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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1984 erschienen.
Horst-Eberhard Richter, "Psychologie des Friedens"
VOM UNSINN DER KLAGE ÜBER DIE UNFRIEDLICHKEIT DER POLITIK
Der Psychoanalytiker und Sozialpoychologe Horst E. Richter gilt als anerkannte Autorität der deutschen Friedensbewegung. Ganz allgemein ist die Kunst der psychologischen Weltdeutung "in" - die Sonderhefte "Warum nicht Frieden?" stellen es unter Beweis. Sicher ist es kein Widerspruch, daß sich eine politische Widerstandsbewegung, die immerhin einen Krieg verhindern will, wenn sie sich Friedensbewegung nennt, einen Seelendoktor zu einem ihrer Wortführer nimmt und als eine ihrer ideologischen Waffen die Theorie des menschlichen Gefühlslebens auserkoren hat.
Die Friedensbewegung hat ja außer christlichen Antimilitaristen und Computerfachleuten und Klimaforschern sonst niemanden in ihrem Politbüro sitzen. Von diesem Punkt einmal abgesehen, stellt sich allerdings schon noch die Frage, worin denn eigentlich das angeblich so Spannende von Fragestellungen der Art: "Warum nicht Frieden?" liegt. Unsere These, die im folgenden verhandelt werden wird, lautet schlicht: Ein solches Problem ist das Resultat eines falschen Bedürfnisses und trägt daher nichts zu einer Klärung der Fragen von Krieg und Frieden bei.
Zur Einstimmung: Über kindische Warum-Fragen
Ohne Zweifel gehört das Forschen nach einem Grund für etwas zu den unverzichtbaren Methoden des Menschen, seinen Wissensdurst zu stillen. Leider ist die Warum-Frage aber auch für eine Manier von Ergründung tauglich, die von längst Bekanntem und Gewußtem abstrahiert und mit dem Verlangen nach einem Grund heimlich ein Rätsel in die Welt setzt.
Wenn sich Eltern von den ewigen Warum-Fragen ihrer Kinder genervt fühlen, dann eben deshalb, weil das Kind zunächst die Form des Grundes nimmt, um etwas kennenzulernen. Es gibt allerdings erwachsene Theoretiker, die kennen sich schon längst in der Welt aus und hören dennoch nicht auf, nur kindische Warums zu stellen.
Dazu gehören die Psychologen des Friedens. Unter dem Titel "Warum nicht Frieden?" wird sich in einer Weise über die Politik erkundigt, die ein Bedürfnis nach Wissen um ihren Grund gar nicht erst entstehen läßt. Es sind Warum-Fragen, die gar nicht den Zweck einer ernsthaften Ermittlung an sich haben. Ernstgenommen, sind sie nämlich schnell beantwortet. Warum wollen sich Amerikaner und Russen nicht vertragen? Die beiden haben nichts miteinander. Warum muß immer weiter gerüstet werden? Von einem müssen kann gar keine Rede sein, "man" will es.
Das einzige Thema der Friedenspsychologie "Warum nicht Frieden?" ist ein Vehikel, eine Klage über die Welt loszuwerden, mit der Unterstellung, man formuliere mit dieser Klage eine Unzufriedenheit, die jeder teilen müßte. Doch wie steht es mit dem Befund, ewiges Wettrüsten, wechselseitiges Mißtrauen, Politik der Stärke, Gleichgültigkeit gegen die Armut etc. lieferten nur den bedauernswerten Beweis, "wir" lebten in "friedlosen Zeiten"? Dieser Befund bereits gehört ins Reich der Ideologie: Es gibt niemand, der an der Krankheit "Friedlosigkeit" leidet. Weder Politiker noch sonst jemand, auch die Bürger nicht, die sich ihnen anvertraut haben, haben je behauptet, daß die Politik eine Sache wäre, der es um Friedfertigkeit als Zweck ginge, wenn der innere wie äußere Frieden bewahrt wird. Die Staaten betreiben gegeneinander Friedenspolitik und es gibt keinen Menschen, dem nicht eigentlich klar wäre, daß das politische Erpressungsgeschäft jede Illusion über 'Versöhnung' und 'Vertragen' als Zweck von Friedenspolitik verbietet. Die Psychologie des Friedens arbeitet dagegen mit dem Trick, zunächst zu unterstellen, die Welt von Geschäft und Gewalt müßte mit Humanität etwas zu tun haben, um dann als Weltproblem Nr. 1 die Friedlosigkeit der Politik zu beklagen. Damit leugnet der Psychologe auf der anderen Seite, daß der Zweck Frieden für die Politik und ihre Betroffenen gar keine Schimäre ist: I m Verfolgen der "gerechten Anliegen" einer Nation gegenüber ihresgleichen geht es nämlich durchaus immerzu um diesen Zweck. Wer damit unzufrieden ist, wird nicht die Friedlosigkeit beklagen, sondern sich gegen die nationale Politik wenden. Die Friedenspsychologie hingegen hat am Zweck der realen Friedenspolitik gar nichts auszusetzen. Sie stellt sie lediglich unter die Anklage einer mangelnden Friedfertigkeit, mißt sie also an einem Ideal, welches die Politik nicht erfüllen kann und will. Aber gerade eine solche drastische Fiktion ist wie geschaffen für ihre psychologische Ausdeutung. Es ist kein bloßer Verdacht, daß Leute wie Richter mit den schlimmen Zuständen in der Welt in Wirklichkeit sehr zufrieden sind. Diese werden nämlich auch nur mit der Berechnung zitiert, einem geneigten Publikum eine Geheimtheorie über die psychologischen Quellen staatlicher Gewalt zu liefern - über das altbekannte komplexe Monstrum Mensch.
