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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1984 erschienen.

Systematik

Lastwagenblockade am Brenner
FREIE FAHRT FÜR DEUTSCHLAND

Während die europäischen Politiker auf ihrem Gipfel wieder einmal munter ihre nationale Konkurrenz austrugen und dies als "Gefahr des Scheiterns Europas" ausgaben, tat jüngst am Brenner Europa einen kleinen, aber feinen Schritt nach vorn -, durch den "Brummi-Krieg am Brenner", der sich zu einer regelrechten deutsch-italienischen Affäre auswuchs. An dieser vorbildlichen Entwicklung ist dreierlei schuld.

1. Die Dummheit deutscher Fernfahrer

Die hartgesottenen Burschen, die normalerweise für die Einsparung von Transportzeiten, also Transportkosten tage- und nächtelang hinterm Steuer sitzen, haben einen großen Fehler gemacht. Nicht als lohnabhängige Transportarbeiter haben sie ihre Arbeit niedergelegt, nicht gegen ihre profitable Anwendung durch Fuhrunternehmer und gegen ein Geschäft, dessen oberstes Gesetz für sie rücksichtslose Hetze heißt, haben sie sich zur Wehr gesetzt. Statt dessen haben sie sich als professionelle Lastwagenfahrer über Fahrhindernisse beschwert, die in den Grenzen, also in nationaler Souveränität begründet liegen. Ein Recht auf schnelle, reibungslose Abfertigung haben sie vom italienischen Staat gefordert:

"24-stündige Abfertigung auf vier Spuren, ein generelles Streikverbot für Zollbeamte, eine Schnellspur für Fahrzeuge, die erst in Sterzing verzollen..." (aus den Fernfahrer-Forderungen)

Das Motto ihrer Unternehmer 'Möglichst flotte, freie Fahrt!' ist ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie die normalen Grenzformalitäten, also die Arbeit der Zöllner, und die Auseinandersetzung zwischen dem italienischen Staat und seinen Bediensteten um Überstunden und Bezahlung, also die Arbeitsverweigerung der Zöllner, für ein und dasselbe ansehen: einen einzigen Anschlag auf ihren Fernfahrerjob. Für ordentliche deutsche Wertarbeitszustände am Brenner haben sie gestreikt und gegen italienische Schlamperei:

"Wir bleiben stehen, bis die Italiener das Arbeiten lernen." (Abendzeitung, München)

Wo deutsche Brummis unentwegt rollen, da haben Italiener zu spuren, statt zu streiken, abzufertigen, statt durch Kontrollen zu verzögern.

2. Die Fortschritte deutscher Geschäfte

Der Nationalismus der 'Kapitäne der Landstraße' hat seine handfeste Grundlage im europäischen Internationalismus ihrer kapitalistischen Arbeitgeber. Für Transportarbeiter ist ein innereuropäischer Warenstrom rund um die Uhr, kreuz und quer über die Alpen eine Selbstverständlichkeit und ihr alltäglicher Beruf; nur deshalb erscheint die Zollhoheit des italienischen Staates als eine untragbare Schlamperei, eine ständige lästige Normalarbeitsbedingung eben. Die Warenzirkulation nimmt also längst ihren freien Lauf durch Europa. Nationalstaatliche Hoheit ist da nur noch eine grenztechnische Angelegenheit. An der allerdings scheiden sich die nationalen Geister. Italien räumt dem aus anderen EG-Ländern und insbesondere der Bundesrepublik rollenden Dauerverkehr keine automatische Vorfahrt ein, sondern überwacht ihn und bremst ihn wohl auch mal und sei es nur, weil ihm der Streit mit seinen Bediensteten wichtiger erscheint als reibungsloser Warentransport. Deutsche Spediteure, die Öffentlichkeit und der Staat aber beschweren sich, daß mit der Wahrnehmung dieser Hoheitsrechte ein legitimer europäischer Anspruch sträflich mißachtet werde. Wenn das Fahrer-Ideal von grenzenlosen Fernstraßen zum öffentlichen Leitbild europäischen Fortschritts wird, dann zeigt das, wieweit dieser Fortschritt des Geschäfts gediehen ist. Wenn sich der Streik nicht an der Souveränität des italienischen Staates blamiert, sondern in der des deutschen Staates seinen eifrigsten Fürsprecher findet, dann zeigt das weiter, wie unbescheiden der nationale Hauptprofiteur der EG, die Bundesrepublik, Europa definiert.

