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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1984 erschienen.

Der Aufschwung
ZWISCHENBILANZ EINER POLITISCHEN LÜGE

"Wir haben für den Aufschwung gearbeitet. Jetzt geht's weiter." Diese "Information" - als Drohung ist es ja wohl kaum gemeint! - lassen christlich-liberale Bundesregierung und CDU sich etliche Hunderttausend oder Millionen für viertelseitige Zeitungsanzeigen kosten. Mit "dem Aufschwung" hatten es zu Weihnachten und Neujahr sämtliche regierungsamtlichen Festfiguren: Er sei allenthalben "zu spüren", "wir" hätten "wieder Tritt gefaßt", "es" gehe unverkennbar "aufwärts", eine "stolze Bilanz" läge vor usw. Die öffentliche Meinung in Funk- und Pressehäusern macht mit kritisch-bedenklich-hoffnungsvollen Umfragen, Reportagen und Kommentaren das linientreue Echo; "Bild am Sonntag" verfertigt gleich eine ganze Serie "Aufschwung" nach dem nationalistischen Muster: "Deutsche Uhren ticken wieder!" - nachdem jahrelang die gute deutsche Zeit sich durch fremdländische Chronometer hatte messen lassen müssen. Kein Wirtschaftswissenschaftler, kein gesellschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut der Republik meldet sich mehr zu Wort ohne Prognosen über die Lebensaussichten jenes Wunderdings, das da "Aufschwung" heißt. Was wird da eigentlich verkündet? Etwa, daß es "uns allen" jetzt wirtschaftlich besser geht, "spürbar"?

Die Lüge von Nutzen und Notwendigkeit des Geschäftemachens

Das, wenn es wahr wäre, bräuchte wahrhaftig nicht erst per Zeitungsannonce kostenaufwendig bekanntgegeben zu werden. Wenn das "wieder aufwärts!" die Finanzlage des Normalbürgers meinen würde, dann wäre die beschwörende Versicherung: "Ich, Du, Er, Wir alle spüren, wie..." herzlich überflüssig. Entbehrlich wären dann vor allem die dreisten Unwahrheiten, mit denen die Bundesregierung ihren Aufschwung als wirtschaftlichen Vorteil für jedermann ausgibt.

Frechheit Nr. 1:

"Die Teuerungsrate wurde halbiert. Während die Preissteigerungen im Sommer 82 noch bei 5 bis 6% lagen, betrugen sie zum Jahresende 1983 nur noch 2,6%. Das schafft 20 Milliarden Mark neue Kaufkraft (dies entspricht dem Wert von etwa 2 Millionen Kleinwagen.)"

Das mit den kaum noch wahrnehmbaren Preissteigerungen einmal dahingestellt - für den Normalverbraucher sind sie genauso realistisch wie der Kleinwagen für 10 Tausender -: Das Kunststück soll Kanzler Kohl seinen Bürgern doch bitte mal vormachen, wie ein geringerer Lohnabzug durch steigende Preise "neue Kaufkraft schafft"! Milchmädchen würden für solche Rechnungen sofort gefeuert.

Albernheit Nr. 2:

"Wie das Weihnachtsgeschäft gezeigt hat, wird wieder gekauft."

Beinahe wäre wohl das Kaufen eingeschlafen, die Leute hätten von Luft und Liebe gelebt, oder wie? Und für ein ungetrübtes Vergnügen kann das Weihnachtsgeschäft nur einer erklären, der dabei nicht an das Geld denkt, das beim Kaufen hingelegt werden muß, sondern nur an das Geld, das anschließend die Kassen der mit den Bedürfnissen der "kleinen Leute" befaßten Geschäftswelt füllt.

Schwindel Nr. 3 (alles in einer Annonce):

"Die Ertragskraft der Unternehmen steigt, und deswegen wird wieder mehr investiert. Das sichert Hunderttausende Arbeitsplätze und läßt neue entstehen."

Sicher,- die Summen, die Bundesdeutschlands Unternehmen inzwischen verdienen, können Chefs und Aktionäre miteinander gar nicht verjubeln. Hat dem Kanzler aber wirklich noch niemand verraten, daß Investitionen ihrerseits wieder dazu da sind, "die Ertragskraft der Unternehmen zu steigern", und daß das unter anderem auch das Weg"rationalisieren" von Lohn-"Empfängern" bedeutet? Daß Investitionen für mehr Gewinn mit der "Schaffung von Arbeitsplätzen" nichts zu tun haben? Daß Unternehmer genau so viel Arbeiter benutzen bzw. entlassen, wie es für ihre Investition rentabel ist?

Natürlich weiß die Regierung das, genauso gut wie die Unternehmensleitungen, die die stolzen Investitionstaten vollbringen, und wie die gelehrten Begutachter der "gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", die Fachleute des DGB eingeschlossen. Deswegen sind alle drei Parteien - Politik, Wirtschaft und Sachverstand - sich auch darin einig, daß, "Aufschwung" hin oder her, die "Entspannung am Arbeitsmarkt" auf alle Fälle "erst später spürbar" werden kann (wenn überhaupt). Bis dahin muß man damit zufrieden sein, daß die Zunahme der Arbeitslosenzahl weniger rasch vonstatten geht als zuvor. Daß 1983 die Jahresdurchschnittszahl bei 2,25 Mio. amtlich erfaßten Menschen ohne Lohn lag und damit um 420.000 höher als 1982, ist insofern ein hoffnungsvolles Zeichen, als die 1,8 Millionen von 1982 noch um volle 500.000 mehr gewesen waren als der Durchschnitt von '81. Nach der Kohl-Logik: Eine geringere Verschlechterung ist eine Verbesserung! kann man also mindestens 80.000 vergleichsweise nicht entlassenen "Arbeitnehmern" zu ihrem 'zusätzlich geschaffenen' Arbeitsplatz gratulieren... so wie Deutschlands "kleinen Leuten" insgesamt zu den 2 Millionen Kleinwagen, die die sich laut (nicht: auf) Regierungsrechnung von der verringerten Preissteigerung kaufen konnten.

Auf dieser Albernheit will sich die Regierung aber nicht ausruhen. Unter den Trägern der politischen, der wirtschaftlichen und der wissenschaftlichen Verantwortung ist man sich nämlich ganz ohne solche Flausen auf jeden Fall darüber einig, daß der Aufschwung für seine korrekte Abwicklung genau dasselbe braucht wie zuvor der Abschwung: geringere Löhne. Nach allgemeiner Auffassung schließt der Aufschwung 1984 ein, daß "die Realeinkommen abermals rückläufig sein werden" wahrscheinlich so um den Gegenwert von 2 Millionen Kleinwagen herum...

