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Der Fall Popieluszko
POLNISCHER GEISTLICHER ERMORDET. MOTIV: STAATSRAISON
In der Volksrepublik Polen sind Zustände eingerissen, die sich ein guter Demokrat in der Bundesrepublik Deutschland als typisch für kommunistische Umtriebe ausmalt, mit denen die öffentliche Ordnung zerrüttet werden soll.
Ständig finden nicht genehmigte Demonstrationen statt, auf denen staatsfeindliche Parolen gerufen werden. Staatliche Symbole und Denkmäler werden verunstaltet, Aufrufe zur Mißachtung der öffentlichen Ordnung aus dem Untergrund publiziert. Die staatlichen Ordnungsorgane werden nicht nur nicht respektiert, sondern von den Volksmassen beschimpft - 'Bullen' ist dabei noch das Harmloseste -, manchmal auch mit Steinen beworfen und verprügelt. Die Anführer betätigen sich frei und ungehindert, beziehen Gelder und jegliche Unterstützung von ausländischen Helfershelfern, bauen einen Apparat auf und lassen keine Gelegenheit aus, die Leute zu regierungsfeindlichen Demonstrationen zu veranlassen.
In der BRD dient allein die Vorstellung von so etwas als Anlaß, zuzuschlagen, und für die öffentliche Aufforderung, rechtzeitig den Anfängen zu wehren. (So rechtzeitig, daß mittlerweile bei jeder Demonstration die Polizei das doppelte Personal stellt, DKP-Mitglieder nicht einmal mehr Briefe austragen und Züge lenken dürfen, und in der Universität Fragen nur nach Vorzeigen des Personalausweises gestellt werden dürfen.)
Genauso erleben polnische Staatsschützer aber tagtäglich ihren Einsatz. Und: Nachdem endlich durchgegriffen und die Anführer hinter Schloß und Riegel gebracht worden waren, erläßt die Regierung eine Amnestie, ermutigt die Unruhestifter geradezu dazu weiterzumachen. Und es sieht so aus, als ob der ganze Terror wieder von vorne losgeht.
Für ein paar polnische Staatsschützer und Angehörige dieses Berufs haben in Ost und West das allerbeste Gewissen, wenn sie den Staat gegen seine Bürger schützen - war dies der Anlaß, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen und mit einem Stück Selbstjustiz für die Ordnung zu sorgen, die unbegreiflicherweise mcht von oben durchgesetzt wird. Sie haben den kämpferischen Pfarrer Popieluszko umgelegt. Wer die Hintermänner waren bzw. wie hoch in der Partei sie sitzen, ist bei diesen Gründen für den Mord ziemlich egal.
Mit diesem Mord haben Leute aus dem polnischen Staatsapparat die Konsequenz gezogen, die ihnen ihre Berufsauffassung nahegelegt hat: für Ordnung sorgen. Und zwar deshalb, weil sie enttäuscht sind von der Politik, die die Regierung macht, die sie für schwach und unentschlossen halten. Wiederum ein Gedanke, der jedem Ordnungshüter in Ost und West nur allzu geläufig ist. Das Lynchen hat ja auch einen guten westlichen Namen.
Ein General umwirbt Staatsfeinde
Während der Verdacht, die Politiker handelten Staatsfeinden gegenüber schwächlich und nachgiebig, in einer wehrhaften Demokratie wie der unseren kaum Anhaltspunkte findet, so daß Berufsauffassung und -ausübung der Staatsschützer ziemlich einwandfrei zur Deckung gebracht werden können, verhält es sich in Polen ganz anders. Den Widerspruch hat sich noch keine demokratische Regierung je leisten müssen, in dem sich die polnische bewegt. Als ihr Volk seine Unzufriedenheit bis zu dem Punkt vorangetrieben hatte, an dem pausenlos die Machtfrage gestellt wurde, hat sie mit dem Kriegsrecht gekontert, mit der staatlichen Autorität, die sich nicht in Frage stellen lassen will.
Und nun bemüht sie sich bei demselben Volk darum, dessen Einverständnis wiederherzustellen. Versöhnung heißt die Parole, und für ihr Programm ist die Regierung einiges zu tun bereit. Sie hat mit allen Mitteln versucht, ihre politischen Gefangenen als Stein des Anstoßes wieder loszuwerden, und sie schließlich einfach freigelassen. Sie läßt demonstrativ-rechtsstaatliche Prozesse gegen Leute aus dem Sicherheitsapparat führen, die illegal zugeschlagen haben, und lädt eigens die gesamte westliche Journalistenmafia dazu ein. Sie verzichtet auf das Bekenntnis zu Sozialismus: Für das Versöhnungsprogramm soll der kleinste gemeinsame Nenner genügen, als Polen werden alle ums Mitmachen gebeten. Und die nationale Organisation aller antikommunistischen Polen, die Kirche, wird als offizieller Verhandlungspartner, Mitregent und Garant der Staatsraison inthronisiert.
