßt. Eine kurzgefaßte Theorie der Weltwirtschaft glaubt sich in solchen heißen Fragen wie der Elitenbildung noch jeder demokratische Politiker schuldig zu sein:

"Wer wie wir kaum über Rohstoffe oder andere natürliche Ressourcen verfügt, muß am Weltmarkt konk urrenzfähig bleiben, um zu überleben und zu prosperieren."

Der Stellvertreter Kohls leitet mit seinem Schreckensgemälde der rohstoffarmen Republik den schönen Gedanken vom Menschenmaterial ein, das den zurückgebliebenen Bergbau kompensieren kann und muß. Das erwünschte Ende, die Elite, stellt sich quasi von selbst ein:

"Unsere natürliche Ressource sind die Menschen, ihre Bildung und Ausbildung, ihre Leistungsfähigkeit und ihr Leistungswille. Daher kann unsere Gesellschaft, gerade wegen ihrer außerordentlich engen Verflechtung mit der internationalen Umwelt, nicht auf eine demokratische Leistungselite verzichten."

Plausibel sind solche Erläuterungen einer Großoffensive gegen ein Tabu höchstens, wenn man ihnen den Bonus zuerkennt, der einem Angehörigen der "Verantwortungseliten" gemäß den guten Sitten der Demokratie entgegengebracht gehört. Ihrem Inhalt nach müßten sie sämtliche Nationalisten deutscher Prägung zum Verzweifeln bringen - zumindest, solange sie glauben, daß von der intellektuellen Kompetenz des Führungspersonals das Wohl und Wehe ihres geliebten Vaterlands abhängt. Dem Vizekanzler mangelt es nämlich schon an den elementarsten Voraussetzungen des Denkens, als da sind: die Gabe der Unterscheidung, das Wahrnehmen, und ein halbwegs intaktes Gedächtnis. Von der noch viel schwierigeren Kunst des Urteilens und Schließens ganz zu schweigen.

Das ist einen Exkurs wert.

Exkurs: Ein Politiker argumentiert für Eliten

Dazu vergißt er erst einmal ganz öffentlich, daß er auf den vielen Konferenzen zwar ein rohstoffarmes Land vertritt, aber kein armes. Er merkt nicht von zwölf Uhr bis zum Läuten. Zumindest offiziell nicht, wenn er eine Rede hält und die Staaten glücklich preist, die soviel Rohstoffe und Natur verkaufen, daß er sich um ihre Verschuldung bei anderen Anlässen schwer Sorgen macht. Sein Gedächtnis ist also nicht einmal so leistungsfähig, daß er die Geschäftsgrundlage seiner eigenen Nation darin behält. Dann versagt er auch noch bei der Wahrnehmung des Unterschieds zwischen einer Erzgrube und dem Geld, das Geschäftsleute in den Freiheitsoasen der NATO mit dem geförderten Zeug machen. Deshalb fällt ihm - trotz einer ihm bekannten internationalen "Verflechtung" - das doppelt absurde Urteil ein, daß die einen viel Zeug in ihrer Landschaft, die anderen aber nur Leute zur Verfügung haben. Und das alles nur, um die Botschaft loszuwerden, daß daher ein paar extra gute Leute mit hervorragenden Eigenschaften, Fähigkeiten und ganz viel Willen her müssen. Wollte er wirklich gesagt haben, daß die "Leistungselite" die Rohstoffe ausgräbt? Oder abholt? Oder sie den Negern abluchst? Ist es ihm darauf angekommen, wieder einmal die altdeutsche Mär zu verbreiten, nach der ein Ingenieur die Zinngrube ersetzt? Kann er wirklich "Konkurrenzfähigkeit", preisgünstigen Export und Import nicht von "Überleben" unterscheiden? Glaubt er wirklich, daß die von ihm entdeckte Not seiner Nation von einer Handvoll findiger "Begabter" und "Leistungswilliger", die er nach Kräften fördert, abgewendet werden kann?

Natürlich nichts von alledem. Er wollte nur sagen, daß aus den Umständen der Weltwirtschaft und den widerlichen Verteilungsmaßnahmen der Natur eines ganz gewiß vernünftig ist: sein Bedürfnis nach Auslese.