Mit all seinen volksfreundlichen Unwahrheiten ist das allgemeine "Demnächst geht's wieder besser!" also nur der Auftakt dazu, mit einem "Aber" und lauter Dementis denkbarer materieller Erwartungen des Durchschniitsbürgers fortzufahren: "Die Zahl der Lohnarbeiter ohne Lohn und Arbeit wird vorerst (=bis auf weiteres) aber noch weiter steigen; wer einen Arbeitsplatz besitzt und einen Lohn empfängt, muß mit geringerem Einkommen auskommen; die Rentner natürlich erst recht und..." so weiter. Alles, was von Lohn leben muß, ist durchaus nicht so direkt mitgemeint bei dem "es", das da "besser gehen" soll."Der Aufschwung" ist einer des Geschäfts: Es lohnt sich - wieder einmal im Durchschnitt genommen noch mehr als das Jahr davor schon -, Geld in eine Firma zu stecken und andere Leute arbeiten zu lassen. Und dieser banale Inhalt des Aufschwungs, zu dem die Regierung sich und ihre Bürger ohne Unterlaß beglückwünscht, schließt den persönlichen Erfolg der Leute, die da so lohnend zum Arbeiten herangezogen werden oder auch nicht (mehr), keineswegs ein. Im Gegenteil: Er beruht auf Lohnsenkungen aller Art - durch nicht ausgeglichene Preissteigerungen, durch die Einsparung von Lohnarbeitern, durch mehr Arbeitsleistung derer, die weiterhin Lohn "empfangen". Und er braucht weitere Lohnsenkungen, damit er "sich kräftigt", "dauerhaft" wird und "widerstandsfähig". Er fällt zusammen mit einem Abschwung in den Haushaltskassen der lohnarbeitenden Menschheit.

Ein Geheimnis wird daraus auch gar nicht gemacht. Die nachteiligen Wirkungen des Aufschwungs auf die heißgeliebten Volksmassen beschäftigen die Öffentlichkeit durchaus - schaden dem guten Ruf des Aufschwungs aber durchaus nicht. Sie gelten eher schon umgekehrt als besonders gelungener Beweis dafür, wie wichtig ein noch rentabler gewordener Geschäftsgang sei: so überragend wichtig eben, daß alle privaten Nöte, die er verursacht oder voraussetzt, daneben für nichtig erachtet werden müssen. Das Elend, mitten im Aufschwung und für ihn "nötig", illustriert für eine gut gebildete öffentliche Meinung nicht die Rücksichtslosigkeit kapitalistischen Wirtschaftens, sondern daß mit jeder Menge "unvermeidlicher Härten" auf sein Gelingen jede Rücksicht genommen werden muß: Die Opfer des Aufschwungs machen ihm Ehre.

Geliebte Sachzwänge

Diese Ideologie - die Schädlichkeit des ökonomischen Geschehens bezeuge dessen "offenkundig" unabweisbare Vorrangigkeit vor jedem eigenen Interesse - kann sich allemal auf die tatsächlich hergestellten ökonomischen Notwendigkeiten berufen. In der marktwirtschaftlichen Praxis sind ja die vielen Leute Material fürs Geschäft; ihr Einkommen ist nicht Zweck der Veranstaltung, sondern Kostenfaktor. Aus diesem praktischen Zwang speist sich die unverschämte theoretische Sicherheit der gesamten Öffentlichkeit, daß der Gang der Wirtschaft auch gar nicht nach den Bedürfnissen der vielen Leute und ihrem Wohlergehen beurteilt werden darf, daß das ein durch und durch sach- und weltfremder Maßstab wäre. Mehr noch: Die arbeitende Menschheit ist über den Lohn und dessen ökonomische Zweckbestimmung, Geschäftsmittel der Firma zu sein, vom jeweiligen Firmenerfolg abhänigig gemacht, ohne an ihm teilzuhaben. Diese so produktive Abhängigkeit verschafft ihren Regisseuren und Parteigängern die Gewißheit, daß die Leute, gerade wenn es um die Beurteilung ihrer Lage geht, gar nicht mit ihrem Erfolg oder Mißerfolg in Anschlag zu bringen sind, sondern eben als abhängiger Unterfall des Geschäftserfolgs, dem ihre Entlohnung dient. Deswegen produzieren dann Massenblätter und Staatsfunkhäuser extra für den Hausgebrauch der Betroffenen Vorbilder an Begeisterung über den Aufschwung, soweit es ihn gibt, und lauter berechnende bis absurde Sorgen um sein Gelingen, soweit es ihn doch vielleicht noch nicht so richtig gibt.

So verbinden sich am Ende die Lüge vom Nutzen und der Schwindel von der Notwendigkeit des Aufschwungs: Der wahre ökonomische Vorteil der Leute liegt im Aufschwung des Geschäfts, von dessen Früchten sie nichts haben, von dem sie aber in guten wie in schlechten Zeiten als Manövriennasse abhängen; das "beweisen" am schlagendsten sie selbst durch die Opfer, die der Aufschwung ihnen praktisch auferlegt - und die der öffentliche Sachverstand so verstehen will, als hätten sie selbst sich die auferlegt um ihres recht verstandenen Vorteils willen. Diese Doppeldeutigkeit von "Opfer": man wird dazu gemacht, und man wird angesprochen und hingestellt als einer, der es bringt - das ist die politische Lüge, aus der alle Aufschwungsphrasen der Regierung gemacht sind.

Die Verdienste der Staatsgewalt um die Konjunktur: Ideologien und Taten

"Wir haben für den Aufschwung gearbeitet." (Information der Bundesregierung)

Ach, die waren's? Kohl und seine Mannschaft haben in die Hände gespuckt und das Bruttosozialprodukt gesteigert? Nein, nicht ganz. Mehr als die Verantwortung für den Aufschwung wollen sie gar nicht getragen haben - die aber schon:

"Wir halten Kurs, damit es im neuen Jahr mit dem Aufschwung weitergeht." (dieselbe Zeitungsanzeige)

Nichts von dem, worin nach Auffassung der Bundesregierung der Aufschwung besteht, hat sie selber gemacht: weder Firmen gegründet noch Kapital akkumuliert, weder einen Preis gesenkt (bzw. nur halb so sehr verteuert...) noch Gewinne gemacht, weder weniger Pleiten angemeldet noch Entlassungsaktionen beendet, weder ins Ausland verkauft noch im Weihnachtsgeschäft einige Milliarden verjubelt. Dennoch: Was die Arbeiter erarbeitet, die Manager gemanagt und die Untemehmer eingenommen haben, alles das möchte die Bundesregierung sich als irgendwie doch ihre Leistung zugute halten.

Bewiesen wird das nicht weiter; geschweige denn wird erklärt, mit welchen Leistungen die Bundesregierung wie den Aufschwung herbeigeführt hätte. Unterstellt wird erst einmal mit der größten Selbstverständlichkeit, die Regierung sei schon allein deswegen für den Aufschwung verantwortlich und habe sich um ihn verdient gemacht, weil er unter ihrer Herrschaft zustandegekommen ist.

"Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle an den Anfang meines Beitrags den Satz gestellt: 'Unser Land braucht eine Wiederbelebung seiner schöpferischen Kräfte.' Wir können heute rückblickend - ohne Überheblichkeit, aber mit Befriedigung - feststellen, daß diese Wiederbelebung tatsächlich eingetroffen ist. Mehr noch: unsere Erwartungen sind sichtbar übertroffen worden." (Kohl in der Silvesterausgabe des "Handelsblatt")

Keineswegs alles, was sich in der von ihr regierten Gesellschaft abspielt, reklamiert eine demokratische Regierung so unbesehen als ihr Werk. Die tatsächlich eingetretenen Firmenzusammenbrüche z.B. durchaus nicht; die Arbeitslosen nicht und die Ausgeflippten schon gleich nicht; die Armut und ihr Wachstum nie und nimmer - wie notwendig das auch immer zum Aufschwung dazugehört und wie offenkundig - auch immer "der Gesetzgeber" daran durchaus mitwirkt. Für die schöngefärbte "gute Seite" des Aufschwungs, für die Mehrung "unseres" Reichtums, will Kohl mit Mannschaft der Grund sein; dafür soll der "Schluß" von der politischen Zuständigkeit auf eine Leistung - und zwar die entscheidende gelten.

Die Opposition wirkt an dieser Lüge mit, indem sie in ihren schärfsten Angriffen der Regierung ein zu geringes Wirtschaftswachstum, eine ungenügende "Trendwende" bei der "Arbeitsplatzvernichtung", also u wenig Erfolg vorwirft. Da wird kein wirklicher Zusammenhang zwischen Politik und Geschäft aufgeklärt; der General-Schwindel von wegen "Für den Aufschwung gearbeitet" wird erst recht ernstgenommen, um Zweifel an der "Arbeits"-Leistung der Regierung anzumelden - schließlich will man sie ja in diesem Job beerben, sich als die "leistungsfähigere" Mannschaft für ihren "Arbeitsplatz" empfehlen. Der DGB, obwohl er gar kein Schattenkabinett zur Wahl stellt, denkt genauso:

"Unter Helmut Schmidt, der ihn in unverantwortlicher Weise gewähren ließ, unternahm Lambsdorff nichts gegen die Arbeitslosigkeit. Und heute unter Helmut Kohl tut er erst recht nichts. Dieser Graf von Tunix xnd Tatnix..." (metall Nr. 24/1983)

Das dümmliche Wortspiel will eine Kritik sein - und gibt doch nur das regierungsfromme Pauschal-Vorurteil wieder: Alles Gute, was sich in unserer Gesellschaft tut, ist "irgendwie" Regierungswerk; auf alle Fälle können nur Regierungsunterlassungen schuld sein, wenn was schiefgeht oder Sachen passieren, die einem nicht passen. Untertäniger läßt sich wahrhaftig nicht "kritisieren" als mit dieser Forderung. Da verlangen Fürsprecher der Geschädigten nichts weiter mehr als energisches Regiertwerden.

Die von keiner Opposition in Zweifel gezogene selbstzufriedene Zuständigkeitserklärung der Regierung für den Aufschwung steht erst einmal für sich. Mit Sinnsprüchen aus dem Repertoire der dümmsten Unternehmerpsychologie, die sich alle um das Stichwort "Vertrauen in die Zukunft" drehen - als würde an den Börsen und in den Banken und bei den Firmenleitungen mit Moral und Abstraktionen wie "die Zukunft" kalkuliert und nicht mit Kapital und Geschäftsaussichten! -, wird dieses Selbstlob nicht begründet, sondern parolenmäßig aufbereitet und ausgeschmückt. Aufmunternde Phrasen sind nun aber keineswegs alles, was die Regierung für den Aufschwung "leistet". Sie tut für ihn einiges - und zwar ziemlich genau dasselbe, was die Vorgängerregierung gegen den Abschwung, also für dessen korrekte Abwicklung getan oder begonnen hatte. Sie regiert.

Die Regierung fordert weiterhin das Geschäftemachen

Die Titel haben sich unter dem geballten Einsatz regierungsamtlicher Intelligenz gegenüber früher geändert, von mehr konventionellen, sozialpolitischen Etiketten zu konservativer Fortschrittslyrik. Aus "Konjunkturprogrammen" sind Programme zur "Förderung von Risikokapital" geworden, aus "Beschäftigungsmaßnahmen" Hilfen zur "Gründung selbständiger Existenzen", aus "Arbeitsplatzsicherungsmaßnahmen" "Strukturanpassungsbeihilfen". Die Praxis ist dieselbe: An den Kohlebergbau gehen Geldzuwendungen, weil das die strategische Energiereserve der Nation ist; an die Stahlindustrie, damit sie die in Sachen Produktivität sowieso schon unterlegene europäische Konkurrenz noch weiter aus dem Stahlmarkt boxt; an die "Mittelständische" Wirtschaft, damit die - wie schon die Großen - ihren Konkurrenzkampf auch in entfernte Weltgegenden tragen und gewinnen kann; usw. Alles das läuft unter dem sinnreichen Motto: "Abbau der Subventionen". Den Unterschied zum sozialliberalen Wirtschaftspolitik, auf den Kohls Leute so übertriebenen Wert legen - lieber Steuererleichterungen als direkte Zulagen fürs Geschäftemachen kann man getrost dem Meinungsstreit der Volkswirtschaftsideologen und den Berufskünsten der Steuerberater überlassen; einen normalen Menschen geht er nichts an.

Das Prinzip dieser Politik trägt sich vor in der Sorge, ob der Aufschwung denn wohl auch ein richtiger, dauerhafter, "sich selbst tragender" Aufschwung sei. Das wissen nämlich auch noch Politiker vom Zuschnitt eines Helmut Kohl, daß mit Optimismus und einer gewonnenen Wahl allein ein kapitalistisches Wirtschaftsleben noch lange nicht auf Touren kommt. Aber auch die großzügigsten Steuer- bzw. Geldgeschenke ans freie Unternehmertum - die Schmidt-Regierung war da ja wahrhaftig auch nicht kleinlich! - müssen erst einmal positiv anschlagen. Und das entzieht sich den Künsten bürgerlicher Staatsmacht. Die kann zwar Konkurse abwenden, ganze Branchen finanzieren, Bankrotte im Ernstfall verbieten - und das gehört durchaus zum Berufsbild eines bundesdeutschen Wirtschaftsministers. Ob und in welchem Maße aber eine international disponierende Geschäftswelt sich den Chancen zuwendet, die die eigene Nation bietet; ob wirklich ein Geschäft das andere nach sich zieht; ob das so geschieht, daß tatsächlich "ein gutes Börsenjahr" daraus wird: das will eine ihrer Macht durchaus bewußte Bundesregierung gar nicht befehlen. Sie schützt das Geschäft, das die eine, ihr besonders liebe Klasse von Untertanen macht - und deutet ihre kapitalfreundlichen Taten so, als schüfe sie damit einen ungetrübten, automatischen, im Grunde immerwährenden Aufschwung:

