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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1984 erschienen.

Diktatur statt Freiheit
EIN STÜCK SYSTEMVERGLEICH AUS AKTUELLEM ANLASS

Was treibt Tschernenko nach Feierabend? Mit wem geht Gromykos Frau, wenn er auf Auslandsreisen ist? Kocht Marschall Ustinow gelegentlich, und was ißt er gern? Treibt Tichonow Sport? Wie deckt Frau Tschernenko ihren Enkeln den Geburtstagstisch, und wo läßt sie ihre Kleider nähen?

Lauter wichtige Fragen, hochwichtig für die politische Volkskultur einer westlichen Demokratie, deren Beantwortung die östliche Staatsöffentlichkeit dem Publikum schlichtweg vorenthält. Das "Wer-Wo-Mit Wem" zu erkunden, den Blick durch alle erdenklichen Schlüssellöcher auf die Großen dieser Welt zu werfen, das müssen die freiheitlichen Reporter des Westens im und für den Ostblock auch noch miterledigen - Presse, Funk und Fernsehen Marke Ost bedienen dieses Interesse nicht. In der offiziellen Biographie Konstantin Tschernenkos, mit der die Nachrichtenagentur Nowosti die Öffentlichkeit abspeist, finden - man denke! - nicht einmal Eheschließung oder Kinderzahl des neuen Parteiführers Erwähnung: nichts als die dürren Daten einer Funktionärskarriere; schlechterdings nichts zum Ausmalen!

Welche Koalition hat Tschernenko an die Macht gebracht? Wie weit reicht noch der Einfluß des Breshnew-Clans? Hätte Andropow sich einen anderen Nachfolger gewünscht? Welche Intrigen spinnt Gorbatschow gegen Alijew? Wieviele Parteifürsten hat Gromyko hinter sich?

Selbst diese noch wichtigeren, hochpolitischen Fragen bleiben drüben unbeantwortet. Kein sowjetischer "Spiegel" spürt den Trends und Konjunkturen der politischen Konkurrenz nach, deckt Kabinettsdiskussionen, abgekartete Skandale und Wahlabsprachen für oder gegen Parteiamtskandidaten auf - das müssen der westdeutsche "Spiegel" und gesinnungsverwandte Journale stellvertretend für ihre östlichen Kollegen auch noch miterledigen. Kein Nachrichtenmagaz in und keine Fernsehreportage baut die Entscheidung zwischen verschiedenen Politbürokandidaten zu einem "Politkrimi" aus; der Unterhaltungs- und Bildungswert von Fragen wie der nach dem Abschneiden des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Hart in Wyoming bleibt dem Sowjetpublikum völlig fremd.

Kommt Sacharow mit seiner Dissidentenmannschaft über die 5%-Hürde? Wieviele Parlamentssitze kriegt die orthodoxe Bauernpartei, wieviele die schiitisch-demokratische Union? Gewinnt Ustinow seinen Wahlkreis wieder, fällt Tschernenko in der Direktwahl zum obersten Sowjet womöglich durch?

Diese interessantesten und freiheitlichsten aller politischen Fragen werden dem Sowjetmenschen gar nicht erst gestellt. Kein Staatsinteresse besteht an dem Problem, wie verschiedene Figuren aus der regierenden Elite beim regierten Volk ankommen, geschweige denn an einem diesbezüglichen Test, dessen Ausgang dann auch noch den Personalwechsel in den höchsten Ämtern belebt. Kein Wahlkämpfer sorgt mit dem laut verkündeteten Anspruch, seinen Konkurrenten, die Flasche, aus dem Feld zu schlagen, für wahlwirksame Parteiungen im Volk und für Spannung bis zur ersten oder letzten Hochrechnung. Kein Wähler kann sich schmeicheln, mit seiner Geheimstimme zu dieser Spannung sein -zig Millionstel beigetragen zu haben. Sogar die "Wahlentscheidung" im Osten gegen die herrschende Partei, versteht sich - muß, stellvertretend und leider bloß ideell, in den freiheitlichen Demokratien miterledigt werden.

Dabei verfügen die Staaten des "Ostblocks" durchaus auch über demokratische Einrichtungen wie Wahlen, über eine politische Kultur und über eine politische Prominenz. Und ob diese Errungenschaften bei einem Vergleich mit der Öffentlichkeit und dem Parteienwesen des freien Westens so unvergleichlich schlecht abschneiden, wie die gängigen Verurteilungen der "menschenverachtenden Unrechtsregime" im Osten mit ihren "Scheinwahlen", ihrer "unfähigen Funktionärsherrschaft" und ihrem "Personenkult" das wissen wollen, das ist durchaus eine Überprüfung wert.