Politik - ein psychischer Defekt
Kaum hat die Psychologie des Friedens die Welt der Raketen (nicht zu verwechseln mit der Raketenrepublik!) an ihrem eigenen humanistischen Anspruch an sie blamiert, fragt sie ebenso gebieterisch wie rhetorisch nach der menschlichen Fähigkeit zur Friedfertigkeit. Insbesondere bei den Politikern gibt sie auf ihre Frage eine negative Antwort. Es bestehe wenig Aussicht, daß die Verantwortlichen der Katastrophe entgehen könnten, die sie vorbereiten. Die Friedenspsychologie stellt die scharfsinnige Diagnose, die Politik könne niemals ein Feld für "das Vernünftige und das Gute" werden. Es liege keineswegs an den Absichten der Politiker, wenn von ihnen selbst keine Aussicht auf Besserung in Sachen Liebe zu erwarten sei. So gut sie als Individuen sein mögen: sie seien eben nicht Herren über sich selbst und ihr Geschäft. Mit diesem Urteil schließt sich die Psychologie des Friedens der bürgerlichen Generalideologie über die Politik - das Jammern über ihr beständiges Nicht-Gelingen - an, um sie zugleich zu radikalisieren. Sie steigert diese Ideologie zu dem Urteil, die Politiker wüßten gar nicht, was sie tun, da sich in all ihren Werken nur ein ihnen nicht bewußter und von ihnen nicht kontrollierbarer menschlicher Ur-Haß austobe. Die Politik wird als Opfer unbewältigter menschlicher Triebbefriedigung betrachtet: die Politiker geraten in die Gewalt der Destruktivkräfte, weil sie es versäumen (müssen), ihnen zu entkommen. Ein elender Zirkel der Gewalt: Ihre Untertanen "müssen" sie daran hindern, ihre Triebe "auszuleben" - sonst "ginge ja alles drunter und drüber". Werden sie aber nicht ausgelebt - muß das wiederum kompensiert werden, durch Haß auf alles mögliche = nicht verbrauchte Destruktionskraft. Zirkel dieser Art leben auf jeden Fall von dem Bestreben, die Politik als ein "unerfülltes Versprechen" darzustellen und ihre Werke (Musterbeispiele sind hier Sicherheit, Frieden, Gleichgewicht, Abschreckung) als reine Selbsttäuschungen abzuhaken und zu deren genießerischer Betrachtung überzugehen. Bezeichnenderweise besteht die schärfste Kritik an der Kriegsvorbereitung durch einen Friedenspsychologen in der Entlarvung des einen gravierenden Irrtums der Politik über sich selbst, sie hätte die Entscheidung über Krieg und Frieden überhaupt im Griff. Was soll man da noch machen?
Die "Kriegsgefahr" - der Unfrieden in uns allen
Mit dieser ihrer düsteren Diagnose über die Unausweichlichkeit der Katastrophe könnte die Psychologie des Friedens eigentlich Schluß machen: Reagan und Kohl sind Verrückte, denen ist nicht mehr zu helfen. Das Verhältnis zwischen "denen da oben" und "uns unten" hat sich die Psychologie zudem so zurechtgelegt, daß außer einer schicksalshaften Abhängigkeit zwischen beiden Seiten sich keinerlei Zukunftsperspektive eröffnet. Reif für die Klapsmühle sind sie alle: die Politiker, ihre Opfer und der Richter. Also hinein mit allen?