"Die Bundesregierung ist angetreten, um die längste und schwierigste Rezession der Nachkriegszeit zu beenden... und eine neue Grundlage für Wirtschaftswachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit zu legen. Nach einem Jahr ist festzustellen: Der wirtschaftliche Niedergang ist beendet... und das Wirtschaftswachstum ist wieder in Gang gekommen. Die Bürger blicken mit mehr Optimismus in die Zukunft." (Kohl im "Handelsblatt")

- ganz so, als wäre ausgerechnet der Aufschwung kapitalistischer Geschäftemacherei eine Frage der Bürgermoral und als könnte nichts ihn mehr trüben, solange die Leute nur an ihn glauben. Dabei bräuchten die Wirtschaftspolitiker der Aufschwungsregierung noch nicht einmal Marx studiert zu haben, um zu der Weisheit zu gelangen, daß jedem Auf- ein Abschwung folgt. Sie rechnen sogar selbst damit und hoffen, daß wenigstens ihr nächster Wahltermin in eine Aufschwungphase fällt. Tatsächlich - und den Zusammenhang durchschauen sie wohl wirklich nicht mit ihrem verantwortlichen Sachverstand - sorgt ja ihre eigene Förderung des allgemeinen Geschäftslebens dafür, daß allgemein die Produktion, gewinnträchtig wie sie bis auf weiteres wieder ist, sich freimacht von allen Schranken der nationalen und internationalen Zahlungsfähigkeit. So beschleunigen sie die Expansion des Geschäfts. Um so zielstrebiger läuft dieser Aufschwung wieder an den Grenzen der allgemeinen Zahlungsfähigkeit auf und zieht eine Vernichtung von Reichtum und die Zusammenziehung der allgemeinen Geschäftstätigkeit nach sich. Wenn es so weit ist, dann signalisieren wieder die offiziell ermittelten Konjunkturdaten, daß die Sterne mal wieder schlecht stehen... so daß erneut die Geschäftsbedingungen auf breiter Front verbessert gehören. Kurzum: Die wirtschaftspolitischen Mittel des Aufschwungs garantieren die nächste Krise kein Wunder, daß ihr Einsatz von dem falschen Bewußtsein begleitet ist, nichts geringeres als "die Zukunft" in den Griff eines unverwüstlichen Optimismus zu kriegen.

Für die Förderung eines wirklichen, allgemeinen, "sich selbst tragenden" Aufschwungs sind allerdings - davon geht auch diese Bundesregierung aus - noch so weitgestreute Geldzuwendungen an die Agenturen des produktiven Reichtums längst nicht genug. Nicht bloß die Größe des Reichtums und seine "Risikobereitschaft ": seine Produktivität selbst will gefördert sein. Und daß das nur in dritter Linie eine Sache der staatlichen Forschungs- und Technologieförderung ist, das wissen genau die Wirtschaftspolitiker am besten, die in ihren Sonntagsreden so gern von "schöpferischen Kräften" faseln und die Ausbeutung zu einer längst überholten Angelegenheit des 19. Jahrhunderts erklären. Ihre Empfehlungen, ihre Sorgen und ihre Taten gelten, ebenso wie dem Kapital, gerechterweise auch der Arbeit:

Die Regierung fördert die Lohnarbeit

Mit einer "Förderung" oder auch nur Entlastung der Lohnarbeiter ist das schon deswegen nicht zu verwechseln, weil es so ziemlich genau aufs Gegenteil hinausläuft.

Staatlich gefördert wird die Lohnarbeit erstens durch ihre Verbilligung. Nun ist in unserem freiheitlichen Gemeinwesen die Festlegung der Löhne den Tarif-"Partnern" überantwortet. Damit fällt sie aus der politischen Zuständigkeit der Staatsmacht aber keineswegs heraus, im Gegenteil. Die vielbeschworene Tarifautonomie macht aus dem Lohnstreit zwischen Unternehmern und Gewerkschaften ein politisches Ereignis, d.h. eine Auseinandersetzung, die von Anfang bis Ende nur nach einem Gesichtspunkt beobachtet und öffentlich kontrolliert wird: Sind die Vertreter der Lohnarbeit auch bescheiden genug; wird auch genügend respektiert, daß Lohnarbeit dem Gewinnemachen zu dienen hat; wird der Abhängigkeit der Lohn-"Empfänger" vom Konkurrenzerfolg ihrer Firma auch genügend Rechnung getragen und ihr Lebensunterhalt entschieden genug als problematischer Kostenfaktor behandelt? = Zwar bräuchten die Gewerkschaften sich um diesen höchsten wirtschaftspolitischen Grundsatz - übrigens jeder Bundesregierung - nicht weiter zu künmern: sie sind ja autonom. Tatsächlich läuft es bei den bundesdeutschen Gewerkschaften aber andersherum: Die Autonomie in Lohnfragen wird ihnen - nun schon im 4. Jahrzehnt - so problemlos gewährt, weil sie ihre Lohnverhandlungen wie einen politischen Meinungsstreit führen, als Konkurrenz nämlich um öffentliche Sympathie für das angestrebte Ergebnis - das schon dementsprechend aussieht.

