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Ein demokratischer Dauernekrolog
DER WELTFEIND ALS PERSON
Entgegen den üblichen Behauptungen leben die wirklichen Anhänger des Personenkults im Westen. Der Führer lebt - im demokratischen Instrumentarium zur Begutachtung von Politik. Wenn so ein Führer stirbt und ein neuer drankommt, werden die Persönlichkeiten ausgiebig gewürdigt. Eine Bilanz über die Politik wird gezogen in allertiefster Demutshaltung vor deren Machern - als Erläuterung von deren Qualitäten. Das Verfahren ist bei der Beurteilung von Ostblockpolitikern dasselbe; allerdings unterscheiden sich die Qualitäten und Leistungen von denen, die westlichen Politikern nachgesagt werden, grundsätzlich, weil dort der Feind besprochen wird.
Der alte Mann
1. Andropow hat keine Ära geprägt
"Andropow hat nicht lange genug gelebt, um einer Ära seinen Stempel aufzudrücken und den Übergang von der Stalin-Generation zu einer jüngeren Führungsmannschaft zu vollziehen. Er ist ein Mann des Übergangs geblieben." (Süddeutsche Zeitung)
Die schlichte Tatsache, daß Andropow nur 14 Monate lang Generalsekretär war, kann nicht der Grund für diese Einstufung sein. Vor dem Anspruch, einer Ära seinen Stempel aufzudrücken, verblaßt notwendigerweise alles, was er während dieser 14 Monate getan hat. Die demokratische Verehrung der Macht ergeht sich in der Vorstellung, daß ein Politiker mit seinen Taten die Welt zu verändern hätte. Und die Sortierung, die westliche Journalisten von einem großen Sowjetführer verlangen, seine Gesellschaft in ihrem Sinne umzukrempeln, können sie nicht entdecken. Also: Leistung mangelhaft.
2. Andropow ist gescheitert
"Andropow hat in seiner kurzen Herrschaft jedes der großen Probleme des Landes anpackt. Die Talfahrt der Wirtschaft, Polen und die Raketen. Aber er hat keines lösen können. Und es scheint, als sei jedes dieser Probleme in seiner Amtszeit größer geworden. Seine Nachfolger treten ein mieses Erbe an." (tz, München )
Eine Wirtschaft, die sich nach westlicher Meinung so lange auf "Talfahrt" befindet, wie sie realsozialistische Planwirtschaft beibt (Zuwachsraten beirren dieses Urteil nicht im geringsten, im Unterschied zu hiesigen Meldungen vom Aufschwung; die gesicherte Garantie eines auskömmlichen Lebensstandards für die sowjetischen Völkerschaften natürlich gleich gar nicht); Polen, das nach westlicher Meinung erst dann kein Problem mehr ist, wenn es seinen Block verläßt; Raketen, auf denen der Westen solange kategorisch besteht, bis die Sowjetunion kapituliert - das sollen die Probleme gewesen sein, die Andropow angepackt, aber nicht gelöst hat? Da wäre also ein Herrscher daran gescheitert, daß er den Interessen seines Staates nicht zuwiderhandeln konnte? Die Auflagen der NATO zur Beseitigung des Kommunismus sind die "Probleme", die Andropow nicht gelöst haben soll.
3. Er war intellektuell, aber bloß ein Polizeifunktionär
"Sicher war Andropow seinem Vorgänger als Parteichef intellektuell weit überlegen. Sicher erkannte er auch, daß die Sowjetunion unter Breschnew in einen Morast des Immobilismus, der Korruption und der ökonomischen Krisen zu versinken drohte. Die Art und Weise, wie er diese Erkenntnisse in die Praxis umsetzte, läßt allerdings den Verdacht aufkommen, daß er ein intelligenter und aufgeklärter Polizeifunktionär war - nicht mehr und nicht weniger... Sein Reformversuch in der sowjetischen Wirtschaftspolitik ist ein Torso geblieben. Sein Tod wird sicher nicht dazu beitragen, die Durchsetzung seiner Vorhaben zu erleichtern." (Die Welt)
Die Intelligenz, die man bei Ostblockpolitikern schätzt, ist nichts anderes als die Einsicht in die Notwendigkeiten, die der Westen ihnen aufmacht. Sie ist also auch nie ausreichend, und daher stellen die unter Andropow eingeleiteten Reformmaßnahmen notwendigerweise einen "Torso" dar: Einer Wirtschaft, die nicht zu reformieren ist, die Reform polizeilich zu befehlen, das mußte zum Scheitern verurteilt sein. Ohne den Willen, die Planwirtschaft ab zuschaffen, gibt es aus den vom Westen definierten "ökonomischen Krisen" kein Entkommen. Nicht einmal einfaches Hinwegsterben erleichtert dann Politikern ihre Durchsetzung.
