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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1984 erschienen.

Systematik

Sowjetunion
WAS WOLLEN DIE RUSSEN IN AFGHANISTAN?

Das weiß jeder: Ein kleines Volk unterdrücken, militärisch kleinkriegen, vielleicht sogar ihrem Reich einverleiben. Fragen könnte man sich allerdings schon, was sie denn davon eigentlich haben, oder anders: Bloß Unterdrücken- und Beherrschen-Wollen, was den Russen immerzu als ihre verabscheuungswürdige Absicht zugeschrieben wird, ist eine merkwürdige Erklärung. Merkwürdig, weil ohn e irgendeinen nachvollziehbaren Zweck oder Nutzen. Daß in der Politik etwas ganz ohne Berechnung, einfach aus schierer Bosheit geschieht, mag zwar ein strammes Feindbild abgeben, besonders einleuchtend ist es aber nicht.

Jede Grenze eine Front gegen die Sowjetunion...

Es ist gar nicht schwer herauszubekommen, was die Russen in Afghanistan wirklich wollen. Jeder weiß, daß es irgendwie um die russische Südgrenze zwischen Iran und Pakistan geht. Was auch jeder weiß, aber sich sicher noch nie richtig klargemacht hat, ist der Umstand, wie die russischen Grenzen ausgestattet sind.

Man versetze sich nur einmal ins andere Lager und stelle sich von Moskau aus die Grenzen vor - ein äußerst beunruhigendes Panorama. Hoch oben im Norden geht es mit NATO-Posten los, die den Zugang zum Atlantik unter Kontrolle haben. Ganz Mitteleuropa ist eine einzige waffenstarrende Grenzlinie, bis hinunter zur Türkei lauter modernstes NATO-Gerät aufgestellt. Dann ein Stück Grenze zum Iran, einem ziemlich unberechenbaren Staatswesen, in dem man Russen als gottlose Teufel zu bezeichnen pflegt und die einheimischen Kommunisten reihenweise umgelegt hat. Dann östlich von Afghanistan die Grenze zu China, von dessen Führern immer wieder russenfeindliche Töne zu hören sind; die auf der anderen Seite mit den NATO-Staaten immer besser ins Geschäft kommen und die Grenze immerhin schon für US-Horchapparate zur Verfügung gestellt haben. Außerdem sind die Chinesen sehr stolz auf ihre selbstgebaute Atombombe und wollen waffentechnisch überhaupt ganz schnell vorankommen. Dann - ein bißchen weiter weg, aber nahe genug - Südkorea, eine US-Militärbastion mit koreanischer Bundeswehr. Und ein Stück Grenze zu Japan, einem Staat, der wie die BRD seine Territorialverluste aus dem 2. Weltkrieg von der Sowjetunion zurückverlangt, der unter dem sympathischen Namen "Selbstverteidigungskräfte" schon über ein zackiges Militär verfügt und von den USA unablässig dazu aufgefordert wird, mehr für die fernöstliche Front zu tun. Wozu der Technologiegigant sicher Beachtliches beisteuern kann, Pershings und Cruise Missiles zur Erledigung der sibirischen Stellungen werden aus den USA geliefert. Und schließlich gibt es noch ein Stück gemeinsamer Grenze mit den USA selbst im Nordpazifik, lauter US-Stützpunkte, ein einziger bis an die sibirische Küste vorgeschobener Überwachungsapparat, U-Boot-Abteilungen, die unentwegt vor der Küste kreuzen, Flugzeugstaffeln 24 Stunden am Tag unterwegs, die immer schon mal probeweise in den sowjetischen Luftraum eindringen - eben die ganzen Späße veranstalten, die man im Nachhinein als den eigentlichen Witz der Jumbo-Affäre erfahren hat. So sehen die Ostblock-Grenzen aus, von Moskau aus betrachtet. Und wenn sowjetische Politiker darauf verweisen, heißt es im Westen herablassend, sie hätten ein Einkreisungstrauma, eine fixe Idee... So reden diejenigen, die die Grenze entsprechend bestückt haben: Eine einzige waffenstarrende Front, besetzt von lauter unfreundlichen bis feindseligen Staaten.

...Dazwischen Afghanistan:...

Karge Berge, eine ziemlich mittelalterlich-muselmanische Bevölkerung, die sich bis vor fünf Jahren mit Stammesfehden, Blutrache und Nomadisieren die Zeit vertrieb. Bis vor fünf Jahren in unseren Breiten so gut wie unbekannt, eben deshalb, weil keine der beiden Weltmächte irgendetwas mit diesem Land hätte anfangen wollen. Beide waren sich vielmehr stillschweigend darin einig, an der Stelle die Finger raus zu lassen, so daß Afghanistan gerade so in die strategische Kalkulation der Sowjetunion hineinpaßte: als neutraler Pufferstaat mit einer Regierung in Kabul, die traditionell, auch schon als Monarchie, russenfreundlich war und ansonsten nicht viel von sich hören ließ. Eben bis vor fünf Jahren.