Aus diesem Grund fällt einer BRD-Regierung die wirtschaftspolitische Einflußnahme gegen den Lohn ganz besonders leicht. Sie braucht gar keine Lohndekrete zu erlassen, geschweige denn ihre Macht gegen unbotmäßige Gewerkschaften aufzubieten und sich so unbeliebt zu machen. Aus der - erlogenen, aber gerade von der Gewerkschaft am heftigsten geglaubten und geforderten - Position des "neutralen Schiedsrichters" heraus braucht nur der Wirtschaftsminister mit vielen öffentlichkeitswirksamen Verlautbarungen"tarifpolitische Zurückhaltung" zu empfehlen; der Sozialminister braucht nur oft genug "Nullrunde" und "Vernunft" und "Solidarität" in einem Satz zu sagen; das Bundespresseamt muß nur für die autoritative Verbreitung des richtigen Sachverstands sorgen. Dann steht die verbindliche "Lohnleitlinie" fest - und heißt nur deswegen nicht so, weil sie nicht gesetzlich angeordnet und polizeilich vollstreckt werden muß, sondern die deutsche Einheitsgewerkschaft sich aus eigener wirtschaftsp olitischer Verantwortung danach richtet. Auf diese bequeme Tour hat Kohls Stoltenberg-Lambsdorff-Blüm-Riege die nächsten Tarifrunden unter das wirtschaftspolitische Diktat gestellt: Die Umsatzrendite "unserer" Unternehmen muß steigen; eine "Umverteilung der Einkommen zugunsten der Unternehmensgewinne" ist überfällig. Als "Tarifpartner" für den öffentlichen Dienst setzt der Bundes-Zimmermann mit haushaltsrechtlichen Festlegungen der Dienstbezüge die entsprechenden "Zeichen". Einer bundesdeutschen Gewerkschaft macht das einen tiefen Eindruck, wie er gegen eine Arbeiterschaft, die auf ihren Interessen besteht, nur mit sehr viel Druck - also gar nicht zu erzielen wäre: Der DGB jammert über "tarifpolitische Vorentscheidungen", die ihm "die Hände binden" sollen und "die Tarifautonomie aushöhlen" - und beweist damit seinen tiefen freiwilligen Respekt vor solchen staatlichen Vorgaben. Er nimmt sie ja gleich als Erpressung, gegen die man sich kaum wehren kann, beherzigt also die Regierungs-"Vernunft" und das Beamten-"Beispiel". Härtere Erpressungen - wie im Fall Arbed-Saarstahl - mit der Alternative: gewerkschaftlich zugestandener Lohnverzicht oder regierungsamtlich abgesegnete Betriebsschließung mit anschließendem massenhaftem Arbeitslosen-Elend ergänzen und sichern diese demokratisch-freiheitliche Lohnsenkungspolitik.

Lohn ist ein Verhältnis: Geld für Leistung. Also fördert die Regierung zweitens auch die andere Seite. Zwar führt sie nie über den Kopf der Unternehmer hinweg neue Leistungsnormen ein - darin lassen die sich ohnehin nicht übertreffen. Wohl aber nimmt sie sich die Unternehmerklage zu Herzen, mancher gesetzliche Schutz des Lohnarbeiters, die Arbeitsbedingungen betreffend, habe die freie Entfaltung der entlohnten Leistung durch entsprechend ausgestattete Arbeitsplätze behindert statt gefördert. Also werden unter dem verlogenen Motto "Weniger Staat, weniger Bürokratie!" Vorschriften zum "Schutz der Lohnarbeit" außer Kraft gesetzt; vor allem solche über die Arbeitszeit: ihren täglichen Beginn und ihre Dauer pro Tag, pro Woche, pro Jahr und pro Arbeiterleben. "Flexibilität" heißt die 'politische Zauberformel, nach der Lehrlinge wieder beliebig früh antreten dürfen; individuelle Arbeitszeiten nach betrieblichem Bedarf übers ganze Jahr "gleiten" können; Schichtdienst nach jeder beliebigen Teilungsformel eingeführt werden darf; Zeitarbeitsverträge von jedem noch so wirkungslosen Anspruch des Arbeiters auf Weiterverwendung befreit werden; pro Tag und Woche jede beliebige Stundenzahl angeordnet werden kann; der Kündigungsschutz für Ältere durch eine geordnete Frühverrentung außer Kraft gesetzt wird; usw. usf.

Die gewerkschaftliche Idee, zugunsten vermehrter "Beschäftigung" eine Arbeitszeitverkürzung zu fordern, läßt sich für dieses Regierungsprogramm bestens ausnützen. Alles, was an dieser Idee einer Forderung ähnlich sieht, wird vom Kanzler höchstpersönlich als "volkswirtschaftlicher Unfug" zurückgewiesen. Und das ist nicht die Ankündigung eines Verbots - weil die DGB-Vereine eben keine Gewerkschaften sind, die die darin enthaltenen Klarstellungen über die Prinzipien eines kapitalistischen Gemeinwohls begreifen und zum Anlaß nehmen würden, sich entsprechend zu wehren. Kohl hat es mit politisierenden Clubs zu tun, die mit der Regierung und den Koalitionsparteien um "vernünftigere Problemlösungen" konkurrieren möchten und nach den Maßstäben dieser Konkurrenz natürlich schon durch das Stirnrunzeln der ob ersten S taatsautorität ins Hintertreffen geraten. Was andererseits tatsächlich angestrebt wird mit dem 35-Stunden-"Kampf" der bundesdeutschen Einheitsgewerkschaft: ein Alibi für Lohnsenkungen, weil die "Solidarität mit den Arbeitslosen" ja ihr Opfer verlangt, und neue Freiheiten zur Lohnsenkung - das ist von der "Flexibilität", die die Regierung meint, nicht weit entfernt. Das glaubt doch ohnehin keiner, daß von der "Arbeitszeitverkürzung" groß was anderes übrig bleibt als der angeblich dadurch "induzierte Produktivitätseffekt" - will sagen: die von der Gewerkschaft zugesagte Verdichtung der Arbeit und Erhöhung der Arbeitsleistung - und ein überhaupt nicht "voller Lohnausgleich", also genau das Aufschwungsprogramm der Bundesregierung!

Je entschiedener sinkende Entlohnung bei steigender Produktivität der Arbeit durchgesetzt wird, um so weniger langt das Entgelt für einen sicheren Lebensunterhalt. Schon zum Wohnen reicht's selten ganz; Frau und Kinder reißen allzu große Löcher in den Geldbeutel; für die absehbaren Ausfallzeiten - Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit - ist schon gleich nichts übrig. Von den Löhnen der noch engagierten Arbeiterklasse - mit der "Klassenfrage" hat der Fiskus, hier überhaupt kein Problem! - werden daher satte Prozente staatlicherseits einbehalten. Nach strengen Regeln wird daraus dann ein gewisser Lebensunterhalt für Lohnarbeiter finanziert, die entweder zu der gefragten Leistung nicht (mehr) fähig sind oder deren Leistung nicht (mehr) gefragt ist. Vom Standpunkt des Staatshaushalts betrachtet sind die Beiträge die eine, und zwar gute Sache; die daraus bestrittenen Unkosten der Armut stehen auf einem ganz anderen Blatt, nämlich dem für staatliche Großzügigkeit. Und diese Tugend steht bei jeder Regierung, ob sie nun sozialliberal den Abschwung verhindern oder christlich-liberal den Aufschwung sichern will, in dem Verdacht, in Wahrheit handle es sich um das Laster unfruchtbarer Verschwendungssucht. "Das Soziale" ist daher Thema Nr. 3 einer "Wirtschaftspolitik der Wende":

Die Regierung sorgt für die Armut

Sie schafft sie nicht erst; das ist mit der Einrichtung der Lohnarbeit als Lebensunterhalt der Massen längst passiert. Wer also nicht den Zwang zu lebenslangem Verzicht, also die Armut darin entdeckt, sondern es fraglos selbstverständlich findet, daß Arbeiter - mit ihrem Lebensunterhalt vom Geschäftserfolg ihrer Firma abhängen, ohne an ihm teilzuhaben;