Hierarchie tut not

Mit der Geste des Forderns reiht sich der Anwalt von Elitebildung in die Reihe der Kritiker ein. Zweifelsohne ist er wie alle demokratischen Kritiker an einer Verbesserung der Verhältnisse in diesem unseren Lande interessiert. Er ist einem Mißstand auf die Spur gekommen, den sich die Nation nicht länger leisten kann und dem die Politik abhelfen muß. Vom Wettbewerb der Nationen will er soviel mitbekommen haben, daß unser Volk eine "Herausforderung auf dem Gebiet der Hochtechnologie zu bestehen hat" und dafür "die Nutzung der in unserem Volke vorhandenen Begabungen" fällig ist. Und deswegen besinnt sich der Politiker auf die einzig korrekte Lesart des Evangeliums von der Chancengleichheit. Mit dem erwünschten und im übrigen auch stets eingetretenen Resultat der Konkurrenz wendet er sich gegen das Verfahren, das vornehmlich an den Ausbildungsstätten zur Anwendung gelangt:

"Aber gleiche Chancen schaffen nicht gleiche Ergebnisse, deshalb gehört zu dieser Chancengleichheit, daß die bessere Leistung ermöglicht, daß Begabung nicht vernachlässigt, sondern nach Kräften gefördert wird."

Einerseits können d iese Liebhaber von Elitebildung getröstet werden. Sie berufen sich ja mit ihren großartigen Ideen von der Unterstützung des besten Menschenmaterials auf eine funktionierende Verteilung der werdenden Bürger in eine Hierarchie der Berufe. Sie wissen ja sehr genau, daß Grund-, Oberschule, Universität und die Erfindung des Arbeitsmarktes die strebende Menschheit einem dauernden Vergleich aussetzen, dessen Ergebnisse Mühen und Lohn des einzelnen lebenslang festschreiben. Andererseits sollte man die Dummheit, daß ausgerechnet die Abiturienten und Diplomingenieure den Reichtum der Nation besorgen, nicht durchgehen lassen. Dergleichen gilt auch nicht für leibhaftige Erfinder von Mikrochips und Alltemperatur-Waschmitteln - ob ihr Einfall zu Kapital wird, ist nach wie vor eine Frage von tatkräftig angewandter Arbeit. Wenn die Befürwortung von Auslese mit der gar nicht neuen Belehrung über die gerechten Unterschiede antritt, wird halt doch nur die gemeine Wahrheit über die Gegensätze erzählt, für welche die demokratische Gleichheit bürgt. Die kundig ermittelte Elite bringt ihr Leben nämlich nicht mit der Anmeldung garantiert deutscher Spitzenpatente zu und läßt im übrigen die minder bemittelte Masse zufrieden. Deren Leistungen ertragreich zu gestalten und auf Anstand und Bescheidenheit zu achten - das kommt doch in den Hochleistungsberufen der Begabtesten auch irgendwie vor, oder?

Der Elite-Gedanke: Demokratischer Rassismus

Von den tatsächlichen Werken der Besten, die Elite heißen, wird allerdings in der laufenden Diskussionsrunde nicht viel Aufhebens gemacht. Ab und zu ein Wort wie "Persönlichkeit" und "Führungsqualitäten", das reicht der Gilde moderner Gerechtidkeitsphilosophen völlig. bas ist kein Wunder. Es geht schließlich nicht um die Leistungen der Auslese, sondern um ihre Anerkennung. "Leistung" steht ganz einfach für die unwidersprechlichen Qualitäten dieser Minderheit - ihre Eigenschaft soll er sein, der Unterschied zur Masse. Insofern führen die vom demokratischen Schwachsinn erfundenen Dienste der Creme auch zurecht nicht zum Abbruch der Diskussion:

"Wer seinem Volke Leistungseliten verweigert, der verweigert seiner Jugend und den alten Menschen einen gesicherten Lebensabend."

