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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1984 erschienen.

Nach dem Raketenherbst
INNERDEUTSCHER FRÜHLING AUS PANKOW FÜR BONN

Rege Reisetätigkeit zwischen beiden deutschen Staaten: Politiker hinüber, DDR-Bürger herüber. Bis Ende März ca. 40.000, darunter die Stoph-Verwandtschaft, in die "Freiheit entlassen" - die als "mißliebige Bürger abgeschoben", wie man mittlerweile auch schon lesen kann. Was ist eigentlich zwischen beiden Deutschlands los?

Da hat die christliberale Mannschaft eine entschiedene Wende auch in der Deutschlandpolitik versprochen. Da hat sie vor jeder Nachgiebigkeit gegenüber dem "Unrechtsregime" gewarnt und Helmut Schmidts Aufrüstungspolitik noch entschiedener fortzusetzen versprochen, weil die Machthaber drüben nur "die Sprache der Gewalt" verstehen. Da hat sie nichts als kommunistische Aggression und Unmenschlichkeit am Werk gesehen, anläßlich eines Herzschlags aus DDR-Grenzkontrollen Mordanschläge gemacht und durch diese diplomatische Frechheit einen geplanten Besuch Honeckers vereitelt. Kurz - da hat sie in Worten und Werken an der Seite der USA die Feindschaft gegen den "Weltterrorismus" und seine "Satelliten" gepflegt und vorangetrieben.

Und nun reist ein Politker nach dem anderen in die DDR, um "nützliche Kontakte zu knüpfen", um "Beziehungen zu pflegen und zu verbessern". Strauß, Zeyer, Lafontaine, Lambsdorff, Mischnick, Vogel geben sich bei Honecker die Klinke in die Hand. Der Westberliner Bürgermeister weilt zum ersten Mal im Osten; über 100 Parlamentarier besuchen die Leipziger Messe. Strauß lobt, daß die DDR "Zusagen einhält" und Selbstschußanlagen abbaut; er versichert: "Wir nähern uns geregelten Zuständen", und kritisiert westliche Journalisten: "Die DDR schiebt nicht ab, sondern erlaubt die Ausreise...". Lambsdorff spricht von einem "Klima der Verläßlichkeit". Alle versichern, daß eine Änderung der großzügigen Ausreisepraxis nicht zu erwarten ist. Von einem baldigen Besuch Honeckers wird geredet, von freundlicher Atmosphäre berichtet und verwundert darüber spekuliert, warum die DDR plötzlich so viele Ausreisen genehmigt und Botschaftsflüchtlinge ( Stoph-Verwandte eingeschlossen) straffrei abschiebt. Kurz - gute deutsch-deutsche Beziehungen haben Konjunktur wie lange nicht mehr.

Was macht die Wahrer von Freiheit und Demokratie gegen östliche Unfreiheit eigentlich so zufrieden und kontaktfreudig? Was bewegt umgekehrt die DDR eigentlich dazu, plötzlich tausende von Ausreiseanträge zu bewilligen, "Republikflüchtlinge" straffrei ziehen zu lassen und bundesrepublikanische Politiker diplomatisch zu hofieren?

Für die hiesige Seite heißt die offizielle Antwort aus Bonn, das Ziel der Regierung sei eben gewesen:

"Die Folgen der Teilung für die Menschen erträglicher machen!"

Das stimmt nun allerdings ganz und gar nicht. Wenn es um dieses menschenfreundliche Anliegen je gegangen wäre, dann hätten christlich-soziale-liberale Politiker längst den Staat drüben anerkennen, normale Beziehungen mit ihm aufnehmen und sich bemühen können, eine zwischenstaatliche Verständigung über Ein- und Ausreise zu erreichen, wie es sonst zwischen nationalen Herrschaften üblich ist. Dann würden sie ja wohl nicht gegen den erklärten Willen der östlichen Politikermannschaft und ihres Volkes das Recht beanspruchen, von Bonn aus alle Deutschen zu vertreten; dann würden sie sich nicht noch heuchlerisch darüber beschweren, daß die drüben diesen Anspruch nicht umstandslos anerkennen. Wenigstens froh müßten sie doch sein, die selbsternannten Anwälte der Freiheit für alle Deutschen, wenn jetzt ganz viele freiheitsdurstige Ostler rüberdürfen, so ziemlich jeder nämlich, der einen Antrag stellt.