- eine Arbeit brauchen, die sie gar nicht gut aushalten, weil sie sonst nämlich gar nichts zum Leben haben;

- mit den paar "langlebigen Verbrauchsgütern" vom Kühlschrank bis zum Auto, die zum Überleben in einer Mietwohnung nötig sind, als ganz überraschend gut gestellt gelten;

- sparen müssen;

- sich Geld leihen müssen und an den Raten regelmäßig übernehmen,

- im Alter und bei Arbeitslosigkeit mit noch weniger Geld auskommen müssen;

- im Krankheitsfall dritter Klasse liegen und behandelt werden;

dem können die Maßnahmen der Christenregierung nicht so sehr viel Eindruck machen. Wer die Arbeiter hierzulande für im Grunde gut bedient hält und darauf wartet, daß die Armut erst so malerisch wird wie in exotischen Hungergebieten, ehe er sich darüber aufregen mag, der wird es allenfalls ein wenig "unausgewogen" finden, wenn die regierenden Christen, Profis der Nächstenliebe, die sie sind,

- den Rentnern die Renten-"Erhöhung" gleich als Krankenkassenbeitrag wieder abziehen;

- dafür gerechterweise auch vom Krankengeld Rentenbeiträge einbehalten;

- die Krankenkassenleistungen verteuern, verringern und per Rezeptgebühr bremsen;

- an den Zuschüssen an Behinderte und Hinterbliebene herumkürzen;

- von Arbeitslosengeld und -hilfe und vom Kurzarbeitergeld. für Ledige fast ein Zehntel streichen;

also streng nach der fünffachen Kanzlerlüge handeln:

"Sozialleistungen müssen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechen. Staatliche Zuwendungen müssen den wirklich Betroffenen zugute kommen." (Kohl im "Handelsblatt")

Schwindel Nr. 1 ist das "zugute"; Nr. 2 sind die "wirklich Betroffenen" - als gäbe es in der BRD Not, ohne daß der Staat mit seiner Eigentums- und Arbeitsordnung und seinen Aufschwungsprogrammen für "Betroffene" sorgt. Lüge Nr. 3 ist das "müssen" - als würde hierzulande an Elends-Simulanten Geld verschenkt; Nr. 4 ist das mit den "Leistungen" und "Zuwendungen" - als wäre das Geld nicht erst mal von den "Betroffenen" eingesammelt worden, nach staatlich festgelegten Gesichtspunkten der "Klassensolidarität". Und Absurdität Nr. 5 ist das "der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechen" - als wäre diese Republik mit ihrem Aufschwung zu arm, als daß die Arbeiterklasse, einschließlich ihrer ausrangierten Teile, hier über die Runden kommen könnte. Im Sinne dieser Lügen wird gekürzt und gespart, mit lauter Eingriffen, die das System der Armut auf sein (konjunktur-)gerechtes Maß erweitern - für manche der davon Betroffenen bedeutet das immerhin den Übergang vom Sich-einteilen zum Nichtmehr-einteilen-können.

Ein Beitrag zum Aufschwung sind diese "Sparmaßnahmen" nicht so sehr durch die paar hundert Millionen oder Milliarden, die der Regierung damit für wichtigere Sachen zusätzlich zur Verfügung stehen - für die Beseitigung des Risikos am "Risikokapital" zum Beispiel. Umgekehrt: So selbstverständlich geht der Aufschwung des Kapitals allem anderen vor, daß seine "menschlichen" Unkosten eben auch mit der größten Selbstverständlichkeit als Unkosten betrachtet, als ärgerlicher Luxus behandelt, also gesenkt werden - quasi im Sinne der moralischen Pflicht, gesellschaftlicher Verschwendung Einhalt zu gebieten. So geht es auch mit der "Moral wieder aufwärts", und überall bricht der Optimismus aus...

Wenn die Kohl-Regierung sich als ihre wichtigste Sozialleistung für den Aufschwung die "Sanierung der Staatsfinanzen" zugute hält, so sind die Kürzungen am Sozialhaushalt aber nur der eine Posten ihrer Erfolgsbilanz. Noch mehr Wert legt sie auf eine Maßnahme, bei deren Wertschätzung Ideologie und wirklicher Zweck ganz besonders gründlich durcheinandergemischt zu werden pflegen:

Die Regierung macht (ein bißchen weniger) neue Schulden

Das heißt mal als Erstes: Sie macht zusätzliche Schulden - 30 bis 35 Milliarden sind für '84 geplant - und straft damit die Vorstellung Lügen, die niemand anders als sie selbst so gern erweckt, nämlich mit "Haushaltskonsolidierung" wäre ein Abbau des staatlichen Schuldenbestands von inzwischen an die 700 Milliarden Mark gemeint. Die Tatsache, daß der Staat zur Finanzierung der Regierungsvorhaben "an den Geldmarkt geht", kann also nicht das Ärgernis gewesen sein, für dessen Beseitigung die Kohl-Leute sich loben. Ins Reich der hausväterlichen Lügen gehört erst recht das regierungsamtliche Selbstlob, Stoltenberg hätte mit seinen "bloß" 30 Milliarden geplanter Nettoneuverschuldung "die verlorengegangene finanzielle Handlungsfähigkeit wieder zurückgewonnen". Daß einer bundesdeutschen Regierung für ihre Vorhaben das Geld ausgegangen wäre - zu schön, um wahr zu sein! Die angesammelten 700 Milliarden Schulden beweisen das Gegenteil: Dieser Staat war noch immer finanziell so "handlungsfähig", wie er es für nötig befunden hat. Und sie zeigen noch mehr. Offenkundig waren und sind den Wirtschafts- und Finanzpolitikern der Nation - da denken und handeln die Christen gar nicht anders als die Sozis - Schulden des Staates das probate Mittel, um neu beschlossene politische Notwendigkeiten zu bezahlen. So weit geht die Liebe zu einem "konsolidierten Haushalt" und zu einem "Abbau der Staatsverschuldung" keineswegs, daß dafür einfach die Abgabenlast erhöht, geschweige denn an den kostspieligen Machtmitteln der Nation entsprechend gespart würde. Im Gegenteil: Mitten im "Kampf gegen das Haushaltsdefizit" werden gewisse Steuern gesenkt: An die 5 Milliarden Mark erläßt der Finanzminister schon für 1984 den Reichen unter seinen Steuerzahlern durch Abschreibungserleichterungen, höheren Verlustrücktrag, Abstriche von der Gewerbesteuer, Steuererlaß bei Betriebsumwandllung und -aufgabe. Offenbar macht man in Bonn eher Schulden, als vom geschäftlich engagierten Reichtum mehr zu verstaatlichen - fürs steuerliche Schröpfen der Armut, beim Lohnempfang wie beim Einkaufen, gelten solche Sknpel weniger... -: warum?