Wählerischer Personenkult - Unpersönlicher Respekt

Immerhin bleibt dem Sowjetbürger, wenn er - wie neulich erst - zur Wahl seiner "Sowjets" gerufen wird, der zynische Schwindel erspart, hier gäbe sich die Staatsgewalt gewissermaßen in seine Hand. Das in bürgerlich-demokratischen Zonen gepflegte Menschen recht auf eine höchstpersönliche, in der Tausender- oder Millionensumme mitentscheidende Auswahl zwischen ein paar Konkurrenten um ein überhaupt nicht zur Wahl gestelltes Amt lebt schließlich nicht von irgendeiner Wahrheit des Inhalts, der Wähler hätte da viel zu melden, oder gar auf seine Interessen käme es fortan ganz wesentlich an. Die Hochschätzung dieses demokratischen Grundrechts zehrt vielmehr von der Lüge, "irgendwie" hätte der Wähler die Zweckbestimmung des fraglichen Amtes im Griff, indem ihm mit dem Wahlkreuz ein Urteil über die vergleichsweise Amtswürdigkeit der Personen zugestanden wird, die ihm als Alternative präsentiert werden. Eine Lüge, die noch dazu gleich wieder dementiert wird: Gewinnt der "falsche" Kandidat, so ist dem Grundrecht auf demokratische Wahlfreiheit ja auch damit Genüge getan, daß der "richtige", nämlich eigene Kandidat es immerhin hätte werden können... Wahlkampagnen in der Sowjetunion nehmen sich dagegen fast wie Feiertage der nationalen Ehrlichkeit aus. Sie sind eine einzige Polemik gegen die Illusion, von der Besetzung eines Postens mit der einen oder anderen Figur, dem Funktionär der einen oder anderen politischen Partei, geschweige denn vom persönlichen Beitrag zu der durch tausenderlei Zufälle und Willkürlichkeiten bestimmten Entscheidung der veranstalteten Konkurrenz hinge wunders was ab. Der Akt der Delegation, die durch - logischerweise im Normalfall öffentliche - Stimmabgabe beschlossene Entsendung eines Kandidaten in irgendeinen Rat, soll der Endpunkt eines immer neu aufgelegten Diskussionsprozesses zwischen Partei und Wählervolk sein, in dem beide Seiten sich über die anstehenden "gesellschaftlichen Aufgaben", ökonomischen Notwendigkeiten und Vorhaben, politischen Regelungen usw. einig werden. Als wollte sie immer wieder den Beweis antreten, daß sie auf blindes Vertrauen ebensowenig Wert legt, wie sie Gleichgültigkeit durchgehen läßt, zerrt die Partei den Wähler zu den entsprechenden Wahlversammlungen - und registriert voller Stolz die Zahl der erschienenen "Massen", die Summe der Wortmeldungen, die Flut der Briefe und Eingaben. Was im Reich der Freiheit als Leserbriefecke oder Stammtisch sein folgenloses Dasein führt und von der Verblödung des auf Wahlalternativen festgelegten Staatsbürgerverstandes zeugt: die Kultur der Beschwerdeführung, das wird im Herrschaftsbereich des KGB und der leninistischen Einheitspartei aufs Heftigste gepflegt, dem Wähler geradezu zur Pflicht gemacht - es soll sich eben niemand auf die Illusion verlassen, mit einem Wahlakt als solchem, also weil der eigene Vorzugskandidat Abgeordneter geworden ist oder es auch bloß hätte werden können, wären die eigenen Anliegen bestens besorgt.