Ohne daß damit die gewünschte Versöhnung zustande käme. Das Volk ist nämlich reif geworden. Es hat sich von seinen gelegentlichen materialistischen Anflügen zu Beginn der Gewerkschaftsbewegung geläutert und pflegt nur mehr seinen allerchristlichsten Groll gegen die Regierung. Einziger Leitfaden der Bewegung ist die schafsfromme Deutung, daß alle Unannehmlichkeiten als Leiden der Nation zu verstehen seien und die Nation vor allem und überhaupt daran leide, von einer unrechtmäßigen und unrechtlichen Regierung verwaltet zu werden.
So profitiert einzig die Kirche von den Versöhnungsangeboten und erweitert ihre Machtbasis. Sie mischt sich in so gut wie alle politischen Fragen ein, fungiert in ganzen Abteilungen (Erziehungswesen, Armuts- und Bauernbetreuung) wie ein Staat im Staat und steigt sogar in die ökonomische Systemkonkurrenz mit ein. Demnächst wollen die Pfaffen mit ihrem Landwirtschaftsfonds Kredite, Saatgut und Ersatzteile zum Einsatz bringen, zum Wohle eines freien kapitalistischen Wirtschaftssektors und zum Schaden der realsozialistischen Planwirtschaft - man erinnere sich, daß in Lateinamerika allein der Gedanke, daß die Leute was zum Essen brauchen könnten, als unchristliches Ketzertum definiert worden ist. Und schließlich betreut die Kirche in Polen die gesamte Opposition inkl. ihrer Ex-Führer. Das Verhältnis hat sich ziemlich umgekehrt: Wo die Kirchenführer früher meinten, die Streiklust der Arbeiter bremsen und nationalökonomisch "unvernünftige" Forderungen abwiegeln zu müssen, werden heute Streikminuten für das kirchliche Recht auf Hetzpredigten abgehalten. Arbeitermannschaften schützen heilige Plätze, fungieren als Ordner und Leibwachen für die Popieluszkos, und die Walesa und Co stellen ihre Autorität in den Dienst des "Dialogs", den der Kardinal mit dem General immerzu führen soll. Der läßt die Regierung seine Macht auch und gerade dann spüren, wenn r die aufgebrachten Massen zur Besonnenheit auffordert: Die Untergrabung der staatlichen Autorität geht eben auch ohne offenen Aufruhr. Und im Schutz der Kirche genießt die Opposition, von "volksnahen" Pfaffen gleich selbst repräsentiert, das Menschenrecht auf freie Agitation in einem Maße, das in einer ordentlichen rechtsstaatlichen Demokratie schon längst als "geistiger Nährboden" und "sympathisierendes Umfeld der Gewalt" identifiziert worden wäre. Vom freien Ein- und Ausgehen westlicher Journalisten, Politberater und Geheimdienstler ganz zu schweigen.
Die NATO schiebt die Totenwache
Kein Wunder, daß der US- und der BRD-Botschafter die Gelegenheit dankbar wahrgenommen haben, aus der Popieluszko-Einsargung ein Staatsbegräbnis erster Klasse zu machen. Und die vatikanische Kommission berät schon die Seligsprechung.
Auf der anderen Seite aber bestand von Beginn der Popieluszko-Affäre an eine merkwürdige Einigkeit: Aufrufe zur Besonnenheit wurden allerseits an das verehrte polnische Volk losgelassen, bei der aufgeregten Suche nach Schuldigen war man sich schnell einig, daß die Regierung ausgeklammert gehört. Nicht wegen irgendwelcher Tatsachen - darüber ist man doch souverän. Die Anklage gegen den KGB wegen des Papstattentats läßt sich ja auch ausschließlich auf Grundlage der geheimdienstlich präparierten Aussagen von Ali Agca lässig erheben. Und der "Spiegel" konstruiert, um den wahren Schuldigen im Fall Popieluszko schön anschaulich vorzuführen, gleich eine komplette Unterwanderung Polens durch "eng geknüpfte KGB-Netze", "Sowjets zu tausenden ins Land gekommen", von denen nicht einmal Jaruzelski Genaues weiß.
Den westlichen Interessenten, die Jaruzelski nach den obligatorischen Verdächtigungen so demonstrativ aus der Schußlinie nehmen, ist der momentane Zustand in Polen offensichtlich sehr recht: Das "Krisenmanagement" von Kirche und Regierung, die von der Kirche kontrollierte Volksaufsässigkeit und - Zündstoff nach Belieben. Für die nächsten flagranten Menschenrechtsverletzungen werden schon die selbsternannten Justizüberwachungskomitees sorgen, die sich der polnische Staat wohl kaum gefallen lassen will. Lauter Krisenstoff auf Abruf, so daß gar nicht zufällig Polen auch wieder einmal auf der Tagesordnung der Parlamentarischen Versammlung der NATO gelandet ist. Der neue NATO-Generalsekretär Carrington sprach sich "für einen ehrlichen und realistischen Umgang mit den Ländern des Warschauer Paktes" aus. "Ehrlich und realistisch" heißt:
"...die Bevölkerung der osteuropäischen Länder nicht zu Aktionen zu ermutigen, bei denen wir sie letztlich nicht unterstützen können."
Also nur zu solchen, wo wir es wollen. Was für das "können" noch getan werden muß, hatte die Nordatlantische Versammlung ja gerade ausgiebig beraten.