4. und deshalb auch kein Liberaler
"Dieser Mann galt vielen als ein 'Liberaler'. Zu diesem Mißverständnis hatte die Tatsache beigetragen, daß Andropow in mancher Hinsicht vom gewohnten Bild des Sowjetfunktionärs der obersten Stufe abwich; zunächst durch Schliff und Direktheit seiner Sprache, durch intellektuelle Beweglichkeit, dann aber auch durch seine Interessen für fremde Kulturen, für Jazz und moderne Kunst. Ein 'Liberaler' im westlichen Sinn war er deshalb nicht, sondern ein flexibler Machtpolitiker, der pragmatisch vorging, um das Sowjetsystem dynamischer und effektiver zu machen, um dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen, nicht um es zu 'liberalisieren'." (Süddeutsche Zeitung)
Wenn Ostpolitiker den ihnen vom Westen erteilten Auftrag, ihr System einzureißen, nicht erfüllen, muß man sich als westlicher Gutachter erhaben geben gegenüber "naiven" Meinungen, die man selbst erst in die Welt gesetzt hat, um sich dann immer wieder über die Beschränktheit von sozialistischen Staatsmännern aufzuklären. Von der Tünche eines Intellektuellen darf man sich nicht hereinlegen lassen: Kremlführern geht es immer 'bloß' um die Macht statt um die Ideale oder wenigstens um den Kunstgenuß des Westens, daher sind sie bestenfalls Pragmatiker und nie Freiheitshelden westlichen Zuschnitts. Oder - er war doch unser Mann, aber
5. es fehlte ihm die Macht
"Aber schon damals zeigte sich, daß die Machtbasis, über die Andropow verfügte - Armee plus KGB-Apparat, dagegen allenfalls nur Teile der Parteiführung -, zu schmal war..." (Die Welt)
"Ein Gefangener der sowjetischen Militärs?... Mit der Verweigerung dieses machtpolitisch unbedeutenden, jedoch protokollarisch wichtigen Amtes, das die Voraussetzung für offizielle Kontakte zu westlichen Staatsmännern ist, sollte Andropow möglicherweise bei seinem erkennbaren Vorhaben, eine eigene Außenpolitik zu betreiben, blockiert werden. ... Eine Reihe von Ereignissen deutet darauf hin, daß der Politiker Andropow schnell zu einem 'Gefangenen' der sowjetischen Militärs geworden war, die seit 1977 immer stärkeren Einfluß auf die sowjetische Politik nahmen." (Frankfurter Allgemeine)
Dabei hatten die ihn - laut "Welt" - ins Amt gehievt. Um ihn da einzusperren? So gab es keine "eigene Außenpolitik"; die, die gemacht wurde, ist in den Augen der FAZ keine, sondern 'bloß' der Einfluß des Militärs. Daß das Militär in der Sowjetunion genauso wie im Westen ein politisches Instrument ist, darf nicht gelten; daß Politiker und Militärs der Sowjetunion auf grund der NATO-Politik mit nichts anderem mehr befaßt sind als rnit der Frage der Selbstbehauptung ihres Staates, wird umgelogen in das fiktive Scheitern einer möglichen Andropow'schen Außenpolitik - da wäre Verständigung zu den westlichen Konditionen drin gewesen! So aber bloß Militär und Unnachgiebïgkeit. Und ausgerechnet der Figur, die in ihren Entscheidungen nach westlichern Geschmack immer viel zuviel Macht besitzt, wird nachgesagt, ihre "Machtbasis" sei "zu schmal" gewesen.