Eine Konkurrenz der Staatsprogramme findet so natürlich auch nicht statt. Aber was heißt - das schon? An der Gleichgültigkeit des demokratischen Wahlkreuzes gegen jeglichen Grund, aus dem es gerade dort gemalt wird oder nicht, blamiert sich doch sowieso jedes Räsonnement, jeder Vorbehalt, jede wohlüberlegte Abwägung, mit der gelehrte wie ungebildete, schlaue wie naive, engagierte wie zweifelnde Wähler ihre Zeichnung befrachten mögen. Und diesem Grundgesetz demokratischer Wahlfreiheit haben die konkurrierenden Parteien der freien Welt längst Rechnung getragen. Keine langweilt ihre Wähler mit der Erläuterung eines alternativen Gesetzgebungsprogramms oder "überfordert" sie gar mit dem Anspruch, sie sollten dazu begründet Stellung nehmen. "Profil" verschaffen sich die Parteien durch die dümmsten weltanschaulichen Deutungen ein und desselben politischen Geschehens - "Freiheit oder Sozialismus", "Solidarität oder Ellbogengesellschaft"... Mit solchem Quark verschont die Sowjetmacht ihre Untertanen. In ihren Wahlversammlungen würde man sich - gerechterweise blamieren mit der Botschaft, man wolle die Welt lieber "aus christlicher Verantwortung" ansehen, oder mit der Nachfrage, wo denn das "kritische liberale Erbe" geblieben sei. Dort wird nämlich um die Erfüllung des als Wirtschaftsplan vorl iegenden und bekannten Staatsprogramms der immerwährenden Besserstellung des Sowjetmenschen gerechtet: um Planvorgaben und Versorgungslücken, Übersoll und Schlendrian - lauter Fragen, die ein demokratisch menschenberechtigter mündiger Bürger lächerlich geringfügig findet. Er ist es ja gewohnt, die "Frage" seines "Lebensstandards" ganz freiheitlich mit der Gehaltsabteilung seiner Firma, den Daueraufträgen seiner Bank und den Preisforderungen seines Supermarkts auszumachen.

Im Streit um solche höchst materiellen Einzelfragen kann selbstverständlich kein Politiker die "Statur" gewinnen und die "Ausstrahlung" unter Beweis stellen, die eine demokratische "Wahllokomotive" auszeichnet. Solche "Qualitäten" beruhen nämlich auf dem Aberglauben des Publikums, Macht wäre eine Kunst, das Regieren der Ausdruck einer höchstpersönlichen Könnerschaft, individuelle Eigenschaften also die Grundlage für die Fähigkeit und eine darauf basierende Berechtigung, über andere Leute zu verfügen. Und dieser Glaube kann sich überhaupt nie bestätigt sehen, wenn die Leistungen der Herrschaft sich an der zuverlässigen Bereitstellung aller notwendigen und vielerlei guter Dinge beweisen müßten. Er beruht auf der Bereitschaft, sich durch das vertraute Verhältnis eines Menschen zu der politischen Macht, die er hat, täuschen zu lassen, sowohl über die Macht wie über ihren In- und Liebhaber. Ein mündiger Bürger beurteilt seine Obrigkeit nicht, sondern er bewundert sie - und sei es in der "kritischen" Form, daß er an die regierenden Figuren den absurden Maßstab anlegt, ihre politische Amtsgewalt hätte sich doch eigentlich aus ihrer "Persönlichkeit" zu rechtfertigen. Die mangelhafte Einlösung dieses Anspruchs mag man ruhig beklagen: Das zeugt ja nur von der Hochschätzung des Amtes; und überdies kommt solche Kritik zielsicher dem Konkurrenten zugute, dessen Arroganz den besonderen Geschmack zufällig besser trifft. Ein dermaßen prinzipieller Personenkult kann eine klare Vorstellung vom Inhalt des politischen Geschäfts nicht brauchen, geschweige denn die Überprüfung, was man als betroffener Bürger vom Wirken seiner Staatsmänner hat. Benötigt wird die Lüge von der "bedeutenden Persönlichkeit", bezeugt durch die Selbstsicherheit des Kandidaten selbst ("In mir sehen Sie den nächsten Oberbürgermeister von München!" "...Präsidenten der Vereinigten Staaten!") sowie durch Familie und ausländische Gäste, bebildert durch Weltreisen und Leutseligkeiten - und vor allem: möglichst stündlich wiederholt in Nachrichten, Fernsehauftritten usw.