Leider tut uns aber die Friedenspsychologie diesen Gefallen nicht. Eben noch will Richter keinen Zweifel an seinem Glauben über die Irrationalität des Weltenlaufs aufkommen lassen, und im selben Atemzug leitet er aus dieser konstatierten Irrationalität einen positiven Auftrag für die Menschen ab. Da der Frieden bei den Politikern so schlecht aufgehoben sei (wofür man andererseits, s.o., Verständnis aufbringen muß), müsse jeder bei sich selbst nachfragen, wie es um seine Friedensfähigheit stehe. Das ist ein unlogischer Schluß, der sich zwingend nur aus dem demokratischen Verantwortungsgefühl des Psychologen ergibt. Die Politiker trauen dem Frieden nicht, so hat der Piychologe mit Bedauern festgestellt; nun aber sollen seiner Meinung nach die Menschen dem Frieden nicht nur trauen, sondern ihn auch noch lieben lernen. Auf die Idee, daß Friedfertigkeit die letzte Tugend ist, die man braucht, um Wahnsinnigen das Handwerk zu legen, kommen Leute wie Richter natürlich nicht. Kein Wunder, er wollte ja mit seiner Diagnose über den Wahnsinn der Politik nur dazu aufgerufen haben, im Namen der menschlichen Tugenden die Sache der Politik selbst in die Hand zu nehmen; meint: den Unfrieden bei sich selber zu entdecken und zu bekämpfen. Die Politik hat in Sachen Frieden versagt, also bist du dran! Auch eine kleine Frechheit, die Verantwortung für die Missetaten der Politik deren Untertanen anzutragen. So beweist sich die Psychologie als Verantwortungspolitik.
Friedenspolitik - sich selbst bekämpfen
Das Ideal der Friedenspsychologen ist der 'Friedensmensch', der alle seine Nächsten 'liebt'. Leider aber "muß" er zu seinem Bedauern feststellen, daß in der Welt nur Monster herumlaufen, die nicht fähig seien, diesem seinem Ideal gerecht zu werden. Wie bringt man es also fertig, "den Menschen" so weit zu bringen, daß er seinen Friedensauftrag erfüllen kann? Nicht Überzeugungsarbeit, sondern eine Therapie muß er schon über sich ergehen lassen, der Patient.
Erster Akt der Therapie: Einsicht in die "Krankheit" herstellen. Als äußerst störend empfindet es Richter, daß die Menschen gemeinhin nicht einfach verantwortlich zeichnen wollen für die Aufrüstungsmaßnahmen der Politiker. Also besteht die Menschenveredelung zunächst darin, seine "Gefühllosigkeit" der Welt gegenüber abzubauen. Man muß einsehen, daß "wir" alle schuld sind. Solange ist keine Rettung möglich, wie nicht jeder in der Rakete ein Stück von sich selbst entdeckt, gemäß dem Motto: Mache dir klar, daß genau die Kräfte, die eine RaKete hervorbringen, auch die Kräfte sind, die am Werk sind, wenn du deinem Nachbarn gegenüber - gesteh's! - nicht die besten Gefühle hegst. Noch einen Schritt weiter lautet die Agitation des Friedenspsychologen: Wenn du mir nicht glaubst, dann beobachte dich doch selbst... Ist nicht schon das Verhältnis von Mutter und Kind ein reines Abschreckungsverhältnis? Wer hiernach noch immer alle Schuld widerspenstig leugnet; sich weigert, die Tugend des Zweifels an sich selbst zu erwerben und gar auf die Politiker als diejenige Instanz deutet, die das Ganze doch allein ins Werk gesetzt hätten - auf den hat der Psychologe gerade gewartet, um ihn zu beschimpfen. Verstecke dich bloß nicht hinter den Politikern; du selbst, du scheinheilig Friedfertiger, wartest doch bloß auf eine Gelegenheit, dich zu entladen!