6. Andropow war krank
"Die Diagnose zeigt, daß die Sowjetunion seit einiger Zeit nicht mehr wirklich geführt worden ist - wie soll man glauben, daß ein Mann mit soviel Gebrechen noch wissen konnte, wo sich Afghanistan befindet?" (Le Matin de Paris )
Daß er krank war, bevor er gestorben ist, läßt sich kaum bestreiten. Aber die Diagnose des Westens läßt mit einem maroden Kremlchef gleich dessen ganzes Staatswesen darniederliegen. Trotz dem sonst immer so erdrückenden Apparat, Partei, ZK, Politbüro, ist seit der Krankheit Andropows einfach nicht mehr regiert worden:
"Die NATO hat inoffiziell die Hoffnung geäußert, daß jetzt die Nachrüstungaverhandlungen wieder in Gang kommen." Abrüstung und Nachrüstung sind ja irgendwie sowieao dasselbe.) "Andropows Krankheit hat ihn daran gehindert, neue Impulse zu setzen und klare Entscheidungen zu treffen." (Abendzeitung)
Die Entscheidungen der Sowjetunion über den Abbruch der Nachrüstungs"verhandlungen" und ihre Gegenmaßnahmen waren wohl nicht "klar", weil Andropow krank war? Der Krieg in Afghanistan findet nur noch deshalb statt, weil der Regierungschef den Überblick verloren hat? Eine bequeme Methode, die Interessen und Forderungen eines Staats, die einem nicht in den Kram passen, einfach für nicht existent zu erklären. Eine dergestalt für unbrauchbar erklärte Politik ist schließlich eine Zumutung für die ganze Welt:
"Auf internationalen Medizinerkongressen wird seit Jahren gefordert, durch UNO-Beschluß zur Pflicht zu machen, daß der Gesundheitszustand von Staatenlenkern regelmäßig gründlich gecheckt wird und aie im Fall einer unheilbaren Krankheit abgelöst werden. Was die Sowjetunion angeht, sicher ein begründetes Anliegen." (Abendzeitung München)
Am besten stellt die UNO dann auch gleich die richtigen Kreml-Politiker ein, damit es mit deren notorischer Untauglichkeit für eine ordentliche Weltpolitik ein Ende hat. Gründlich betrachtet ist die Krankheit, an der Andropow gestorben ist, allerdings im weiteren Sinn "unheilbar" - es ist das System, das seine Staatsmänner erledigt:
"Das schwere Erbe der Breschnewzeit, der Machtkampf im Kreml, die außen- und rüstungspolitiachen Fehlschläge - das alles hat den kränkelnden Andropow unerwartet schnell zermürbt." (Frankfurter Rundschau)
Und das kritische Magazin der Bundesrepublik entdeckt die Beckenbauer-Weisheit, daß Krankheit und Kommunismus irgendwie dasselbe sind, als den Begriff der Sowjetunion wieder:
"Auch in der westlichen Welt amtieren gelegentlich kranke oder pensionsreife Regierungschefs, aber in der Sowjetunion herrschen fast beständig alte, sieche Männer mit ihrer depressiven Weltsicht, mit ihrem Mangel an Ideen und Innovationskraft sowie den Folgen für das Schicksal des Landes, dem ständigen Immobilismus..." (Der Spiegel)
"Paradoxerweise" führte gerade Nikita Chruschtschows Reform, daß "Opponenten nicht mehr erschossen wurden", zu diesem Notstand:
"Besonders bei den älteren Kreml-Herren, die noch in der Stalinzeit lernten, ihre Zunge zu hüten und auch ihre Gedanken andauernd zu verbergen, gesellt sich zu den üblichen Gebrechen der Jahre jener Streß, der aus der Furcht vor dem Absturz in den Gulag, mithin aus lebenslanger Verstellung resultiert... Die Folge: Kaum hat einer die Spitze der Machtpyramide erreicht, verliert er jene immerwährende Gesundheit, die seine Seilschaft ihm von Herzen wünscht."
Zig einfältige Varianten nur um des eïnen Beweisziels willen, den Beschluß, die Störung der friedlichen und freien Weltpolitik durch den Kommunismus zu beendigen, dem System selbst zur Last zu legen, bzw. seinen verschiedenen Repräsentanten: Er konnte, wollte oder durfte nicht das leisten, was der Westen von ihm verlangt hatte. Darum eine große, aber gescheiterte, tragische Persönlichkeit.
...und schon wieder ein alter Mann im Kreml
In aller Unverfrorenheit erklären westliche Politiker nach Absendung des Beileidtelegramms nunmehr, daß es sich um eine großartige Gelegenheit für die Sowjetunion handelt, ihre Politik zu revidieren. Schwamm drüber, über die Bockigkeit oder Unfähigkeit Andropows, der Westen gewährt dem Kreml eine neue Chance, sich zu bessern:
"Der Wechsel in Moskau ist eine Chance für beide Nationen, den derzeitigen Zustand unserer Beziehungen genau zu prüfen und über die Zukunft nachzudenken..." (Reagan)
Allerdings wird die erfreute Öffentlichkeit gleich vor übertriebenen Erwartungen gewarnt; das großzügige Angebot zur Versöhnung wird voraussichtlich zum x-ten Mal an der sowjetischen Intransigenz scheitern. Amerikanische Ost-Experten geben zu bedenken:
"Die Tatsache, daß die Beziehungen der beiden Mächte auf den Gefrierpunkt gesunken sind, läßt sich allein deshalb nicht so schnell ändern, weil die Sowjetunion ihre psychologische Daueroffensive gegen Westeuropa nach der Stationierung der ersten neuen Mittelstreckenwaffen verloren hat, sich in Afghanistan an einer für sie weiterhin negativen Besatzungspolitik festkrallt, im Nahen Osten nichts tut, um den Friedensprozeß zu fördern, und weiter versucht, über Cuba destabilisierenden Einfluß auf Mittelamerika auszuüben."