Der Staat verbindet da die Beschaffung von Finanzmitteln für sich mit der Schonung und Pflege des Privateigentums für die, die viel davon haben. Die 700 Milliarden, die bundesdeutsche Staatsmänner an Krediten in die nationale Staatsmacht gesteckt haben, sind den Inhabern der entsprechenden Schuldbriefe eben nicht genommen, sondem existieren - obwohl vom Staat verausgabt - als ihr Privatvermögen fröhlich weiter. So bewährt sich hier die "marktwirtschaftliche" Errungenschaft, daß Reichtum nicht nach den Gebrauchsgütern zählt, die geschaffen und benutzt werden, sondern nach den in Geld bezifferten Eigentumstiteln, mit denen Geschäfte, mindestens Zinsgeschäfte, gemacht werden.

Diese wundersame Verdoppelung des Reichtums - in staatliche Kaufkraft und zinstragendes Privatvermögen - bleibt natürlich nicht ohne Folgen; daß der Staat diese Sorte Reichtumsschaffung schon allein der wachsenden Zinsansprüche wegen laufend ausdehnt, ist da noch das Geringste. Die Schuldscheine der Staatsmacht, die dem Privateigentum auf so bequeme Weise zu einer geschäftstüchtigen Existenzform verhelfen, weisen auf der einen Seite eine ökonomische Eigentümlichkeit auf, die normale geschäftliche Wechsel und Zahlungsversprechen ansonsten nur im Fall allgemeiner Zahlungsunfähigkeit und Krise auszeichnet: Der Schuldner verfügt gar nicht über die entsprechenden, zum Verkauf bestimmten und auch realisierbaren Werte, die für sein Zahlungs- und Zinsversprechen einstehen. Anders als geplatzte Geschäftswechsel verfallen staatliche Schuldscheine aber nicht, auch wenn kein auf dem Markt realisierbarer Wert sie deckt. Die Bundesbank - auf äußerste geschäftliche Solidität der von ihr honorierten "Papiere" bedacht - stellt die bloße Unterschrift des Finanzministers der sattesten Geschäftsoperation gleich, "verwandelt" also das pure staatliche Machtwort in - "Wert". Genau umgekehrt wie im Krisenfall kapitalistischer Geschäftemacherei reißt von diesen "ungedeckten" Schulden her keine allgemeine Zahlungsunfähigkeit ein, sondern mehren sich Zahlungsfäliigkeit und Geldvermögen über die Gesamtmasse der auf dem Markt umzusetzenden Warenwerte hinaus. Durch alle "Hochs" und "Tiefs" der Konjunktur hindurch beschert so die staatliche Schuldenmacherei der engagierten Geschäftswelt die Freiheit zu Preiserhöhungen. Das Ergebnis heißt Inflation: beständige Entwertung des Geldes, an dessen Vermehrung in den richtigen Händen dem Staat merkwürdigerweise so viel liegt.

Ein Ärgernis ist das insoweit weder für den Haushalt des christlich regierten Gemeinwesens noch für den so innig herbeigewünschten Aufschwung. Die Staatsgewalt hat in der Kreditschöpfung, durch die sie die Inflation hervorbringt, bereits das Mittel in der Hand, um mit der Teuerung ihrer lebensnotwendigen Bedarfsartikel (Panzer, Polizisten, Professoren...) fertigzuwerden. Und die Macher des Marktgeschehens machen ja überhaupt erst durch ihre freie Preisgestaltung aus der zuschüssigen Zahlungsfähigkeit einen "inflationären Prozeß", nämlich lauter Preiserhöhungen. Wer sein Geld "arbeiten läßt", braucht seine Kalkulationen nur um die mutmaßliche Inflationsrate als zusätzliche Spekulationsgröße zu erweitern, sonst nichts. Angeschmiert ist, wer sein Geld nur zum Lebensunterhalt mißbraucht; denn der muß mit der tatsächlich stattfindenden Verteuerung seines Daseins durch mehr Verzicht zurechtkommen - und wird, so wie es in der BRD geregelt ist, einmal im Jahr in volkswirtschaftlich hochgelehrten "Tarifrunden" sogar um einen wenigstens vorübergehend wirksamen "Inflationsausgleich" betrogen. Eben diese Bequemlichkeit der schleichenden Lohnsenkung stärkt aber Verdienst und "Eigenkapitalquote" der Unternehmen, nützt also dem Aufschwung und kann eine "marktkonforme" Wirtschaftspolitik nicht wirklich ärgern.

Weshalb also Stoltenbergs Staatsschuldenbekämpfungsprogramm? Ist es pure Ideologie? In der Tat ist es ja so ganz wörtlich nicht gemeint: Als sein Erfolg wird gefeiert, daß der Anstieg der Netto-Neuverschuldung gebremst wurde. Handelt es sich also überhaupt bloß um eine Phrase, oder um einen altväterlichen Moralismus, wie ein Fachmann vom "Spiegel" herausgefunden haben will?

Ein Gesichtspunkt verlangt tatsächlich, mit dem Ideal einer "wohldosierten" Staatsverschuldung ein bißchen emst zu machen - auch wenn keiner der sachverständigen Medizinmänner des "gesamtwirtschaftlichen Kreislaufs" die zuträgliche Dosis anzugeben wüßte:

Die Regierung achtet auf den nationalen Konkurrenzerfolg gegen den Rest der Welt

Neben allen Leistungen und Erfolgen einer nationalen Geschäftswelt in der internationalen Konkurrenz wirkt auch die nationale Inflationsrate mit auf den Außenwert des nationalen Geldes; dessen Änderung wiederum setzt diesem internationalen Konkurrenzkampf jeweils neue Bedingungen. Und zwar insgesamt ziemlich eindeutige. Manchen Exporteur mag es da freuen, wenn der Kurswert des eigenen nationalen Geldes sinkt; denn das schafft Freiheiten, die ausländische Konkurrenz zu unterbieten. Die Praktiker des Auslandsgeschäfts wissen aus Erfahrung aber ganz gut, warum sie eine sich schneller entwertende Währung "schwach", eine Währung mit steigendem Außenkurs "stark" nennen. In der Konkurrenz der nationalen Geschäftswelten geht es nämlich um die Größe und die davon abhängige Wucht des national uniformierten Reichtums: des auf Beträge einer bestimmten Währung bezifferten und darin existierenden Eigentums, das sich da verwertet. Dessen weltweit geforderte Brauchbarkeit leidet durchaus darunter, wenn ein Sinken des nationalen Wechselkurses seinen Erfolg dadurch im Weltmaßstab schmälert, daß sich sein Wertmaßstab im Vergleich zu anderen Währungen verkleinert. Sogar die Früchte eines Aufschwungs nehmen sich dann unter Umständen recht matt aus; trotz gelungener Ausbeutung und lohnendem Verkauf, ja sogar trotz Wachstum - gemessen in nationalen Geldbeträgen - mag da ein Kapital am Ende international schlechter dastehen als seine ausländische Konkurrenz, bloß weil der Wertverfall der Währung, in der es haust, die Maßstäbe verschoben hat. Alle Wirtschaftspolitiker der Freien Welt kennen die Gefahr, daß so die Bedienung von Auslandsverbindlichkeiten immer teurer und schließlich unerschwinglich werden kann; daß der erleichterte Export immer mehr auf eine Verschleuderung der Früchte des nationalen Fleißes hinausläuft, weil er den produktiv engagierten Reichtum gar nicht wirklich mehrt. An den nächstschwächeren Konkurrenten bereits beobachten sie die Folgen: Wer unter dem Regiment einer "schwachen" Währung seine Geschäfte macht, sucht deren Erfolg durch schleunige "Flucht" in "härtere" Devisen zu retten; das beschleunigt den Verfall der "angeschlagenen" Währung und macht sie als Geschäftsmittel immer untauglicher. Schließlich wird die verantwortliche Regierung selbst mit dem Geldsegen, den sie sich erschlossen hat, nicht mehr glücklich: Bei jedem Kauf, der irgendwie übers Ausland läuft, steht sie mit all ihrer Geldhoheit recht bescheiden da. In ihrer Konkurrenz bestreiten die Nationen einander ihre Zahlungsfähigkeit, die sie sich durch Verschuldung verschaffen. Ein ganzer kapitalistischer Geschäftszweig übt diese "Kritik" professionell und rund um die Uhr aus: Devisenhändler und Geldbörsenmakler "ermitteln" bzw. erzeugen durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage das maßgebliche "Urteil" über eine Währung - und damit auch über die Erfolgsaussichten der in der jeweiligen nationalen Uniform antretenden Geschäftemacherei sowie über die Kaufkraft der darüber gebietenden Staatsautorität.

Nun ist von allen konkurrierenden kapitalistischen Nationen die BRD noch mit am wenigsten über den Außenwert ihrer D-Mark je in Verlegenheit geraten. Sehr erfolgreich haben alle bundesdeutschen Regierungen den Geschäftskriterien des Weltmarkts hierzulande Geltung verschafft; aus der Nötigung durch den Schöpfer des Nachkriegs-Weltmarkts, die USA, haben sie nationale Geschäftstugenden gemacht. Mit diesem Erfolg im Rücken haben sie sehr selbstbewußt mit dafür gesorgt, daß alle anderen Staaten die "Gesichtspunkte" des ! Privateigentums und seiner international freizügigen Vermehrung bei sich ebenso rücksichtslos in Kraft setzten. So haben die Regierungen der BRD einige weltwirtschaftliche "Ordnungs"prinzipien mit durchsetzen helfen: Sozialprogramme, für die ein Staat Reichtum verpulvert, verraten politische Schwächlichkeit; Rüstungsprogramme zeugen von Überheblichkeit, wenn ihre Finanzierung die Geschäftstüchtigkeit des nationalen Reichtums mindert; überhaupt hat jede Nation ökonomisch Schaden zu nehmen, deren Regierung die "Sachgesetze" der Konkurrenz zugunsten ihres Nationalreichtums abzuwandeln oder gar nicht zu beherzigen gedenkt. Und auch für die Staatsverschuldung ergibt sich da - zwar weder Betrag noch Quote, wohl aber - ein allgemeiner Grundsatz: Selbst ein Staat muß sich Schulden leisten können! Um wieviel Ecken herum auch immer: "irgendwie" beeinträchtigen sie nämlich eben doch die internationale Konkurrenzposition einer Währung und ihres Mutterlandes; also dürfen sie nicht zu hoch sein - auch wenn kein Mensch anzugeben vermag, wann eine Staatsschuld zu hoch wäre. (Für die BRD wären noch vor fünf Jahren 700 Milliarden sicher jedem Fachmann als endgültig viel zu hoch erschienen...) Aus demselben Grund dürfen Schulden natürlich um so höher sein, je höherklassig die Position einer Nation und - im Börsenvergleich ihrer Währung. Im Extremfall der USA werden dann sogar die größten Haushaltsdefizite in der Staatengeschichte zu Mitteln des Zugriffs auf den Reichtum der ganzen Welt - doch das gehört zu einer noch feineren Sorte Aufschwung als der bundesdeutschen. Die Männer in Bonn finanzieren die wachsende Macht ihrer Republik - mit Schulden und "bekämpfen die Inflation", d.h. setzen die Staatsmacht nach innen und außen dafür ein, daß alle Härten der Konkurrenz zum Zuge kommen und so andere Nationen infolge ihrer Inflationsraten an der Größe und Wirksamkeit ihres Reichtums den größeren Schaden leiden.

Tatsächlich haben die bundesdeutschen Regierungen es zusammen mit ihren geschäftstüchtigen Kapitalisten auch immer wieder dahin gebracht, die zahlungsfähige Nachfrage aus aller Welt auf ihre nationale Wirtschaft zu ziehen und deren Reichtum durch eine "harte" D-Mark für den Zugriff auf den Reichtum fremder Staaten immer tauglicher zu machen. So finanzieren auch jetzt wieder EG-Partner und "3. Welt", Ostblock und "Schwellenländer" den bundesdeutschen Aufschwung mit, während das deutsche Kapital krisenhafte Entwertung infolge Zahlungsunfähigkeit ebenso wie die inflationären Folgen der Staatsverschuldung recht erfolgreich auf konkurrierende Nationen und deren Zahlungsmittel abwälzt: ein Widerspruch, den die fremden Regierungen zu allererst ihre Untertanen ausbaden lassen.

"Kampf der Staatsverschuldung": Das ist also der ideologische Titel wie auch der imperialistische Gesichtspunkt, unter dem die aufgeklärte Christenregierung in Bonn, verbindlich für ihr Volk und für andere Staaten gleich mit, über wichtig und unwichtig befindet. Lächerlich, da noch an Arbeiterinteressen denken, sie einklagen, ja womöglich sie durchsetzen zu wollen. Von so hoch droben aus betrachtet, nimmt der "kleine Mann" sich wirklich absolut winzig aus. Wichtig ist er als Menschenmaterial des Aufschwungs und nur so. Zu dieser Würde verhilft ihm dieselbe Staatsgewalt, deren Machtwort Schulden in Reichtum verwandelt und die einen Aufschwung braucht, damit sie mit diesem Machterweis im Vergleich der Nationen erfolgreich dasteht - also genügend Aufschwung nimmt, um ihren Aufschwung zu machen.

So geht das also:

"Den Nutzen des deutschen Volkes mehren und Schaden von ihm abwenden..."