Durch das eine oder andere Argument dieses Kalibers wird sich früher oder später dann schon die Einsicht in die eigene Schuld ein stellen, die ja bekanntlich den ersten Weg zur Besserung darstellt! Anschließend wird der Patient wieder aufgerichtet - indem das Verantwortungsargument schlicht umgedreht wird: Bilde dir nicht ein, Mensch, du wärst was. Du bist ein ohnmächtiges Teilchen, nur ein Rad im Getriebe, als ein Nichts bist du eingeplant. Mit dieser falschen Theorie über das Leben unter einer demokratischen Herrschaft (als wären die Leute Objekte ohne freien Willen) appelliert der Friedenspsychologe an die staatsbürgerliche Moral seiner Adressaten: Ein Nichts wollt ihr doch wohl nicht sein, also tut wenigstens so, als wärt ihr ein Subjekt! Wenn ihr Angst habt, dann bekennt euch dazu. Angst macht frei, lautet hier die Lehre der Psychologie. Wer sich fürchtet, tut wenigstens nicht mehr so, als ginge ihn das alles nichts an. Die Logik lautet: Wer sich fürchten lernt vor den Gefahren, der kann das, wovor er sich fürchtet, auch nicht mehr wollen. Würden sich die Politiker die Angst vor den folgen des Atomkriegs, die sie haben, eingestehen, würden sie sofort mit dieser Geschichte aufhören. Wo ist der Witz, was wird hier gepredigt? Nur wer sein Schicksal annimmt, bekommt moralische Freiheit. Die Kraft der "Verweigerung" lernt man laut Friedenspsychologie daher am besten bei Todgeweihten wie z.B. Krebskranken. Die Frau ist das Vorbild für Friedlichkeit. Alles endet in dem Verlangen, man müsse den Politikem vorleben, "Leben-wollen" sei stärker als "Siegen-wollen".
Standhalten - wozu? Für demokratische Mitverantwortung
Ein Gedankenexperiment: Was hat nun ein Mensch davon, wenn er nach den Vorstellungen von Richter zu einem Exemplar von Friedfertigkeit gemacht worden ist? Stellen wir uns ihn vor: Er flüchtet nicht mehr, er hält den Gefahren stand. Er kennt die folgen eines Atomkrieges und wird dadurch angstfrei. Seine Feinde sind zwar nicht weniger geworden, aber er selbst hat nun kein Feindbild mehr. Er ist nicht mehr abhängig von seiner "anal-sadistischen Phase". Er hat mit jedem Mitleid, hört mit seiner ewigen Rechthaberei auf wie mit allem "Rivalisieren". Und nun? "Verweigern"? Nicht mehr mitmachen? Gar gegen die Politik losgehen? Bloß nicht! Denn ihren Schwindel hat die Friedenspsychologie von Anfang an nicht verheimlicht: Erst soll man kapieren, daß man von Wahnsinnigen gesteuert und regiert wird, und dann soll nichts anderes draus folgen, als daß man reif für ein Friedenswerk ist, das diese Idioten nicht aus-, sondern einschließt! So läuft die Friedenspsychologie auf nichts anderes als auf einen Appell zu mündigem Staatsbürgertum hinaus.
"Je mehr wir uns davon überzeugen, daß 'die da oben' selber alle Mühe haben, vor sich selber und vor uns ihre Zweifel und Ängste zu verbergen, desto dringender wird es für uns, kritisch mitzudenken und unseren Anteil (!) an Mitverantwortung aktiv wahrzunehmen, der uns als mündigen Demokraten zukommt."
Damit ist ach gane euchelei der "Umehr" offengelegt, zu der der Friedenspsychologe auruft.
Fazit: Politi als Wahnsinn zu definieren und ihr das Ideal der Versöhnung entgegenzustellen - das ist Wahn mit viel Sinn.
Der Mensch in der Rakete
"Wir starren auf die toten technischen Gebilde wie auf gewaltige Raubtiere, die - wenn nicht noch ein Wunder geschieht - jederzeit aus ihren Käfigen ausbrechen und Verheerendes anrichten könnten. Dabei sind wir allein diese potentiellen Raubtiere und könnten, wenn wir wollten, das gesamte aufgetürmte Vernichtungspotential mit einem Schlag beseitigen."
Politik als Streß
"...hier stehen Menschen unter chronischer Überforderung."
Abschreckung in der Kinderstube
"Angedeutet oder sogar weniger ausgeprägt findet sich dieses Drama tagtäglich: Unnachgiebig ringen Kind und Eltern um die Macht, bis - in der Regel - das Kind äußerlich kapituliert."
Reagan
"Rückschlag eines kollektiven Selbstheilungsprozesses."
Widerstand aus Krankenbett
"...hat sich immer wieder der Gedanke aufgedrängt, daß zwischen der psychologischen Verarbeitung einer Krebskrankheit und der psychologischen Verarbeitung der Atomkriegsdrohung eine Verbindung hergestellt werden könnte."
Psychologie als Bibelkunde
"Überall, wo das echte Gespräch geführt wird, bei welchem man sich ineinader einfühlt und Spannungen durchhält, wird die Nähe sichtbar, in der wir alle miteinander leben."