Und genauso enttäuschend ist der Charakter des neuen Manns an der Spitze ausgefallen.
1. Er kann keine eigene Politik machen
"In den westlichen Demokratien gibt es festgelegte Regeln für einen Wechsel. Ein Wahlsieger kann eine neue Mannschaft bilden und darangehen, sein Programm zu verwirklichen. Nichts von alledem geschieht in Moskau... Gesucht wird eine Integrationsfigur... Nur allmählich kann ein Generalsekretär Profil zeigen, kann eine starke Persönlichkeit heraustreten, Rivalen ausschalten, selbständig, kleine Schritte tun und neue politische Akzente setzen..." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
2. Er ist alt
"Wie die meisten seiner Altersgenossen im Politbüro ist er nicht Repräsentant einer Generation reformwilliger, risikobereiter Neuerer, sondern Symbol und Relikt der fortwirkenden Breschnew-Ära." (FAZ)
Das ist eben der Fehler, Erbe Breschnew's sein zu wollen, anstatt Erbe Adenauers oder George Washingtons.
3. Er kann nichts
"Er hat nie ein Unternehmen geleitet" wie unser Kohl. "Er besitzt keine Erfahrungen in der Landwirtschaft" wie unser Kohl. "In der Außenpolitik wurde er nur tätig, wenn es um die Beziehungen zu Bruderparteien ging" wie unser Kohl. "Nichts in seiner Biographie deutet auf eine Beziehung zu den Streitkräften oder zur Rüstung" wie bei unserem Kohl. "Die Welt, in der Tschernenko lebt, in deren Kategorien er denkt und in der er sich auskennt, ist die Partei, genauer der Parteiapparat", wie Kohl von der Pike auf mit seinen politischen Freunden in diesem unserem Lande.
4. Er ist schon wieder krank
"...enthüllte US-Senator Moynihan, der Zugang zu Geheimdienstakten über die Sowjetführer hat. Tschernenko soll an einem Lungen-Emphysem leiden - in der Lunge bilden sich Bläschen, das Atmen fällt schwer wie bei Asthma." (BILD)
5. Er ist einfach unmöglich
"In der Form geriet seine Rede zu dem befürchteten Fiasko. Kurzatmig und stockend, von Pausen unterbrochen, die ihm der Kampf mit dem raschelnden Manuskript abnötigte..." (Die Welt)
"Während der Rede mußte der 72-jährige sich immer wieder die Nase putzen. Von Verteidigungsminister Ustinow lieh er sich ein Taschentuch." (Abendzeitung)
Und nach all den Heucheleien, wie bedauerlich es für die Sowjetunion ist, wieder einmal auf die lebenswichtigen Reformen, Ideen, Innovationen und auf eine wirklich eigenständige Politik und auf einen Führer mit Profil und Charisma und Tatendrang verzichten zu müssen, eine ehrlich Stirnme, die dieselbe Botschaft mit der Gehässigkeit ausspricht, wie sie immer gemeint ist.
Der Sicherheitsberater von Carter, Brzezinski, wünscht der Sowjetunion von Herzen einen schlechten Generalsekretär:
"Die Ernennung Tschernenkos ist das bestmögliche Ergebnis für Amerika. Tschernenko ist ein vergleichsweise unbeweglicher und wenig fähiger, sehr vorsichtiger Bürokrat mit beschränkten intellektuellen Fähigkeiten. Tschernenko wird nichts unternehmen, um das Sowjetsystem nennenswert zu reformieren. Es wird in Rußland alles beim alten bleiben. Korruption, Schlamperei und weitgehende Inkompetenz innerhalb der Staatsbürokratie werden weiterbestehen. Das ist eine gute Nachricht für uns."
Das gemütliche Ideal einer Sowjetunion, die sich durch Inkompetenz, Schlamperei und Unfähigkeit selbst als Hindernis für die kompetenten und fähigen Macher der NATO aus dem Weg räumt, als Charakterbild ihres Führers - Personenkult mit negativem Inhalt ist die aufgeklärte Betrachtungsweise östlicher Politik. Ein bezeichnender Hinweis auf die überlegene Rationalität und Intelligenz, die das westliche System kennzeichnen soll.