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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1984 erschienen.

Systematik

George Orwell 1984
AUS LIEBE ZU VATER STAAT: ANGST VOR DEM GROSSEN BRUDER

Orwells Roman '1984' wird durchgängig dafür gerühmt, "das erschreckende Zukunftsbild einer durch und durch totalitären Gesellschaft, die bis ins letzte Detail durchorganisierte Tyrannei einer absolut autoritären Staatsmacht" (1984, Ullstein-Ausgabe, Klappentext) in "atemberaubender Unerbittlichkeit" gezeichnet zu haben. Gegenwärtig werden die Denker der Öffentlichkeit in Feuilleton und Femsehen - von Berufs wegen für kundiges und sensibles Erschrecken vor literarischen Visionen bezahlt - durch die aktuelle Jahreszahl zu einem ungemein interessanten Vergleich inspiriert: Läßt sich aus "unserer" Demokratie heute dasselbe herausdenken wie aus jenem Bild von Herrschaft, das der Roman Orwells vor über 30 Jabren entworfen hat?

Sind "unsere" Demokratie und "unser" Staat so schlimm geworden, wie die "düstere" Horrorvision vom "Großen Bruder" es ihr prophezeit hat? Wie nicht anders zu erwarten, streicht in allen Antworten die Demokratie einen Punktsieg ein; "Nein, Gott sei Dank nicht!" Die Demokratie hat es, zumindest bis heute, geschafft, nicht so zu werden wie der Moloch Staat in '1984'! Bloß - war ausgerechnet das jemals eine Versuchung für sie? Was ist denn überhaupt dran am Orwells "Vision", daß man viel lieber vor ihr als vor den wirklichen Taten der wirklichen Herrschaft erschrickt und mit letzteren in gleichem Maße zufrieden ist, wenn erstere nur "Vision" bleibt? Dankenswerterweise hat Orwell es, wie jeder schlechte Romamautor, nicht bei allegorischer Darstellung seiner Botschaft bewenden lassen, sondern diese auch noch ganz platt hingeschrieben.

Die Staatenwelt im Roman '1984': Ewiger Krieg zur Sicherung des Friedens im Innern

In '1984' ist die Welt zwischen "Eurasien", "Ozeanien" und "Ostasien" aufgeteilt. Die Ausnahme bildet

"ein annähernd viereckiges Gebiet, dessen Ecken von Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong gebildet werden und das etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Erde enthält" (172)

Die Weltgeschichte im Roman besteht aus dem Kampf der "drei Supermächte" um diesen Fleck:

"Um den Besitz dieser dichtbevölkerten Landstriche (...) geht der dauernde Kampf der drei Mächte. In der Praxis beherrscht keine der Mächte jemals das gesamte strittige Gebiet. Teile davon wechseln dauernd den Besitzer, und die durch einen plötzlichen verräterischen Einfall geglückte Inbesitznahme dieses oder jenes Gebietsteiles bestimmt den endlosen Wandel der Mächtegruppierung." (ibid)

Indes ist diese Fiktion in keiner Weise mit - noch so verkehrten - Kriegsszenarios zu verwechseln, in denen man sich für gewöhnlich imperialistische Kriegskalkulationen und -strategien vorstellig macht. Orwells Staaten haben erstens kein irgendwie beschaffenes Interesse am Besitz der - Region, um die sie Krieg führen:

"Es gibt in materieller Hinsicht nichts mehr, um das man kämpfen könnte." (171).

Zweitens existieren zwischen ihnen keine wie auch immer beschaffenen Gegensätzlichkeiten der Interessen, die von jeder "autarken" Macht verfolgt und gegen die Rest-Mächte geltend gemacht werden:

"Die Lebensbedingungen sind in allen drei Superstaaten fast genau die gleichen. ... In Wirklichkeit sind die drei Lebensanschauungen kaum voneinander unterscheidbar, und die gesellschaftlichen Einrichtungen, zu deren Stütze sie dienen, unterscheiden sich überhaupt in keiner Weise." (181)