Daß dem Sowjetmenschen das erspart bleibt, weiß der wahrscheinlich nicht einmal zu schätzen, weil er sich vermutlich die Ekelhaftigkeit eines freiheitlichen Politikerinterviews oder eines demokratischen Wahlkampfs gar nicht vorstellen kann. Er hat es ja mit eher biederen Funktionären zu tun, an denen demokratische Journalisten regelmäßig die "große Persönlichkeit", den "Charme" der Weltgewandtheit - im Klartext: die zur Gewohnheit gewordene demonstrative Arroganz der Macht vermissen. Woher sollten sie die auch haben? Der Karriereweg eines sowjetischen Führungsmenschen führt über Erfolge bei der Überbietung eines Plansolls, bei der Beseitigung von Versorgungsmißständen und Mißbräuchen von Staatseigentum - und nicht über Erfolge bei der Beschaffung demokratischer Mehrheiten. Wenn es dann einer zu einem sehr hohen leitenden Posten gebracht hat, so gewinnt sein Privatleben dadurch noch lange kein öffentliches Interesse. Keine Kinderschar, keine himmelnde Ehefrau, noch nicht einmal ein demokratisches "Bad in der Menge", der begeisterten, wird zum Beweis für die Lüge herangezogen, die Staatsmacht hätte in der führenden Figur einen denkbar sympathischen Sachwalter gefunden, dem ohne weitere Argumente vertraut gehört. Immer dieselben trockenen, unpersönlichen Leistungen und Fähigkeiten wurden den Parteigrößen drüben bescheinigt: "Treue zu den leninistischen Prinzipien der Partei", "unermüdlicher Kämpfer für Frieden und Kommunismus" "flammender Patriot"; hat die und die Aufgaben erfüllt, diese und jene Auszeichnungen erhalten; und kein "Vor allem aber: ein guter Mensch/Vater...", keine Anekdote oder ähnliches befriedigt ein demokratisches Untertanenbedürfnis nach "menschlicher Nähe" zu den Mächtigen. Die Leichenrede auf Jurij Andropow und die Vorstellung des Nachfolgers Konstantin Tschernenko kommen mit denselben Etikettierungen zurecht - warum auch nicht? Auf anderes kommt es für das Amt, das sie bekleiden, ja auch gar nicht an. Und noch in ihren Laudationen verfährt die Partei so, als wollte sie ihre Größen gegen das Urteil in Schutz nehmen, sie wären bis in ihre Intimsphäre hinein Charaktermasken einer gesellschaftlichen Notwendigkeit.

Entsp rechend wenig unterhaltsam gestaltet sich auch das Ende einer Politikerkarriere im "Ostblock". Als Fehler werden spürbare Mißgriffe bei der "stürmischen Entwicklung des Sozialismus" zu "immer höheren Leistungen" registriert, vom Versagen bei der Organisatior des Ernteeinsatzes bis hin zu Fehlplanungen beim "planmäßigen Aufbau eines Industriekombinats" und zwar durch die Partei und die Organe der"Volkskontrolle". Kommt da zuviel zusammen, eine katastrophale Mißernte z.B., die sich nicht aufs Wetter schieben läßt, so kann das durchaus einen Führungsmann, sogar einen ZK-Sekretär den Posten kosten; und Minister nehmen nicht ihren Hut, sondern verlieren womöglich buchstäblich ihren Kopf, wenn sie der Korruption in großem Stil überführt werden. So kann sich nun zwar kein Wähler schmeicheln, mit seinem Stimmzettel eine mißliebige Obrigkeit aus dem Amt gejagt zu haben; dieses Menschenrecht geht dem Sowjetbürger ab. Aber ob es ihm fehlt? Wird das Leben denn wirklich erst menschenwürdig durch eine Parteienkonkurrenz, die "Fehler" überhaupt nur auf dem Gebiet der Angeberei mit Moral, Bürgernähe und "Führungsstärke" kennt und daraus die Entscheidungsfrage für den Wahlbürger herstellt? Ist das die schlimmste Unterdrückung, wenn kein Geschmacksurteil über die Leistungen der Politiker in Sachen Heuchelei - bzw. ihrer Tugend: der Glaubwürdigkeit - abgefragt und zum Mittel von Koalitionsintrigen - gemacht wird?

"Politische Verantwortung": Bedienung von Sachzwängen - Dienst am Volk

Auch im "Ostblock" gehört "die politische Verantwortung" zu den Dingen, deren "Bürde" erheblich leichter und angenehmer ein Berufsleben lang zu tragen ist als die Würde eines Bürgers, der neben dem Wählen ja schließlich noch einiges an Arbeit zu verrichten hat. An Personalmangel ist deswegen das Regieren auch dort noch nie gescheitert. Einen etwas anderen Inhalt hat die "politische Verantwortung" in den Ländern des "realen Sozialismus" aber schon - nicht wegen der ganz andersgearteten Herrschaftsmoral sowjetischer "Parteibonzen": Die Moral ist nur so andersartig wie der Job einer politischen Führungskraft.

Im Osten wie im Westen erklären sich beispielsweise Oberbürgermeister, Länderchefs und Wohnungsbauminister verantwortlich für die Errichtung von soundsoviel Wohnraum in den vergangenen und kommenden Jahren. Damit hört die Übereinstimmung aber auch gleich schon wieder auf.