Kaum sind es aber mal 4.000, die in einem Monat rüberdürfen, schon wird statt dessen hier die Beschwerde laut, Ostberlin versuche doch nur, "schwierige Leute loszuwerden und das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit zu lösen" und zwar auf "unsere" Kosten; denn so viele wollen "wir" gar nicht. Und kaum sind die Freiheitsliebenden hier in der Freiheit, werden sie durch Lager geschleust; dann haben sie sich dem freien Arbeits- und Wohnungsmarkt auszusetzen und mit Bevorzugung haben sie schon gleich gar nicht mehr zu rechnen. Im übrigen haben die Herren in Bonn und München für den frischen Wind jenseits der Mauer gar nichts getan; sie haben kein Zugeständnis gemacht und kein verlockendes Angebot, haben keinen "ersten Schritt" gemacht, keinen "Beweis des guten Willens geliefert", der immer nur von drüben gefordert wird. Im Gegenteil! Eine ökonomische Klemme der DDR haben sie ausgenutzt, und einen Milliardenkredit an einen bekanntermaßen pünktlichen und soliden Zinsen- und Rückzahler vergeben. Einen Kredit, der erstens mit Zinsen zurückgezahlt wird und der zweitens andere Geschäfte und Einfluß auf Wirtschaftsentscheidungen drüben nach sich zieht. Und sogar dieser Kredit ist als ein einziges Zugeständnis gedeutet worden. Denn die Beziehungen zum Osten sind vor allem auf dem Gebiet der erpresserischen Gewalt "ausgeweitet" worden.

Den Pershing-Raketen und Cruise-missiles hat die Bundesregierung zugestimmt und die Aufrüstung der Bundeswehr tatkräftig vorangetrieben. So hat sie sich auch zum verläßlichsten Juniorpartner der amerikanischen Politik gemausert, und aus dem diplomatischen Verkehr ist eine einzige Kette von Feindschaftserklärungen, Drohungen und gezielten Unhöflichkeiten geworden. Unberechenbarer hat sich der Westen gemacht und unnachgiebiger gezeigt, und diese Botschaft unerschütterlicher Feindschaft und Unnachgiebigkeit ist das einzige westliche 'Angebot' - und die Grundlage der innerdeutschen Fortschritte. Wenn Kohl die 'erfreuliche Entwicklung' so charakterisiert:

"Wir haben etwas tun können für die Menschen in Deutschland zu einem Zeitpunkt, in dem das weltpolitische Klima so schien, als sei so etwas gar nicht möglich." -

dann stellt er die Verhältnisse genau auf den Kopf. Für das weltpolitische Klima hat er viel getan - besagte 'menschliche' Fortschritte gehen auf das Konto der Gegenseite.

"Gemeinsame Verantwortung für den Frieden!"

So heißt die Antwort auf das "Klima" von drüben. Die deutschen Nationalisten im Ostblock haben sich angesichts der immer ungemütlicher werdenden Ost-West-Beziehungen nämlich auf die Demonstration ihres Entspannungswillens verlegt und rechnen dabei mit den besonderen Beziehungen und Abhängigkeiten, die sie gegenüber dem deutschen NATO-Frontstaat in mehr als drei Jahrzehnten haben einreißen lassen. "Es ist gerade jetzt besonders günstig, mit dem kapitalistischen Kontrahenten Geschäfte zu machen, auch wenn man dafür manchen sozialistischen Wirtschaftsgrundsatz über den Haufen werfen muß!" So lautet das erste Rezept der politischen Wirtschaftsplaner. Ganz neu ist das ja nicht. Längst kommt manches BRD-Kapital mit Waren made in DDR daher, weil es die Vorteile billiger Arbeitskraft drüben für sich zu nutzen weiß, Produktion für den Westen in die DDR-Pläne Eingang gefunden hat und Milliardenkredite diese hierzulande so geschätzte Orientierung der Staatswirtschaft beflügeln. Längst finden umgekehrt gegen knappe Devisen und besonders gute billige Ostwaren kapitalistische Industriegüter, Fertigungsmethoden und ganze Produktionsanlagen den Weg in die DDR, um die Produktivität ihrer Nationalökonomie gegenüber ihren planwirtschaftlichen Nachbarn zu steigern. Die DDR hat also längst an vorderster Front den dauernden Vergleich des Volksfleißes hüben und drüben miteingerichtet und die Überlegenheit kapitalistischer Ausbeutungsmethoden, kapitalistischer Finanz- und Kaufkraft für die Förderung des Staatsreichtums und seine inneröstliche Konkurrenz zu benutzen versucht. Von der verstärkten Fortsetzung dieser Sorte (un-)sozialistischer Selbstkritik verspricht sie sich gerade jetzt Vorteile, weil die ausgiebigen deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen um so mehr ins Gewicht fallen, je weniger selbstverständlich der Osthandel noch ist. Eine wenig arbeiterfreundliche Rechnung also!