3. Der europäische Anspruch deutscher Politiker

Wenn gestandene Arbeiterfeinde aus Öffentlichkeit und Politik ihr Herz für streikende Fahrer entdecken, wenn Politiker gar einen geordneten Streikverlauf organisieren und Männer wie Strauß sich "vor Ort über die 'unerträglichen Zustände' bei der Grenzabfertigung" informieren, dann stehen die rabiat gewordenen nationalen Straßenprofis längst für mehr als ihr Interesse an zügiger Abfertigung: für einen offiziellen politischen Anspruch der Bundesrepublik nämlich. Strauß schickte noch vom Brenner ein Telegramm nach Rom, und Kohl eröffnete dem italienischen Amtskollegen Craxi ganz offiziell in Bonn, was Sache ist:

"Der Bundeskanzler erklärte, die Schwierigkeiten an den Grenzen zeigten, 'wie notwendig ein Vorankommen in Europa' sei. Der Bundeskanzler erklärte: 'Wir brauchen ein Europa ohne Grenzen für Güter und Personen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.'" (Süddeutsche Zeitung)

So besehen fällt der politische Umgang mit der Blockademannschaft unter die diplomatischen Frechheiten, mit denen Italien von deutscher Seite beehrt worden ist: Hier steht eine ganze Republik, vom letzten Fernfahrer bis zum Kanzler, und verlangt kategorisch, daß Italien der bundesrepublikanischen Vorfahrt in der EG gefälligst nichts in den Weg zu legen hat. Der Brenner darf keine nationale Grenzstation, sondern muß ihre deutschen Maßstäben entsprechende Aufhebung sein, heißt es da also aus Prinzip. Als Beispiel italienischer Schranken für deutsche Interessen ist dem deutschen Kanzler ein 'Brummi-Krieg' deutscher Laster gegen die 'schleppende Güterabfertigung am italienischen Zoll' gerade recht. 'Gesamteuropäisch' betrachtet, ist das natürlich nur die Spitze eines Eisbergs...

Das glückliche Ergebnis

Italien hat nachgegeben und sogar den blamablen Schein in Kauf genommen, von den Fernfahrern erpreßt worden zu sein. Mehr Zöllner, rund um die Uhr, Abfertigung mit weniger Formalitäten hat es zugesichert, also genau das, was die rasenden Rolands auch verlangt hatten. Nachgegeben haben die italienischen Behörden freilich wegen des politischen Nachdrucks, der diesem Anliegen von Bonn verliehen wurde. Damit haben sich die stolzen Beherrscher der Fernstraßen endgültig als Fußvolk auf Rädern und nützliche Idioten der politischen und Geschäftsinteressen der Bundesrepublik bewährt. Mißbraucht worden sind sie sicher nicht, wie ihre Reaktion abschließend beweist. Auf Wink von oben haben sie pariert und sind wieder losgedieselt. Jetzt sitzen Großdeutschlands Brummi-Fahrer wieder hinter dem Steuer mit einem neuen schwarz-rot-goldenen Kapitäns-Orden an der Brust. Wenn sie demnächst ganz viel freie Fahrt haben, hat sich für sie nur eins geändert: Ihr Scheißjob läuft am Brenner reibungsloser; sie sitzen länger am Steuer und kürzer am Brenner herum. Das deutsche Europa aber ist dadurch wieder ein Stück vorangekommen.