...Ein Sicherheitsproblem der Russen, vom Westen geschaffen

Vor fünf Jahren geriet die Region in "Unordnung": Nach dem mißglückten Versuch, die US-Geiseln im Iran herauszuhauen, besetzten die USA den persischen Golf mit einer Kriegsflotte. Mit der Möglichkeit, daß sie den Khomeini-Staat kippen und wieder eine proamerikanische Regierung einsetzen würden, mußte gerechnet werden, zumal die Aufrüstung der Nahostregion als westlicher Stützpunkt allseits schon in Gang war. Gleichzeitig geriet die russenfreundliche Regierung in Kabul in Kalamitäten: Weil sie sich nicht aufs Steuereintreiben beschränken, sondern ihre Bergbewohner auch mit anderen zivilisatorischen Einrichtungen bekannt machen wollte, zog sie sich den Zorn ihrer Mullahs zu. Es gab bewaffneten Widerstand und Streitigkeiten in der Regierung.

Die Gefahr, daß daraus ein Regierungssturz, also unberechenbare Verhältnisse an ihrer Südgrenze entstehen könnten, wollten die sowjetischen Politiker lieber gleich ausräumen. Sie stellten einen neuen Mann an die Spitze und schickten Truppen, um seine Regierung stabil zu machen. Für westliche Politiker in ihren "Hinterhöfen" eine völlig normale und übliche Sache. Befreundeten Regierungen militärischen Beistand zu leisten, wenn ihre Herrschaft in Frage gestellt wird - das treiben die USA seit '45 unablässig.

Solche Maßstäbe haben für den Fall Afghanistan noch nie gegolten. Zwischen Weihnachten und Neujahr 79/80 haben die NATO-Führer beschlossen, Afghanistan ab sofort nicht länger uninteressant zu finden, sondern es zum Sündenfall der Sowjetunion zu erklären und sich als Schutzpatron der aufsässigen Volksteile einzumischen. Seitdem heißen dieselben Figuren, die im Iran als religiöse Fanatiker und Terroristen beschimpft werden, in Afghanistan "Freiheitskämpfer" und bekommen über Pakistan Geld und Waffen genug, um ihren Aufstand fortzusetzen. Die CIA rühmt sich öffentlich, einen Strom von Nachschub organisiert zu haben; Saudi-Arabien finanziert und Ägypten liefert ein passendes Arsenal. So organisiert der Westen einen "Dauerkrieg", zu dem diese Nomaden sonst, ausschließlich auf ihre Vorderlader angewiesen, niemals in der Lage gewesen wären.

Seitdem geht die Sache hin und her: viele tote Russen, viele tote Mudschahedin, eine Stadt erobert, wieder zurückerobert, ein Tal besetzt und wieder befreit usw. Fernsehteams immer mit dabei, die malerische Hinterhalte, tapfere Krieger und tolle Explosionen filmen, wie man sie sich schöner nicht wünschen kann. So wird das gräßliche sowjetische Unrecht dem genießerischen Publikum immer wieder genüßlich und live in Farbe vorgeführt - und der Dauervorwurf "Afghanistan!" lebendig gehalten als Rechtfertigung für alle Kriegsvorbereitungen des Westens gegen die Sowjetunion. Gleichzeitig wird der Roten Armee höhnisch ihr "Versagen" in Afghanistan vom Westen vorgerechnet.

Was einem daran auffallen könnte:

Der Unterschied zu Vietnam: kein Vernichtungskrieg...

Richtiggehend militärisch befrieden und Ordnung stiften wollen die Russen gar nicht, entgegen der furchtbar schlechten Meinung, die man sich von ihnen halten soll, daß sie dort alles kurz und klein hacken.

Eine militärische Klärung der Lage würde anders aussehen: Die Grenze nach Pakistan dichtmachen, den Nachschub unterbinden und im Innern den Widerstand ausräumen. Wie so etwas geht, hat unser guter Freund Israel mehrmals vorexerziert, im Westjordanland und im Südlibanon. In Afrika haben UNO-Truppen des öfteren solche Fragen geregelt. Die Republik Südafrika räumt in diesem Sinne energisch in ihren gesamten Nachbarstaaten auf. Und in Lateinamerika haben die verschiedensten Guerilla-Bewegungen Ruhe und Ordnung weichen müssen.

Soldaten und Kriegsmaschinerie hätte auch die Sowjetunion bei weitem genug für eine solche Operation. Und die Kosten lägen im Endeffekt sicher nicht höher als beim jetzigen Dauerkrieg. Die Bequemlichkeit eines NATO-Kriegs mit US-Budget, US-Militärberatern und afghanischem Personal wäre beendet, und die USA stünden vor der Entscheidung, ob sie ihre eigenen Boys auf den Kandahar-Paß exportiere oder es lieber lassen.