Wenn sich auf der Leipziger Messe westliche 'Bosse und Bonzen' und östliche 'Staatsfunktionäre' die Klinke in die Hand geben und von beiden Seiten einvemehmlich der Ausbau der Wirtschaftsbeziehung sondiert wird, dann erwartet sich die sozialistische Führung davon auch gleich noch bessere politische Beziehungen zum Gegner und demonstriert und unterstützt das mit gebührender diplomatischer Regsamkeit und Vorzugsbehandlung ihrer bundesdeutschen Politkollegen. Vom Geschäftsfanatismus westlicher Politiker ist sie nämlich so überzeugt, daß sie ausgerechnet dem friedensstiftende Qualitäten zuspricht, so als ließe sich die westliche Generalorder 'Geschäfte mit dem Feind stehen unter politischem Vorbehalt!' auch genau umgekehrt lesen: Je mehr Geschäfte stattfinden, um so mehr schwächt das die Feindschaft ab. 'Frieden durch Handel!' oder 'Es ist gerade jetzt besonders wichtig, gute Beziehungen zu unseren Feinden zu pflegen!' lautet also die zweite Devise von drüben. Massenfreundlich ist auch die nicht.

Zum dritten haben sich die Leiter des deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates im Interesse der Förderung deutsch-deutscher Beziehungen darauf besonnen, daß sie ja praktisch längst von einem hehren Staatsgrundsatz Abstand genommen haben - von dem Grundsatz nämlich, daß jede Arbeitskraft und jedes lebende Stück 'technisch-wissenschaftlicher Intelligenz' im sozialistischen Staat automatisch eiiie Produktivkraft sei. Ökonomisch haben sie sich ja im Gefolge des zunehmenden Westhandels mit der kapitalistischen Logik vertraut gemacht, daß immer noch die effektive Benutzung von Arbeit und Wissen für die Mehrung des Reichtums, also der in Geldvermehrung nachzählbare Erfolg das Maß ihrer Brauchbarkeit abgibt und deshalb manche überflüssige, weil nicht genügend lukrative Arbeitskraft und manche unbrauchbare Kenntnisse vorhanden sind. Die politische Nutzanwendung dieser berechnenden Stellung zum Arbeiter und Bauernvolk ziehen sie jetzt, indem sie sich in Erwartung diplomatischen Gewinns für das innerdeutsche Verhältnis von all denen trennen, die nicht mit voller Überzeugung zum sozialistischen Aufbau beitragen, sondern lieber in die BRD wollen und das offiziell beantragen. Mag sein, daß die DDR-Politiker sich ausgerechnet haben, angesichts der ökonomischen 'Schwierigkeiten' des Westens mit seinen Millionen Arbeitslosen werde ihnen diese plötzliche Liberalität nicht so sehr als Schwächeeingeständnis ihres Systems angerechnet werden. Sie mögen die Vorstellung haben, der Westdrang werde schon nachlassen, wenn sich die Härten des freien Arbeitsmarktes erst einmal so richtig herumgesprochen haben. Vielleicht haben sie sogar vorhergesehen, daß den imperialistischen Alleinvertretungsfanatikern diese östliche Nachgiebigkeit schon wieder lästig ist, weil sie die BRD mit lauter neuen Bürgern beglückt, deren Verwendung hier mehr als fraglich ist, deren Kosten und agitatorischer Wertverlust aber sicher sind. Eines steht unabhängig von all dem fest. Die DRR hat einen alten Stein des bundesrepublikanischen Anstoßes offiziell anerkannt und hat von sich aus einem Anspruch der BRD ein Stück weiter nachgegeben, der sich gegen die Souveränität des östlichen Staaten'gebildes' selbst richtet. Dem Anspruch nämlich, daß das Staatsvolk der DDR - eigentlich bundesdeutscher Staatszugehörigkeit und durch Bonn ideell vertreten - Freizügigkeit in den Westen verlangen kann.