- Im einen Fall ging und geht es darum, die entsprechenden Ansprüche an den staatlichen Gesamtplan, an die Teilpläne der Bau-, Baustoff-, Transport- usw. -Betriebe durchzusetzen, für die nötige Abstimmung zu sorgen, Betriebe und Arbeiter zur Einhaltung der zugesagten Fristen zu "stimulieren"... und dabei nicht nur organisatorische Umsicht zu beweisen, sondern mit einem nicht eingestandenen Widerspruch fertigzuwerden. Der liegt darin, daß der staatliche Plan die eingespannten Betriebe einerseits zum zweckmäßigen Dienst an der Befriedigung des festgestellten Wohnungsbedarfs verpflichtet - andererseits aber zur Erwirtschaftung von Gewinn: Nicht einfach die nötigen Leistungen werden in den Plan eingesetzt, sondern dafür angeordnete Preise; nicht einfach der sachliche Bedarf wird angemeldet, sondern eine durch zugewiesene Finanzmittel zustandegebrachte und beschränkte "Kaufkraft"; und nicht einfach ums Produkt soll es gehen, sondern um eine möglichst ansehnliche Differenz zwischen den Einnahmen und den finanziellen Aufwendungen der Betriebe - die wiederum den Planungsbehörden als Dispositionsmasse zur Verfügung steht. Das Interesse, den Bedarf mit dem nötigen Aufwand zu befriedigen, verwandelt sich so in lauter Gegensätze: zwischen Bedarf und Finanzmitteln; zwischen zahlendem Auftraggeber und abrechnenden Betrieben; zwischen der Pflicht zu optimalen Leistungen und der Pflicht zum Herauswirtschaften von verschiedensten Finanz-"Fonds"; zwischen dem Betriebsinteresse an möglichst großen derartigen "Fonds" für die "Stimulierung" der Leistungen von Betriebsleitung und Belegschaft einerseits, dem Staatsinteresse an möglichst großen derartigen "Fonds" für den Finanzbedarf der Planungsbehörden andererseits; usw. Wer den Konstruktionen bürgerlicher Volkswirtschaftslehrer glaubt und das Geld für eine sinnreiche und praktische Erfindung der Menschheit hält, um die Güterproduktion bestmöglich mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis zu vermitteln und umgekehrt, der könnte sich durch die Wirtschaftspolitik der "Ostblock"-Staaten eines besseren belehren lassen: Die praktizieren nämlich keine kommunistische Planwirtschaft, sondern setzen in ihren Wirtschaftsplänen genau diese Lüge in die Tat um, mit dem "ökonomischen Hebel Geld" ginge ausgerechnet Planung und Verteilung besser.

- Mit den angedeuteten Gegensätzen haben Wohnungsbaupolitiker des Westens deswegen nicht zu kämpfen, weil sie im Ernst gar nicht erst vom Bedürfnis nach Wohnraum ausgehen, sondern von der Marktlage. Nichts ist ihnen selbstverständ1icher als die Bemessung des Bedürfnisses an seiner Zahlungsfähigkeit und das Geschäftsinteresse von Wohnungsbauunternehmen - also Respekt vor der wirklichen Funktion und Zweckbestimmung des Geldes, dem geschäftlich eingesetzten Eigentum zur, Vermehrung zu verhelfen und diesem Zweck die Bedürfnisse des Publikums unterzuordnen. Für diese "Sachgesetze des Wohnungsmarktes" erklären sich die Sachwalter der Staatsgewalt für unzuständig, der geschäftstüchtigen Ausnützung der Wohnungsnot gegenüber geradezu für ohnmächtig - eine Lüge, die ihnen größten Nutzen bringt. Eine Lüge - denn wer setzt das Rechtsverhältnis des Eigentums, auch an Grund und Boden, und der Eigentumslosigkeit sowie die ökonomischen Hilfsmittel zur Ausnutzung dieses Verhältnisses überhaupt in die Welt, überwacht ihr Funktionieren, bestraft Zuwiderhandlungen? Die Staatsgewalt läßt die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie arrangiert, läßt Grundbesitz und Mietzins, Geldkapital und Bauwirtschaft, Raumbedarf und Geldmangel ihr Werk tun und bezieht sich auf das Ergebnis - Mangel an erschwinglichem Wohnraum, der deswegen auch keineswegs alle trifft - als Problem der Betroffenen, das das menschliche Dasein nun einmal so mit sich bringt. Bei seiner "Bewältigung" springen die zuständigen Politiker mit einer eigentümlichen "Hilfe" ein: Soweit die Brauchbarkeit des arbeitenden Volkes davon abhängt, "organisieren" sie die Wohnungsbeschaffung - durch Vermittlungsämter; durch eine Subventionierung des Wohnungsgeschäfts aus den Steuergeldern aller, die den Mietzins für viele halbwegs tragbar macht; durch die Übernahme unrentabler Objekte in eigene Regie. Verantwortung tragen und übernehmen sie nicht für das Scheitern des Wohnbedürfnisses am Markt und seiner "Lage", um so mehr für deren "Verbesserung". Kritisieren lassen sie sich allenfalls mit dem höchst unkritischen Vorwurf, dafür hätten sie "u wenig" getan oder auch u viele "Steuergelder verschleudert". Ob ihnen verziehen wird, entscheidet sich schon gar nicht am fortbestehenden Wohnungselend, sondern an der persönlichen Glaubwürdigkeit ihrer Lüge, weder zu viel noch zu wenig, sondern genau das Mögliche für ihr Ressort verwirtschaftet zu haben. Und solange die Betroffenen die "Sachzwänge" des Wohnungsmarktes glauben und hinnehmen, tut ein demokratischer Politiker sich leicht mit seiner freudig übernommenen "Verantwortung für den Wohnungsbau".