Drittens schließlich haben die beteiligten Mächte, die voneinander und deshalb auch gegeneinander nichts wollen, über den Krieg, den sie um einen Landstrich führen, von dem sie auch nichts wollen, die aparte Anschauung, er sei eine ohnehin vergebliche Anstrengung:

"Keiner der drei Superstaaten könnte, sogar unter Zusammenschluß der beiden anderen, endgültig unterworfen werden. Sie sind zu gleichmäßig stark..." (171)

- so daß sie den Krieg erst recht gar nicht gewinnen wollen:

"Daraus folgt, daß die drei Superstaaten nicht nur einander nicht überwinden können, sondern auch keinen Vorteil davon hätten. Im Gegenteil, solange sie in gespanntem Verhältnis zueinander stehen, stützen sie sich gegenseitig wie drei anein andergelehnte Getreidegarben... Ihr Leben ist der Welteroberung gewidmet, sie wissen aber auch, daß es notwendig ist, daß der Krieg ewig und ohne Endsieg fortdauert." (181)

Jeder "Superstaat" tut also nur so, als hätte er in seinem Antipoden seinen feststehenden Feind, führt Krieg als "Dauerzustand" und "Scheingefecht" (183), also ohne respektablen Sinn und Zweck - allein deshalb, weil jedem Staat in seinem eigenen Volk der wahre und immer zu bekämpfende Feind entgegensteht:

"In der Vergangenheit kämpften die herrschenden Gruppen aller Länder... eine gegen die andere, und immer brandschatzte der Sieger den Besiegten. Heutzutage kämpfen sie überhaupt nicht gegeneinander. Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Anhänger geführt, und das Kriegsziel ist nicht, Gebietseroberungen zu machen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zu halten.... Der Krieg ist eine rein innenpolitische Angelegenheit." (183)

"Lediglich ein Schwindel" (ibid) ist dieser Krieg, den sich die Staaten als Dauereinrichtung halten, weil sie sich genau so gegenseitig in Ruhe lassen -

"Ein wirklich dauerhafter Friede wäre das Gleiche wie dauerhafter Krieg" (184) -

und sich um so besser dem Feind m Innern widmen können. Einen anderen kennen sie nicht.

Die Staatsgewalt im Innern: Gewalt zur Sicherung von Ungleichheit

Die Gesellschaft in '1984' unterscheidet sich zunächst in nichts von jeder anderen vor ihr:

"Seit dem Ende des Steinzeitalters gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht.... Das Ziel der Oberen ist, sich da zu behaupten, wo sie sind. Das der Mittelklasse, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das der Unteren... besteht darin, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der alle Menschen gleich sind." (185)

Eine historische Glanztat im Umgang mit diesem anthropologischen Oben und Unten hat sie indes schon vorzuweisen: Die "gegenwärtigen Machthaber" (191) vermögen sich auf Dauer dort zu behaupten, wo Oben ist:

"Im Vergleich mit der heute herrschenden waren alle Tyranneien der Vergangenheit lau und unwirksam.... Ein teilweiser Grund hierfür war, daß in der Vergangenheit keine Regierung die Macht besaß, ihre Bürger unter dauernder Überwachung zu halten." Dagegen heute: "Jeder Bürger oder wenigstens jeder Bürger, der wichtig genug war, um einer Überwachung für wert befunden zu werden, konnte 24 Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Getrommel der amtlichen Propaganda ausgesetzt gehalten werden, während ihm alle anderen Verbindungswege verschlossen blieben. Jetzt, zum erstenmal, bestand die Möglichkeit, allen Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen." (190)

Wie schon im Krieg der Alteaativ-Staaten keine positive politisch-materielle Zwecksetzung ausfindig zu machen war und der Krieg in eine "rein innenpolitische" Machenschaft aufgelöst wurde, so kennt auch Orwells Staatenwelt im Innern keinen positiven Inhalt des staatlichen Willens. Wohl produzieren auch in '1984' die Massen (= Unteren, 'Proles') Reichtum in Fabriken, doch ist der Staat (= Oberen) an diesem rein negativ interessiert: Weder zieht er ihn an sich und verwendet ihn für seine Zwecke - er hat ja keine! - noch beaufsichtigt er das süße kapitalistische Prinzip der Vermehrung von Armut und Reichtum - dem Staat in '1984' ist produzierter Reichtum schlicht u viel:

"Denn sobald alle gleichermaßen Muße und Sicherheit genössen, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch Armut abgestumpft war, sich herausbilden und selbständig denken lernen. Und war es erst einmal so weit, so würden sie früher oder später dahinterkommen, daß die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und würden sie beseitigen." (174 f.)