Immerhin haben die Macher des Systems drüben eine Nachgiebigkeit gezeigt, die zu ihrem hier gepflegten Ruf einer rücksichtslosen und menschenverachtenden Diktatur gar nicht paßt und für ähnliche Fälle im Westen völlig undenkbar wäre: Sie haben sich von Flüchtlingen in Westbotschaften und ihren westlichen Fürsprechern erpressen lassen; sie haben vor aller Öffentlichkeit zugestanden, daß es Tausende unzufriedener Bürger gibt, und ihnen auch noch den Weg in den Westen eröffnet. Was diese neue "weiche Linie" bedeutet, wird am besten aus den heuchlerischen Mahnungen an die freie Presse ersichtlich, sie sollte die Maßnahmen der Regierenden drüben nicht zu sehr an die große Glocke hängen, damit die drüben nicht völlig ihr Gesicht verlieren und wieder strengere Sitten einführen. Man weiß eben nur zu genau, daß die 'verbesserten diplomatischen Beziehungen' in diesem Fall nicht die Folge gegenseitiger Anerkennung sind, mit der sonst zwischen Staaten der politische Verkehr eröffnet wird. In diesem Fall ist es genau umgekehrt: Das angeblich so aggressive System im anderen Teil Deutschlands reagiert auf seine Nichtanerkennung durch die BRD; es reagiert - auf die Feinschaftserklärungen, mit denen der Ostblock laufend mehr bedrängt wird. Mit den deutsch-deutschen Tönen, die von jenseits der Mauer verlauten, und mit den 'Erleichterungen' im zwischenstaatlichen Menschenverkehr und Ausreisewesen appellieren die Führer drüben ausgerechnet an den westdeutschen Nationalismus, der sich mit der Existenz der DDR nie abgefunden hat. Auf "Deutschland" berufen sich ostdeutsche Politiker, als wäre das je etwas anderes gewesen als der Rechtstitel der bundesrepublikanischen Anmaßung, auch drüben zu regieren.

Innerdeutsche Fortschritte der Raketenrepublik

Die Rechnung der östlichen Deutschland-Politiker geht deshalb auch gar nicht so auf, wie sie es gerne hätten. Denn mit den ökonomischen und politischen Angeboten liefern sie der BRD nicht nur ein jederzeit willkommenes Stück Sonderbeziehungen in den östlichen Block hinein und ein Stück deutsch-deutscher Verständigung nach hiesigen Maßstäben. Sie beflügeln damit auch weitergehende Ansprüche bundesrepublikanischer Gesamtvolksvertreter.

"Nur durch Unerbittlichkeit lassen sich östliche Machthaber beeindrucken", hat die Devise hier gelautet - und genau diesem Erpressermotto gibt die DDR mit ihren Bemühungen recht, gerade jetzt Verständigungsbereitschaft zu beweisen. Dafür hat sie neben dem eingangs zitierten unverschämten Lob, aus dem die Genugtuung erfolgreicher Erpresser spricht, auch einiges an Kritik geerntet: Denn hiesige Politiker und ihre Öffentlichkeit führen sich jetzt erst recht so auf, wie wenn sie nur ihre Ansprüche anzumelden bräuchten, und dann wäre ganz selbstverständlich klar, daß die drüben sich danach zu richten hätten. Mit der demonstrativen Zufriedenheit über die erreichte Aufweichung des gegnerischen Blocks paart sich da die wachsende Unbescheidenheit in der 'Frage': Was kann man von der DDR erwarten und worauf darf die umgekehrt bei dei BRD nicht spekulieren. "Alle DDR-Bürger öfter reisen lassen, dann wollen nicht soviele ausreisen und fallen uns nicht zur Last", sagen die einen; "Abbau aller Beschränkungen", die anderen; "die spekulieren nur auf neue Kredite", die Dritten. Und jeder drückt damit auf seine Weise die diplomatische Unverschämtheit aus, daß die Vorleistungen der DDR gar nicht ohne weiteres mit Gegenleistungen honoriert werden sollen, sondern jetzt als selbstverständlicher neuer Normalzustand gelten, der höchstens die DDR zu weiterem Entgegenkommen verpflichtet.

Denn zufrieden ist man in Bonn noch lange nicht; das hat man in aller Öffentlichkeit per Bundestagsdebatte demonstriert. Die Wiedervereinigung bleibt die politische Leitlinie, heißt es; Freiheit und Demokratie lassen sich nicht für ein paar menschliche Erleichterungen verkaufen, die Volkskammer ist kein wirkliches Parlament, die Elbe keine geregelte Grenze und das Gebilde drüben immer noch ein Unrechtsregime, zu dem es keinesfalls normale Beziehungen geben kann.