Gar kein Vergleich jedenfalls mit sei nem sowjetischen Kollegen. Dessen "sozialistische Planungs- und Leitungstätigkeit" setzt sich nicht nur aus weitaus härteren Drangsalen zusammen als der Entscheidung zwischen konkurrierenden Bauanträgen und Subventionsgesuchen; mit den Ergebnissen seiner Politik kann er sich auch nicht hinter den "Sachgesetzen des Marktes" verstecken, die außerhalb seiner Zuständigkeit lägen - allenfalls hinter dem "Versagen" aller möglichen anderen Stellen, die ihrerseits wiederum ihm die Verantwortung zuschieben. Die "Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum" ist bei ihm keine bloße Phrase; das sieht man schon am Preis. Ausgerechnet das ist sein "Pech", verglichen mit der Bequemlichkeit demokratischen Regierens in der und für die "Marktwirtschaft".

Mit der "Verantwortung" für "Wirtschaftswachstum" und "Vollbeschäftigung", Bauerneinkommen und Schulbildung verhält es sich nicht anders. Westliche wie östliche Politiker wollen den "Lebensstandard" ihrer Bürger mitsamt allen wirklichen oder fiktiven Voraussetzungen ihrer umsichtigen und erfolgreichen Leitungstätigkeit gedankt wissen - und dabei meinen sie ganz Verschiedenes. Die einen verlassen sich auf den "stummen Zwang der Verhältnisse", die sie mit ihren durchaus beredten Gesetzen gültig machen; sie setzen voraus, daß die Konkurrenz der so oder so aufs Eigentum verpflichteten Bürger eine zweckdienliche Unterscheidung von "Arm und Reich" und ein ebenso zweckdienliches Zusammenwirken von Kapital und Arbeit garantiert; sie gehen davon aus, daß ihre Leute sich als Opportunisten sämtlicher Notwendigkeiten aufführen, die sie ihnen auferlegen - die "Sachzwänge" des Geldes lassen sich überall glaubhaft herbeizitieren. In der Gewißheit, für diese fertig eingerichtete Welt, die sie beständig betreuen, nicht haftbar gemacht zu werden, beanspruchen sie die Alleinzuständigkeit für die Regelung sämtlicher Probleme, der wirklichen wie der zu Selbstdarstellungszwecken erfundenen - was mit einer Behebung der geschaffenen massenhaften (Über-) Lebensschwierigkeiten nichts zu tun hat.