Die dreht sich eben um nichts anderes als um die Bekräftigung einer Ideologie - eines Verständnisses von Konkurrenz und Hierarchie, durch das man sich ein bleibendes Einverständnis mit der demokratischen Sortierung der Nationalmannschaft in Herr und Knecht verschafft. Die Überlegung, ob es in der heutigen Gesellschaft auch jedermann rechtzeitig genau an den richtigen Platz verschlägt, ist unabhängig von der Antwort, die einem einfällt - "ja", "nicht immer", "kaum", "nie" - eine Parteinahme. Und zwar für eine Ordnung, in der es "nun einmal" oben und unten gibt oder auch geben muß, so daß sich die Frage nach der gerechten Sortierung des "Who is who?" enorm fruchtbar aufwerfen läßt. Eingefangen hat sich der demokratische Geist das süße Problem durch den Materialismus des Kapitals, der überhaupt nichts mehr von den überkommenen gottgewollten und anderen "Ordnungen" hält. Wo es um die Mobilisierung jeder greifbaren natürlichen und menschlichen "Ressource" geht, findet ein dauernder Test auf die Brauchbarkeit der Menschenkinder statt. Das Verfahren heißt Konkurrenz, der die Staatsgewalt die Spielregeln diktiert. Seitdem zermartern aufgeklärte Neuzeitler - Opfer wie Aufsichtsbefugte, aber vor allem berufsmäßige Sinndeuter - ihr Hirn mit dem Rätsel, ob das eigene Los oder das ihrer Mitmenschen verdient sei. Und heute wie in den ersten Tagen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verfallen sie auf die prinzipielle, vom Einzelfall und seiner Beurteilung unabhängige Lüge, daß die Stellung eines menschen n der bürgerlichen Stufenleiter von Lohn und Leistung, mithin auch diese Hierarchie selbst einen Grund haben müsse - in dem, was einer so n sich hat und an "Substanz" beischleppt.

Dieses matte Konstrukt des demokratischen Rassismus erfährt wegen seiner unbezweifelbaren Brauchbarkeit dann seine konjunkturellen Abwandlungen. Die Weisheit "Jeder Arsch an seinem Ort, suchst Du ihn, so ist er dort!" ist wohlmeinenden Menschen auch schon einmal geeignet erschienen, unter dem Titel "Chancengleichheit" in eine erst noch zu verwirklichende Forderung gegossen zu werden. Die Bedingungen der Chancenverwertung zu ändern, galt da als hohes Ziel. Und die daraus wie durch ein Wunder nach wie vor hervorgegangene Sortierung wurde für gerechter befunden. Wohl deshalb, weil sich anschließend ein paar Minister damit brüsten konnten, garantiert einem Arbeiterhaushalt zu entstammen, und somit fraglos die Berechtigung nachgewiesen haben, andere zu deckeln...

Die Abwandlung, die unsere Politiker der Wende nun unter die Leute bringen, ist ebenfalls nicht neu. Die auf dem Umschlag dieser Zeitschrift abgedruckte Vorlage beweist es. Keinesfalls bezeugt das Hitler-Zitat jedoch, daß in der staatsmännischen Sorge um die fristgemäßen Karrieren für Auserlesene ein Verstoß gegen die Demokratie vorliegt.

Verantwortung und Leistung

Diese beiden Gütesiegel der Elite zeichnen die Masse in der Demokratie nämlich wirklich nicht aus. Zur Verantwortung fehlt den meisten die Macht, bei den Leistungen hapert es an Zeit und Geld. Gewöhnlich ist die breite Masse damit zugange, sich das Nötigste zu verdienen, so daß ihr schon von daher die Bereitschaft fehlt, sich Verdienste zu erwerben. Sie gründen keine Republik, schreiben keine Verfassung, verpassen die Gelegenheit, Wirtschaftswunder aufzuziehen und Filialen zu eröffnen - kurz: es fehlt ihnen ganz einfach das Zeug dazu. Leistung kommt bei ihnen höchstens in dem unmenschlichen, physikalischen, an höheren Werten baren Sinn von Arbeit mal/pro Zeit vor - und das ist auch noch nicht einmal sicher. Unselbständig, wie sie sind, brauchen sie auch dafür noch Arbeitgeber und Konjunkturpolitik, die ihnen Arbeitsplätze beschaffen. Für die richtigen Gedanken in ihrer freien Zeit und bei der Kinderaufzucht müssen ihnen Denker zur Verfügung stehen, die sie Mores lehren.

Ist es da verwunderlich, wenn verantwortliche Demokraten darauf dringen, daß dieses Personal, ohne das die Masse gar nicht existieren könnte, weil sie von ihm abhängt, vorzugsweise behandelt wird? Ohne ihre Eliten sterben die Deutschen vielleicht sogar aus!

Also gebt den Richtigen ihre Karriere und die Macht, die ihnen zusteht. Ihr Erfolg rechtfertigt auch ihre Verehrung - als Elite.