Zur dauerhaften Erhaltung jener Hierarchie von oben und unten etabliert der Staat Volksverarmung, indem er den Reichtum via Krieg seiner planmäßigen und kontrollierten Vernichtung zuführt, und entsprechend diesem seinem Zweck einer Unterdrückung pur gestaltet sich das Verhältnis von Staatsmacht zu Bevölkerung höchst ideell: Die Macht nimmt ihr Menschenmaterial ausschließlich als potentielles gedankliches Hindernis für das Gelingen ihrer durch kein praktisches Interesse begründeten Unterdrückungsabsicht in Augenschein, "kontrolliert" das Denken der Oberen, "formt" das der Mittleren in gewünschter Weise und läßt die Unteren dumm, wie sie sind ("Man darf ihnen getrost geistige Freiheit einräumen, denn sie haben keinen Geist." ( 194)). So realisiert sich in '1984' die nicht durch ein praktisches Interesse begründete, sondem allein von dem leeren Willen zu ihrer eigenen Ausübung als gelungene Unterdrückung getriebene Staats-Macht vorzüglich als "Gedankenpolizei": Während noch jeder wirkliche Diktator genau weiß, daß er sich mit seiner praktischen Gewalt seine Untertanen bisweilen zum Feind macht und folglich in jeder bloß versagten Akklamation den Verrat an seinem Ideal niemals in Frage gestellter Gewalt wittert, den er dann präventiv ausmerzt, geht die praktische Staatsgewalt in '1984' ganz in der Herstellung dieses Herrschaftsideals auf. In Orwells Staat lebt der Geist

"von Geburt bis zum Tode unter den Augen der Gedankenpolizei. Sogar wenn er allein ist. Wo er auch sein mag... kann er ohne Warnung und ohne zu wissen, daß er beobachtet wird, beobachtet werden. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Benehmen gegen seine Frau und seine Kinder, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die von ihm im Schlaf gemurmelten Worte, sogar die ihm eigentümlichen Bewegungen seines Körpers, alles wird einer peinlich genauen Prüfung unterzogen. Nicht nur jedes wirkliche Vergehen, sondern jede Schrullenhaftigkeit... jede nervöse Absonderlichkeit, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes ist, können unweigerlich entdeckt werden. Er hat keine freie Wahl in keiner wie immer gearteten Hinsicht. Andererseits ist sein Verhalten weder gesetzlich noch durch klar formulierte Verhaltensvorschriften geregelt. In Ozeanien gibt es kein Gesetz." (194)

Kann es und braucht es gar nicht geben, denn das Ideal absoluter Linientreue im Geiste ist ja das praktische Lebenselixier des Staats von Orwells Großem Bruder und auf die im Tun praktizierte Gefolgschaft kommt es da so wenig an, daß die 'Linie' getrost verschwiegen werden kann, auf deren Treue hin man beständiger Kontrolle unterzogen wird.

Der Zweck der Gewalt: Genuß an Vergewaltigung

Entsprechend dem Staatsprogramm 'Unterdrückung pur' sind die Machthaber in Orwells '1984' Figuren, denen auf die Frage nach dem Grund und Zweck ihrer Herrschaft einzig das Argument ihres Vollzugs um ihrer selbst willen einfällt: "Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen." So weit, so schön, jedoch:

"Uns interessiert allein die Macht als solche. Nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Glück: Nur Macht, reine Macht.... Die deutschen Nazis und die russischen Kommunisten kamen in ihren Methoden sehr nahe an uns heran, aber sie besaßen nie den Mut, ihre eigenen Beweggründe zuzugeben. ... Wir sind nicht so. Wir wissen, daß nie jemand die Macht ergreift in der Absicht, sie wieder abzutreten. Die Macht ist kein Mittel, sondern Endzweck. Eine Diktatur wird nicht eingesetzt, um eine Revolution zu sichern: sondern man macht eine Revolution, um eine Diktatur einzusetzen. Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht." (242)

