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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1984 erschienen.

Systematik

KVAE in Stockholm
OB NOCH WAS GEHT?

"George Shultz kam zuerst, lächelnd, händeschüttelnd, von Fotografen umringt, wie es einem amerikanischen Außenminister gebührt. Andrej Gromyko betrat den Saal erst, als sein schwedischer Kollege Lennart Bodstroem vom Präsidentenstuhl aus die Delegierten schon gebeten hatte, ihre Plätze einzunehmen. Da wäre es bereits unhöflich gewesen, wäre Gromyko in die erste Reihe vormarschiert, um Shultz einen guten Tag zu wünschen. Gromyko setzte sich. So ging die erste Chance für die Kontaktaufnahme zwischen den Supermächten auf der Stockholmer 'Konferenz für Vertrauensbildung und Abrüstung' (KVAE) ungenützt vorbei, und die, die sehnsüchtig auf ein Zeichen warten, daß hier das Tauwetter zwischen Ost und West einsetzen möge, müssen weiter warten."

Diese Zeilen stammen nicht aus einem Satire-Magazin, sondern sind die Einleitung eines ernsten Berichts auf Seite 3 einer angesehenen westdeutschen Zeitung. Und so bescheuert das Bild ist, mit dem hier diplomatische Beziehungen zwischen zwei verfeindeten Großmächten veranschaulicht werden: Worum es auf der Konferenz in Stockholm geht, ist auch dieser saublöden 'Beobachtung' zu entnehmen. Was auf der "Konferenz für Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa" stattfinden soll, ist ein Tribunal über die Verhandlungs(un)würdigkeit der Sowjetunion.

Vertrauensbildung zwischen Feinden

Eine eigenartige Konferenz, auf der sich die beiden gegnerischen Bündnisse - zusammen mit allen neutralen Zwischenstaaten treffen, um mindestens die nächsten drei Jahre darüber zu konferieren, ob sie noch miteinander konferieren wollen und können. Aber für verfeindete Staaten und angesichts der rasanten Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes in den letzten Jahren gar nicht unlogisch. Die Entspannungsphase, in der die USA mit der Sowjetunion verhandelten, wenn auch nur über die Kalkulierbarkeit der gegnerischen Waffen und Strategie, die Sowjetunion damit aber immerhin als formell gleichrangige Macht anerkannte - dieses feindliche Zwischenspiel wurde vom Westen beendet. Die NATO hat ihrem Feind neue atomare Mittelstreckenraketen in Europa vor die Nase gesetzt und ihre Ideologie Lügen gestraft, in Genf könne die "Nachrüstung" eventuell überflüssig gemacht werden. Die Sowjetunion hat sich daraufhin von allen "Abrüstungs"-Gesprächen auf allen Ebenen zurückgezogen. Der Westen hat also eine klassische Vorkriegszeit bewerkstelligt, in der noch, aber eben nur noch, die Drohung mit den Waffen das Wort hat. In so einem Zustand der Auseinandersetzung taucht dann logischerweise von der Seite, die den Druck verstärkt, die Forderung auf, der Gegner solle durch anhaltende Verhandlungsbereitschaft politisch ausrechenbar bleiben. Diese Forderung kommt daher als zur internationalen Institution gewordener Konferenzwille des Westens, an den sich die östliche Seite zu messen hat. Auf dieser Grundlage gibt es dazu im westlichen Lager zwei Positionen - verteilt auf die Staaten und auf die Politiker in den Staaten -, die sich mit der "Hoffnung" auf neu aufkommende Gespräche und der Warnung vor "allzugroßen Erwartungen" die Hand reichen. Da verkaufen dann Realisten der politischen Strategie der "Hoffnung" solche Sachen als Erfolg:

"Die UdSSR hätte aus Stockholm wegbleiben können wie aus Genf und Wien." Da gilt die Tatsache der Konferenz schon als "Tauwetter": "Daß 'Stockholm' überhaupt stattfindet, zeigt, daß der Frost nicht ewig währen muß." Was wird denn aber dann dort verhandelt?

Mißtrauenbildende Maßnahmen

Gestern hieß die Zusammenkunft derselben Staaten noch KSZE "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Jetzt sind drei Jahre "Vertrauensbildung" auf die Tagesordnung gesetzt, weil an A wie Abrüstung sowieso niemand mehr ernsthaft glaubt. Die westlichen Manager der KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid haben gewußt, weshalb sie den Beschluß "Stockholm" mit der Hauptüberschrift "Vertrauensbildung" versahen. Nämlich nicht einfach deshalb, weil sie meinten, sonst ginge sowieso nichts mehr. Mister Offensivo Imperialismo war selbstverständlich auch mit von der Partie.

Was auf keinen Fall in Stockholm verhandelt werden sollte, wurde schon in Madrid ausbaldowert: die Raketen sowieso nicht, ein besonderer Gewaltverzichtsvertrag aber auch nicht. "Nichtangriffspakte und Erklärungen über ein Einfrieren von gar nicht bekannten" (die drüben haben nämlich keine freie Presse) "Militärhaushalten"; "atomwaffenfreie Zonen" - no! Solche nur dem Interesse und der Propaganda der Sowjetunion nützenden Ansinnen kommen in Stockholm nicht in Frage, beschlossen die westlichen Verbündeten schon in Madrid. Und allgemeine "Gewaltverzichtsabkommen" würden die Russen ja auch nur an ihre große Glocke hängen.

