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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.


DDR bewilligt Tausende von Ausreiseanträgen. Zu Tausenden sind sie jetzt hier, die von drüben. Wie sehen sie uns, nach einem Leben in der Diktatur, fragt die BILD-Zeitung und widmet den Deutschen/Ost, die jetzt Deutsche/West sein dürfen, eine ganze Serie:


"SO SEHEN UNS UNSERE BRÜDER"

Da erlaubt das Volksgefängnis DDR-Bürgern die vorzeitige Entlassung; jetzt kommen sie hier an, unsere Brüder und Schwestern aus dem Osten, endlich sind sie in der Freiheit - und dann das: "Der Empfang im Notaufnahmelager Gießen war bürokratisch kühl. Keine Blasmusik!" Da hätte der Günther Noris mit der Bundeswehr-Big-Band doch wenigstens zu einem kleinen Zapfenstreich aufspielen können.

Sicher, Brüder und Schwestern sind sie jetzt nicht mehr. Sie sind ja nun hier. Aber einfach ab ins Lager mit denen? Das sind doch keine Asylanten. Das sind doch Deutsche, die wissen doch, was die Freiheit für sie wert ist. Die haben ihr Auskommen drüben für die Freiheit hier aufgegeben und "stehen jetzt hier vor dem Nichts". Aber können sie mit der gewonnenen Freiheit auch etwas anfangen? Wo sie doch jahrzehntelang zu Knechten gemacht worden sind. "Alle Ausreisewilligen sind bereit, länger und härter zu arbeiten als jeder satte Bundesbürger". Gehorchen und arbeiten, das haben sie drüben in der Roten Diktatur gelernt. Davon kann sich der satte Bundesbürger eine Scheibe abschneiden - statt nur soviel zu arbeiten, wie er muß.

Aber aufgepaßt, Helden der Arbeit! Richtig liegt Hilde B. aus Potsdam: "Ich suche einen Job für 60 Stunden." Falsch dagegen Martina K. aus Karl-Marx-Stadt: "Wenn wir erstmal verdienen, können wir uns das alles kaufen. In der DDR waren West-Waren so teuer oder nur gegen Devisen zu haben, daß wir davon nur träumen konnten - egal, wieviel wir auch verdienten. Es war nie genug." Von West-Waren träumen, klar, aber doch nur drüben. Hier liegen doch alle West-Waren im Schaufenster. Aber verdienen und alles kaufen wollen? Wir sind doch kein Arbeiter- und Bauernstaat, der einfach nur mehr zu bieten hat als der drüben."Da kann man nur wünschen, daß die Familie K. schnell heimisch bei uns wird." Sonst geht es einem wie Frau Ravenna Hermann aus Brandenburg, wenn man bei der West-Mark immer gleich ans Kaufen denkt. Frau Hermann unterlief folgender Schnitzer: Sie ließ sich von einer 700 DM Nachschlag-Forderung der Stadtwerke überraschen. "Bei 634 DM im Monat zum Leben, für vier Personen", hat sie nicht mitgekriegt, daß es bei uns Daueraufträge und Einzugsermächtigungen gibt. Und sparen muß man auch - 5 Mark ins Sparschwein und den Schlüssel möglichst weit weg. Am besten auf die Sparkasse nach Flensburg. Sonst wird man wie Frau Ravenna von den Stadtwerken kalt erwischt. "Die Hermanns, an kleine Rechnungen gewöhnt, müssen da noch einiges dazulernen."

Es sei denn, es geht einem wie Frau J. aus Chemnitz: "Und dann ist mir das große Glück in Kiel begegnet." Das große Glück ist "ein wohlhabender Witwer. Er hat ein großes Restaurant."

Lernen muß auch noch Marianne K. aus Chemnitz: "Anmeldeamt, Arbeitsamt, Sozialamt, Wohnungsamt, Kindergeldstelle, Schulamt und immer und überall lange Wartezeiten und ellenlange Formulare." Schlange stehen, das tut man doch nur drüben, wo man nichts kriegt. "Das Ehepaar mußte, wie alle Menschen aus der DDR, lernen, daß man in der Bundesrepublik am besten ohne Ämter auskommt." Kein Wunder, wenn alle wie Marianne K. auch noch zur Kindergeldstelle, zum Sozialamt und zum Wohnungsamt gehen, daß es da Schlangen gibt. Zur Meldestelle, zum Schulamt und zum Arbeitsamt hätte doch genügt. Natürlich, dann gäb's kein Kindergeld, keine Sozialhilfe und kein Wohngeld. Aber auch nicht diese Schlangen wie im Osten.

Wie man Ostträume im Westen wahr macht, da ist der Alfred H. aus Weimar ein Vorbild. Während drüben "jede Reise an einer Mauer mit Stacheldraht endet", kommt dieser ostzonale Senkrechtstarter (in der DDR Biologie-Lehrer, hier aufgestiegen zum Brummi-Fahrer) jetzt überall frei herum. "Er arbeitet 16 Stunden täglich als Fernfahrer." Und als Fernfahrer, da kennt die Freiheit keine Grenzen. Da werden Träume wahr. Alfred schickt Ansichtskarten - an die Brüder und Schwestern drüben. Aus Palermo, vom Lago Maggiore, vom Großglockner und vom Eiffel-Turm. Am liebsten aber vom Brennero. Klar, bei 16 Stunden Arbeit und 6 Stunden Schlaf, da ist die Zeit knapp. Da hat er sich einen Stoß Postkarten vom Brennero auf Vorrat gekauft. Die schmeißt er jetzt jedesmal ein, wenn er ganz frei einen Schlagbaum passiert. Weil, darauf kommt es ja an, hier und von hier für die drüben.