Letzteres ist umgekehrt der Anspruch sowjetischer Politiker. Wenn Demokraten gelegentlich die "Sachzwänge", auf deren Unerbittlichkeit sie sich einerseits berufen, andererseits als System von Lebenserleichterungen darstellen, das ihr Volk sich aus dem großen weltgeschichtlichen Modellangebot ausgesucht hätte, so gehört das in die Welt der rechtfertigenden Phrasen. Die regierenden Parteien des Ostblocks dagegen haben tatsächlich alle "marktwirtschaftlichen Sachzwänge" außer Kraft gesetzt, die Konkurrenz der Kapitale mitsamt der zuständigen Eigentümerklasse abgeschafft und durchgängige Staatsregie eingeführt, um die arbeitende Menschheit in den ungeschmälerten Genuß der Früchte ihrer Arbeit kommen zu lassen. Dieses "um zu" haben sie vom heuchlerischen Gerechtigkeitsideal der Klassengesellschaft zum politischen Grundgesetz gemacht - daß der "Genuß" der Massen sehr zu wünschen übrig läßt, liegt nicht an dem "Gegensatz von Ideal und Realität", mit dem der bürgerliche Verstand sich Armut und Ausbeutung mitten in der schönsten Demokratie (weg-)erklärt. Erst recht liegt es nicht an dem Entschluß, die Wirtschaft zu planen. Daß sie diesen Entschluß nicht wahrmacht, ist der Grund dafür, daß die Partei ihre Gesellschaft so wenig glücklich macht. Auch wenn sie die "Kommandohöhen der Wirtschaft erobert": Geld und Kredit, Preise und Gewinne, Lohn und Prämien sind trotz aller blockübergreifenden Ideologien - ein für allemal weder geeignete Mittel noch "Hebel", um die Bedürfnisse der Menschheit, ihre Arbeitsmittel und ihren Arbeitsaufwand zu ihren Gunsten aufeinander zu beziehen. Die Verantwortung östlicher Politiker für die gesellschaftliche Produktion und die Befriedigung aller Bedürfnisse ist keine demokratische Heuchelei, mit der die wirkliche Verantwortung der Staatsgewalt fürs marktwirtschaftliche Geschehen zugleich abgeleugnet ist. Der Haken des "realen Sozial ismus" liegt in dem Fehler, den die östlichen Staatslenker dabei machen - und den sie erst recht ganz verkehrt "einsehen".

Selbstkritik findet in jeder Rede eines "Ostblock"-Politikers vor Volk und Wählern statt. Und zwar eine sehr viel andere, als sie demokratischen Größen geläufig ist: Deren Selbstanklagen beziehen sich am ehesten auf eine verlorene Wahl und münden regelmäßig in den Vorwurf, die Intelligenz des Wählers überschätzt zu haben; und wo sie auf andere"Verfehlungen" gehen, ist jedem klar - und wird zur Vorsicht noch dazugesagt -, daß die zur Schau gestellte Reue nun aber auch honoriert sein will: durch eine gute Meinung und viele Wahlstimmen bei nächster Gelegenheit. Die Selbstvorwürfe sowjetischer Politiker, bei der Organisation des Ernteeinsatzes oder bei der Rohstoffzuteilung an die Betriebe, bei der Umsetzung technischer Fortschritte oder bei der Ausnutzung der Neuerervorschläge verdienstvoller Arbeiter geschlampt, Korruption und Nachlässigkeiten geduldet zu haben - wer bei Bestechung ertappt wird, bekommt gar keine Gelegenheit mehr, sich mit Selbstbezichtigungen anzubiedern! -, sind keine derartige gut demokratische Heuchelei: Sie zeugen von der ehrlichen Fehleinschätzung, mit der Verstaatlichung des kapitalistischen Konkurrenzwesens schon eine vernünftige Planwirtschaft zuwege gebracht zu haben, in der allenfalls noch "Managementfehler" - die drüben etwas umständlich, aber durchaus aufrichtig "Verstöße gegen die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus" heißen - zu Schwierigkeiten führen könnten. So belebt "sozialistische Selbstkritik" die Zirkulation der Amtsinhaber wie der Reformprogramme, ohne daß davon das geschätzte Arbeitervolk so sonderlich viel hätte.

"Politische Moral": Auf Abruf - Als Aufruf

Doch, eins hat es schon davon - allerdings nichts Gutes. Die verheißungsvolle Rechnung, in der Planwirtschaft würde planmäßig und effektiv für die Bedürfnisse eines jeden gesorgt, und Arbeitseinsatz machte sich unweigerlich in größerer Fülle an nützlichen Gütern für jeden bemerkbar, wird in einem Sozialismus, der Wettbewerb und Geldwirtschaft als "Steuerungsinstrumente" nicht missen möchte, zum ewig uneingelösten Versprechen. Jetzt geht es doch wieder um Gewinne und staatliche Finanzmittel statt um bessere und leichtere Versorgung, um Kaufkraft und Lohn statt um Bedarf und notwendigen Arbeitsaufwand. Der Grundsatz, daß Arbeitseinsatz sich spürbar lohnt, wird eben nicht planvoll wahrgemacht, gilt aber trotzdem weiter: als Glaubensartikel. Materialismus wird zum moralischen Titel, unter dem der Mensch sich in Anspruch nehmen lassen sol 1. Diesem Widerspruch helfen auch noch so gestanzte Beschwörungen der proletarischen Schöpferkraft nicht ab; selbst die Wahrheit, daß "die sowjetischen Menschen" sich alles, was sie haben, "selbst geschaffen" haben, gerät in ihrer absichtsvollen Feier durch die sozialistische Obrigkeit zur moralischen Anmache für - oder besser: gegen Leute, die lieber einmal umgekehrt alles das genießen möchten, was sie zu schaffen haben.