Nein, da können nur vertrauensbildende Maßnahmen weiterhelfen. Die sind von unterschiedlichem Kaliber.

Kaliber 1:

"Amerikas Abschreckungsmacht ist glaubhafter geworden, und dies hat die Welt sicherer gemacht. Sie ist sicherer deshalb, weil heute weniger Gefahr besteht, daß die sowjetische Führung unsere Stärke unterschätzt oder unsere Entschlossenheit in Frage stellt. ... Die Vereinigten Staaten sind 1984 in der stärksten Position seit Jahren,... um zur Sowjetunion eine konstruktive und realistische Arbeitsbeziehung herzustellen.... Wir werden auf halbem Wege entgegenkommen, wenn Moskau Bereitschaft zu Verhandlungen in gutem Glauben zeigt..." (Reagan, just vor Beginn der KVAE)

Kaliber 2:

"Shultz unterstrich, daß die USA die Legitimität der Teilung Europas nicht anerkennen und die Mauer ablehnen, die Deutschland herzlos in zwei Teile spalte. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, daß diese Frage wieder auf einer internationalen Konferenz (KVAE!) angesprochen wurde. Diese Barriere sei nicht vom Westen errichtet worden, sie werde auch nicht vom Westen aufrechterhalten. Und es sei nicht der Westen, der seine Bürger an der freien Bewegung hindere oder sie von konkurrierenden Gedanken abschneide. Der Grundton" (daschauher!) "der Rede von Shultz war jedoch versöhnlicher als seit langem und darauf gerichtet, der Sowjetunion die Aufrichtigkeit der amerikanischen Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit deutlich zu machen. Die USA suchten keine Überlegenheit." (Süddeutsche Zeitung)

Kaliber 3:

Ein "Sechs-Punkte-Plan zur Verminderung des Kriegsrisikos in Europa": Informationsaustausch über die zwischen dem Atlantik und dem Ural stationierten Militäreinheiten; erweiterte Vorabinformation über geplante Manöver und Truppenbewegungen; verbesserte Kontaktaufnahmen zwischen den Ländern in Krisenfällen; Vorabinformation über Manöver und Truppenbewegungen aller, auch der kleinsten Größenordnung; Zulassung von Beobachtern zu allen "angekündigten" Militärübungen; Maßnahmen zur Nachprüfung und Überwachung...

Das letzte Dings heißt im Westen "verification". Ein treffendes angelsächsisches Fremdwort. Man sollte nämlich merken, daß Kaliber 1 kein Verhandlungsangebot ist, Kaliber 2 auch nicht und Kaliber 3 ebenfalls nicht, weil klassische Gegenstände der Spionage nicht auf diplomatischem Wege mitgeteilt werden müssen. Es sei denn, man macht daraus einen Erpressungsgrund, nämlich die unverschämte Forderung, der Gegner hätte gefälligst alle seine militärstrategischen Planungen dem Feind vorab mitzuteilen, weil sonst das westliche Wohlwollen gefährdet wäre.

Jetzt hört man doch tatsächlich aus Stockholm, daß im Gegensatz zu den westlichen Matadoren, die alle nur ihre "Aufrichtigkeit" zur Entschärfung der Lage "verdeutlichen" 'wollen, der sowjetische Außenminister Gromyko auf dieser Vertrauens-Bildungs-Konferenz völlig unerwartet "Schärfe und Polemik" in die Debatte eingebracht hat. "Äußerst verletzend" hat dieser Apparatschik die NATO-"Nachrüstung" nicht akzeptieren wollen, Libanon, Grenada und Nicaragua erwähnt und den USA ein "Denken in Begriffen des Krieges" vorgeworfen. Wie man hört, soll Außenminister Shultz zusammengezuckt sein. Wir glauben ziemlich sicher, daß es sich bei dieser letzten Meldung um eine Ente händelt. Der Shultz kann doch mit seinen vertrauensbildenden "Angeboten" nicht damit gerechnet haben, daß der Gromyko ihn daraufhin auf beide Backen küßt. Selbst Kapitulationen laufen so nicht ab!

4 Fragen zum besseren Verständnis des Bildes:

Warum sitzt der Shultz noch nicht auf seinem Stuhl, obwohl er doch in Stockholm schon mit seinem Gegenüber an einem Tisch geredet hat?

Warum sitzt der Gromyko so bequem auf seinem Stuhl? (Im Vertrauen: Der hat die Raketen einfach in die eigene Tasche gesteckt. Die eine sieht man, die anderen vier hat er nicht ohne Grund in der rechten Jackentasche versteckt, weil man sie da nicht sieht.)

Warum steht die Gießkanne unter dem Tisch und nicht unter dem Stuhl?

Warum heißt der Autor dieses Gemäldes 'Ironimus'?