Das oben aufgeworfene Rätsel um das Warum einer Gehorsamspflicht, auf die es weder wegen irgendwelcher hoher Inhalte der Pflicht noch wegen irgendwelcher brauchbarer Leistungen des fügsamen Dienens, aber in jeder Hinsicht absolut ankommen soll, findet hierin seine würdige Lösung: Macht um der Ausübung ihrer selbst willen, ein ganz ohne jeden Zweck und Inhalt gedachter und grundlos praktizierter Wille, einem fremden Willen Gewalt anzutun - in dieser Fiktion eines Triebs zu willkürlicher Anwendung von Gewalt, der im Aussuchen bewußt willkürlicher Instrumente und Methoden der Gewaltanwendung und in der genußvollen Betrachtung der furchtbaren Ergebnisse, die die Gewalt zeitigt, seine Befriedigung findet, in dem Zweck reiner Böswilligkeit und Niedertracht also faßt sich das Prinzip der Ausübung politischer Macht in '1984' zusammen. Und da anders denn als vorgestellter Genuß an der eigenen niederen Gesinnung und am eigenen Willen zur Gemeinheit die Entlarvung eines üblen Charakters von Macht nicht zu haben ist, die von den jeweiligen politischen Zwecken ihrer Ausübung nichts wissen will, steht letztendlich die Perversion und das Bekenntnis der Machthaber zur eigenen menschlichen Unmoral Bürge für die Angst der Untertanen vor dem Großen Bruder:

"Die Macht besteht darin, Schmerz und Demütigungen zufügen zu können. Macht heißt, einen menschlichen Geist in Stücke zu reißen und ihn nach eigenem Gutdünken wieder in neuer Form zusammenzusetzen. ... Immer... wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wächst und immer raffinierter wird. Dauernd, in jedem Augenblick, wird es den aufregenden Kitzel des Sieges geben, das Gefühl, auf einem wehrlosen Feind herumzutrampeln... ein nicht endender Kitzel des Machtnervs." (245 ff.)

Der große Bruder: Ängste eines "mündigen Bürgers"

Orwells ungenießbarer Mist ist populär. Er bietet Bilder für falsche Kritik. Die in jeder Tageszeitung nachzulesenden Zwecke demokratischer Politik kommen bei ihm überhaupt nicht vor - im Gegenteil: Das Bild eines Staatswesens wird, ins Groteske übersteigert, ausgemalt, dessen Herrschaftsapparat keinen kapitalistischen bzw. imperialistischen Zweck verfolgt. Der Kritik des Autors verfällt das düstere Phantasiegebilde einer völlig selbstzweckhaften Knechtung des Gedankens. Sogar sämtliche - gar nicht "visionären"! - Andeutungen über Ausbeutung, Gewalt, staatliche Kontrolle und den tristen Alltag eines Durchschnittsbürgers werden nur herangezogen, um die negative Utopie völliger geistiger Gängelung und Manipulation zu veranschaulichen.

Darin trifft Orwells Machwerk sich voll mit dem demokratischen Ideal des "mündigen Bürgers", der sich alles gefallen läßt - nur vorschreiben lassen will er sich nicht, was er dazu für eine Meinung hat. In seiner Privatsphäre will er vom "Großen Bruder" verschont bleiben: Das verlangt er - von Vater Staat. Erst recht trifft sich Orwells Karikatur einer Welt ohne ungestörtes Privatleben mit der luxuriösen Marotte "kritischer" Intellektueller, die auf nichts so sehr bestehen, wie auf ihrem Menschenrecht, ihr in aller Regel höchst linientreues Denken freiwillig zu ab solvieren, ohne Gängelung und aufdringliche Vorschriften von oben.

So kann die Demokratie 1984 Orwells "düstere Prophezeiung" als nicht eingetretenes Unheil genießen, vor "gefährlichen Tendenzen" warnen, mit ausgestrecktem moralischem Zeigefinger auf den Ostblock zeigen und so das Buch sich als schönste Festschrift zueignen.