Selbst hier erreichen "Ostblock"-Führer allerdings nicht das Niveau bürgerlich-demokratischer Heuchelei: Nährboden der hierzulande gewohnten Moral, die in ihren heiligen Grundsätzen von ihrem östlichen Gegenstück gar nicht groß zu unterscheiden ist, ist ja in jeder Hinsicht die Tatsache und die Sicherheit, daß es auf sie praktisch gar nicht besonders ankommt. In den Heimatländern des Menschen rechts auf "berufliche Freizügigkeit" und Schutz des Eigentums, auf freies Einkaufen und freie Konkurrenz und dergleichen sorgt "der Arbeitsmarkt" wie von selbst für alle nötigen Opfer im Dienst am Reichtum und seinem Wachstum - ganz ohne ein massenhaftes Ethos des Dienens und Opferns vorauszusetzen. Das stellt sich dann schon ein, vorzugsweise als Gerechtigkeitsfanatismus gegen jeden, den der Verdacht auf unberechtigte Vorzugsbehandlung gerade trifft. Denn daß, wer redlich dient, der Dumme ist, gehört zum Grundwissen bürgerlicher Moral, tut deren Anerkennung als Beurteilungsmaßstab aber keinen Abbruch. Sie ist eben ein Trost: ein schöner Schein, dem es zukommt, nicht tatsächlich, sondern "eigentlich" gültig zu sein. Und deswegen ist sie, von oben benutzt, ein Zynismus: die Idealisierung der obrigkeitlichen Gewalt zu einem Herzensanliegen aller Betroffenen, vorgenommen wider besseres Wissen, aber in der - aus der Gewohnheit der Macht stammenden - Gewißheit, daß einer praktischen Widerlegung allemal mit demokratischer Gewalt zu begegnen ist.

Mit den Zwangsgesetzen kapitalistischer Konkurrenz hat die Sowjetmacht auch diese Psychologie des moralischen Bürgers außer Kraft gesetzt. Kein Recht des Eigentums, keine Entlassungsdrohung, keine Aussicht auf Elend nötigt dem "neuen Menschen" dort eine Arbeitsdisziplin und die Gewohnheiten des Verzichts auf, derer er sich dann als Tugend schmeicheln darf - einer Tugend, die ihm lauter ideelle Rechtsansprüche in die Hand gibt. Drüben ist Moral gefragt, damit die befreiten Werktätigen dennoch Selbstlosigkeit üben und Leistungen erbringen, die kein richtiges planwirtschaftliches Arrangement lohnend macht. Ausgerechnet die Staatsgewalt, die sich auf "proletarischen Materialismus" beruft, hat sich daher auf das Unterfangen eingelassen, auch noch das letzte bürgerliche Ideal wahrzumachen und ihren Bürgern eine so moralische Erziehung angedeihen zu lassen, daß sie sich ohne den "stummen Zwang" der Not als brauchbare Sowjetmenschen bewähren. Unter großem moralischen Getöse geht auf allen Ebenen ein immerwährender "sozialistischer Wettbewerb" vonstatten, der, widersprüchlich genug, bewiesene Selbstlosigkeit belohnt...

Für demokratisch geschulte Kenner der menschlichen Seele gilt der aufdringliche Moralismus der östlichen Staatsparteien als schlimmste Tyrannei: Nicht einmal denken dürfte dort ein jeder, was er mag. Nach demokratischen Maßstäben sehr folgerichtig: Nach der Masse der Phrasen wird das Maß des Zwanges geschätzt, den sie verschönern sollen. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Die Partei belämmert ihr Volk so penetrant, weil sie für ihre Belange den freien Willen und verkehrten Beschluß zum Mitmachen braucht - so daß der Wertehimmel des Sozialismus für das Volk auch keine Geheimnisse, dafür aber manche Gelegenheit zu Witzen bietet. Die Werte der freiheitlichen Demokratien im Westen haben es da besser. Ihre Ausarbeitung zu lauter opportunistischen Dummheiten, oben wie unten, verläuft so produktiv, weil nichts von ihrer Beherzigung abhängt. Sie beweihräuchern nämlich nur die "Sachzwänge" des "gesellschaftlichen Lebens" und wollen nicht die Macht begründen, die diese ins Werk setzt.

Die Völker der Sowjetunion leben also weder in einer Diktatur - noch brauchen sie ausgerechnet eine Demokratie.