Aber eben genau das, bloß eine militärische Bereinigung der Situation herbeiführen, wollen die Russen offensichtlich nicht. Weil es nämlich - angesichts einer schwachen afghanischen Regierung mit nicht besonders schlagkräftiger Armee gegenüber unwilligen Landesbewohnern - als rein sowjetische Unternehmung durchgeführt werden müßte. Die Parole mit der "brüderlichen Hilfe", mit der hierzulande jeder die Russen der Heuchelei überführt haben will, ist ganz im Gegenteil sehr ernst gemeint: Was sich sowjetische Politiker in Afghanistan wünschen, ist ein Staat, der sein Volk hinter sich hat, stabil ist, also seine Angelegenheiten selber regelt, dabei der Sowjetunion freundschaftlich gesonnen ist und keinerlei Schwierigkeiten verursacht. Einem Staat zu solch einer Ordnung zu verhelfen oder die Ordnung gleich selbst in die Hand zu nehmen, sind aber zwei paar Stiefel. Das zweite will die Sowjetunion nicht. Sie hat keinen Bedarf nach einer weiteren Sowjetrepublik, denkt nicht im Traum an Annexion, will auch nicht Kilometer für Kilometer an den Indischen Ozean näherrücken. Dann sähen nämlich, wie gesagt, ihre militärischen Maßnahmen anders aus. Das erste, einer befreundeten Regierung zu Stabilität verhelfen, damit die dann allein weitermachen kann, das will die Sowjetunion, aber das geht nicht.

...sondern ein Kampf um ein verbündetes Volk

Was die russischen Politiker und ihre Verbündeten in Kabul sich als Regierungsprogramm vorgestellt und teilweise probiert haben, sind lauter Maßnahmen, über die ein demokratischer Imperialist nur den Kopf schütteln würde. Den Leuten Lesen und Schreiben beibringen, ihnen die Vorteile von Hygiene und gewissen medizinischen Elementarregeln erklären, eine Landreform die Teile des Großgrundbesitzes an die Pächter verteilt, eine Schuldenbefreiung - das hat gereicht, die hartgesottenen Mullahs und deren Schäfchen gegen die gottlosen Teufel aufzubringen. Deswegen legen sie mit Vorliebe neben russischen Soldaten auch Lehrer und Ärzte um, weil die die heidnischen Unsitten verbreiten. Und nachdem die aufgebrachten Burschen Material bekommen, um sich nichts gefallen zu lassen vom gottlosen Fortschritt, gibt es eben Bürgerkrieg. Und der Bürgerkrieg hindert wiederum die Regierung gründlich daran, ihr Volk von den Vorzügen der Reform, daß man mehr zu essen bekommt und weniger oft krank wird, praktisch zu überzeugen. Weil außer Krieg im Land nichts mehr stattfindet.

Ohne ein solches Reformprogramm können sich die sowjetischen Helfer aber kein befriedetes Afghanistan vorstellen. Ihr Begriff von Stabilität sieht eben etwas anders aus als der westliche. Ein besetztes Territorium, wie der Südlibanon oder das Westjordanland unter israelischer Militärverwaltung, das wollen sie nicht. Eine Militärdiktatur mit einer einheimischen Mördertruppe, die für Ordnung sorgt, wollen sie auch nicht. Sondern partout eine Regierung, die durch ihre fortschrittlichen Maßnahmen ihrem Volk nützt und daher auch von ihrem Volk geschätzt wird. Und genau das wird ihnen in Afghanistan vom Westen unmöglich gemacht. Der will die Sowjetunion an ihrem "weichen Unterbauch" (NATO-Jargon) in ein dauerhaftes Blutvergießen verwickeln. Dabei geht es um weit mehr als um den Landstrich Afghanistan. Es geht um die direkte militärische Bedrohung einer sowjetischen Grenze und gleichzeitig um die gewaltsame Klarstellung, wie die freie Welt mit sowjetischen Einflußzonen aufräumt. Die Altemative, die Soldaten abzuziehen und das Land dem Westen zu überlassen, scheidet für die Sowjetunion eben deswegen aus. Also wird weitergekämpft, damit die inzwischen vom Westen hochgepäppelten "islamischen afghanischen Parteien" auf ihre Störmanöver beschränkt bleiben. Und umgekehrt verhindert der Westen nachhaltig alles, was auf die erfolgreiche Einrichtung eines afghanischen Sozialismus hinauslaufen könnte.

Deshalb wird in Afghanistan unablässig gestorben. An diesem allseits beklagten Sachverhalt sind zwei Weltmächte beteiligt, was man wiederum hierzulande nicht zur Kenntnis nehmen will. Denn dann würde ja das schöne Feindbild nicht mehr passen: Brutale Russen meucheln wehrloses Volk... siehe oben.