Die Taktik der DDR-Regierung, die feindliche westdeutsche Diplomatie mit Zugeständnissen an den bundesrepublikanischen Nationalismus abzuschwächen, beflügelt also diesseits der Mauer nur die Ansprüche der Raketenrepublik. Angesichts der Einigkeit von SPD, CDU, CSU und FDP, die neugewonnene Macht so auszunutzen, blamieren sich die Beschwerden von jenseits der Mauer, die C-Parteien seien in die reaktionären Parolen der 50-er Jahre zurückgefallen. Die BRD ist kräftig auf dem Vormarsch - und zwar geschlossen.

Deutsch-deutsche Flüchtlingsgespräche

Bundesdeutsche Bürger, vom Fernsehen befragt, was sie von dem sogenannten "massenzustrom" ihrer nationalen "Brüder und Schwestern" halten, halten natürlich gar nicht viel davon. Knappe Arbeitsplätze stehlen die uns und knappe Sozialgelder. Der Neid, der die eigene Beschränkung durch Politik und Wirtschaft zu einem knappen Gut erklärt, das nur Volksangehörigen zusteht, richtet sich da glatt gegen den Staatsgrundsatz der Bundesrepublik: Jeder Rübergemachte ist automatisch Bundesdeutscher: In den Augen ihrer neuen Mitbürger jedenfalls sind sie bestenfalls ärmliche Volksverwandte oder bessere Türken, die zwar ganz gut Deutsch können, aber zu Unrecht bevorzugt werden, die Ostzonalen die.

Umgekehrt bringen die Ausreisenden genau den untertänigen Nationalismus mit, der sie für die Freiheit so empfänglich macht: "Es wird schwer werden. Hier gibt's ja auch Arbeitslose. Drüben hatte ich eine Wohnung, zweitausend Mark netto im Monat, einen Trabant, eigentlich fast alles, nur keine Freiheit". "Ich bin zufrieden, wenn ich nach fünf Jahren hier den Lebensstandard erreiche, den ich in der DDR hatte." Die frischgewonnene Meinungsfreiheit nutzen sie also gleich so, wie es die demokratische Öffentlichkeit von ihnen erwartet - für einen Systemvergleich, der immer schon entschieden ist. "Obwohl ich kaum etwas von der BRD wußte, gab es für mich nur eins: Ab in den Westen." Da sind sie jetzt und fallen nur noch durch das krampfhafte Bemühen auf, alles, aber auch wirklich alles im Reich der Freiheit bestens zu finden und ja nicht aufzufallen.

Der ideale gesamtdeutsche Bürger

lebt hinter der Mauer, da wo es nichts zu kaufen, nur heimliche Arbeitslosigkeit, lauter Spitzel, Parteibonzen und Staatsamateure gibt. Aber da lebt er nicht nur einfach so, sondern gibt für die aufmerksam beobachtende und für jeden Paradefall empfängliche freie Öffentlichkeit seinen Ausreisewillen zu Protokoll. Er will unbedingt in das gelobte Land wechseln, wo es alles zu kaufen gibt - wenn auch gerade nicht für die zig-Millionen mit zu wenig Geld in der Tasche; wo die Arbeitslosigkeit un-heimlich ist; wo der staatliche Spitzelapparat eine ordentliche demokratische Meinung überwacht; wo nicht die Partei, sondern die gewählte Regierung immer Recht hat, und wo die Amateure von der Sporthilfe und von der Wirtschaft bezahlt werden. Mit dieser Sehnsucht repräsentiert der Ausreisewillige für freie Politiker und Journalisten den Willen aller DDR-Bürger, genauso wie in Bonn, am besten also von Bonn aus regiert zu werden. Natürlich wird sein Antrag abgelehnt; denn der wahre Wille des deutschen Volkes wird ganz ersichtlich unterdrückt und braucht unbedingt seine Bonner Fürsprecher. Gemein ist es, wenn die Behörden drüben anfangen, jeden rauszulassen, der will. Dann werden aus idealen gesamtdeutschen Bürgern Ausreisende, die unsere Lager überfüllen, unseren Arbeitsmarkt und unsere Staatskassen belasten - und das Allerschlimmste: Sie taugen einfach nicht mehr so gut zur Hetze gegen drüben. Denn wenn sie mal hier sind, dann lassen sie sich nicht mehr an Ort und Stelle befreien. Dieses Menschenrecht läßt sich die Bundesrepublik natürlich auch durch die neueste Selbstentvölkerungstaktik der DDR nicht nehmen. Denn der ideale gesamtdeutsche Bürger ist genauso unsterblich, wie Deutschland unteilbar ist.